Zuwendung

Ein Mann, der Uniform nach ein Soldat, neigt sich über einen am Boden liegenden und von einer Wolldecke bedeckten Menschen. Sein Gesicht liegt im Schatten. Durch seine dunkle Hautfarbe ist er als Afrikaner identifizierbar, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich um ein Kind oder einen Erwachsenen handelt. Der Soldat umfasst mit beiden Händen den Kopf des Gegenübers, um ihn zu stützen, zu schützen und auch zu wärmen. Der wenige Hintergrund lässt Sandboden erkennen: Strand oder Wüste? Ist der Mensch gestrandet oder heimatlos? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es sich um einen Flüchtling handelt, der für ein besseres Leben alles aufs Spiel gesetzt hatte und nun erschöpft darniederliegt. Am Ende seiner Kräfte wird er von einem Soldaten umsorgt, der abgeordert war, sich der illegalen Einwanderer aus Afrika zu wehren. Zum Kampf mit Waffen ausgebildet, legt er hier seine Herzenswärme in die Waagschale. Er hat Landesgrenzen zu verteidigen und Menschen zurückzuweisen, doch er überschreitet jegliches Anderssein und macht sich diesem Nächsten nahe. Er könnte töten, doch er setzt alles daran, das Leben dieses Menschen zu retten.

Das auf Glas reproduzierte Pressefoto öffnet dem Betrachter – wie auf den anderen 14 Stationen dieses Kreuzwegs – die Augen und schärft seinen Blick für das Leid und den Schrecken, wie sie uns täglich durch die Medien ins Haus gebracht werden: Hier das Flüchtlingsdrama an der Meerenge von Gibraltar. Die Künstler haben die Fotos mit einem diagonalen Strichraster versehen, der die Bilder geringfügig verfremdet und den Betrachter veranlasst, zum einen Abstand zu nehmen, zum anderen genauer hinzuschauen, um das ursprünglich Dargestellte zu sehen.

Alle Kreuzwegstationen sind zudem von einem breiten roten Glasstreifen aus “Antikglas” gezeichnet, der sich in unterschiedlichen Positionen transparent über die Bilder legt. Er verbindet das gegenwärtige Leiden mit dem Leiden Jesu, denn er bringt den vertikalen Kreuzbalken ins Blickfeld, die Farbe des vergossenen Blutes in die ansonsten farblosen Darstellungen. Gleichzeitig künden sie durch ihre Farbe Gottes liebende Gegenwart an, die stets größer ist als die jeweilige Situation. Transparent über dem Foto angebracht, vermitteln sie sein tröstendes Dasein in unseren schwersten Stunden, sein Mitgehen und Mitleiden in allen menschlichen Abgründen.

Die Farbstreifen können aber auch Einladung an uns sein, wie der Soldat uns mit unserer Liebe in die Nähe der Notleidenden zu bringen, durch unsere Zuwendung uns über sie zu beugen, ihnen durch unsere Anteilnahme beizustehen und ihr Leid zu teilen, sie dadurch zu entlasten. Wir alle sind aufgerufen, für das Leben zu kämpfen, das eigene und das unserer Schwestern und Brüder. Damit allen Freiraum, freier Raum, in dem das Leben befreit aufatmen kann, geschenkt wird. Die jedes Bild umgebende Leerfläche könnte Ausdruck dieses Grundrechts sein, das ihre Sehnsucht erfüllt und uns Pflicht ist, ihn zum Wohl aller Menschen auszufüllen.

Vom ganzen Kreuzweg ist ein kostengünstiges Büchlein mit 64 Seiten erschienen, in dem alle Bilder erklärt werden: Atelier Arnold + Eichler, Kreuzweg, Paperback, 64 Seiten im Format 12 x 14 cm, beidseitig ausklappbarer Umschlag mit Innendruck, 19 Farbabbildungen, Pagma-Verlag 2005, Euro 5,- / sFr 7,50, ISBN 978-3-9810758-0-9,
www.pagma-verlag.de

Der barmherzige Samariter

Ohne Hilfestellung kämen wir wahrscheinlich nicht auf den Gedanken, in dieser linearen Gestalt den barmherzigen Samariter zu sehen. Denn die Umrisse lassen neben einem Fuß oder einem Kopf auch andere Assoziationen zu.

Das die Arbeit prägende braunschwarze Band scheint mit einer breiten Feder auf das Blatt aufgetragen: Ansätze sind erkennbar und die auslaufenden Farbschattierungen vermitteln den Eindruck, dass die Striche in einem Zug gezogen worden sind.

Mit dem Band ist das Wichtigste ins Bild gebracht. Auf einer relativ schmalen Basis baut sich ein baumartiges Gebilde auf, das sich in der Mitte verdoppelt und in vielen Rundungen ausformt. An drei Stellen gehen je drei kurze Bänder strahlenartig von der Grundform weg.

Ist nun eine Person dargestellt oder sind es gar zwei Personen? Die beiden hufeisenförmigen Bögen oben links lassen an die Köpfe von zwei Personen denken. Die beiden Kreisformen in der Bildmitte dürfen wohl als Hände gesehen werden, wodurch wir zusammen mit den angedeuteten Beinen eine aufrechte, nach links schreitende Person zu erkennen vermögen, die eine weitere Person im Huckepack auf dem Rücken trägt.

In der Bibel heißt es, dass der Mann aus Samarien Mitleid mit dem von den Räubern zusammengeschlagenen Mann hatte. In seiner Barmherzigkeit hielt er sein Reittier an, stieg er ab und beugte er sich zum Verletzten nieder, um seine Wunden mit Öl und Wein zu pflegen und dann zu verbinden. Danach hob er ihn auf sein Reittier und brachte ihn in eine Herberge, damit dort für ihn gesorgt werde (Lk 10,30-35).

Im Gegensatz dazu ist hier der Samariter selbst als Träger des Verletzten dargestellt. Zeigt er sich durch seine Barmherzigkeit nicht für den anderen verantwortlich und belastet er sich dadurch nicht genauso wie sein Reittier? Und es scheint, dass er sich mit drei weiteren Personen beladen hat, die seiner tragenden Hilfe bedürfen.

Überraschenderweise ist in der dargestellten Gestalt auch der gute Hirte erkennbar, der immer wieder den verlorenen Schafen nachgeht und diese, wenn sie müde oder verletzt sind, auf seinen Schultern nach Hause trägt (Lk 15,5). Deckungsgleich sind beide von der Grundhaltung der Sympathie, des Mitleidens (von griech. syn, pathein = mitleiden) geprägt. Was die Bibel als exemplarische Einzelfälle wiedergibt, ereignet sich immer wieder und bildet einen festen Bestandteil des Lebens. Nicht umsonst hat Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Vorbild für den Gesetzeslehrer genommen, damit dieser (und auch wir) genauso handeln (Lk 10,36-37).

Weiter oben wurde gesagt, dass mit dem Band das Wesentliche ins Bild gebracht worden sei. Bildhaft bringt es zum Ausdruck, dass die Barmherzigkeit – das erbarmende, mitleidende Herz – die verbindende Kraft ist, die über alle erdenklichen Grenzen hinweg Menschen zu neuer Verbundenheit zusammenführt.

Mitleid

Vor einem rot-weißen Hintergrund laufen drei Männer auf den Betrachter zu. Sie tragen eine vierte Person. Die grauen Gestalten und die rot eingefärbte irreale Landschaft lassen an eine Kriegsatmosphäre denken. Die Erde ist vom Blut der Ermordeten getränkt, der Himmel brennt im Widerschein der vernichteten Städte. Aus den Menschen ist alle Lebensfarbe und -klarheit gewichen. Übriggeblieben sind schattenhafte, unscharfe Wesen, die um ihr Leben rennen – und um dasjenige, das sie gemeinsam auf den Armen tragen.

Das Bild erinnert an Fotos aus Kriegs- und Katastrophengebieten. Es erinnert an das stets neu auf die Menschen übergreifende Leid durch Menschen- oder Naturgewalt. Die Frage, die Gott an Kain stellt: „Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden“ (Gen 4,10), könnte auch unsere Frage sein. Die Handlung der Männer wie der blutrote Hintergrund wecken in mir Mitleid und Solidarität.

Als Betrachter werde ich auch dadurch angesprochen, dass die drei Männer mit dem Verletzten auf mich zulaufen! Die mittlere Person schaut mich an und ruft mir unhörbar etwas zu. Sie scheinen den Verletzten zu mir aus dem Bild heraus in die Sicherheit reichen zu wollen, damit ich ihre helfende Geste fortführe, sie in ihrer Erschöpfung ablöse … wie auch immer.

Wir brauchen immer wieder solche oder andere Bilder, die uns aus unserer Trägheit und Bequemlichkeit aufrütteln, damit wir den Notleidenden und Armen unter uns nach unseren Möglichkeiten zu Hilfe eilen – so wie Jesus! Was wir ihnen zu Liebe tun in unserem Mitleid ist nicht nur Nächstenliebe, sondern konkret gelebte Gottesliebe. Denn: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) sagt Jesus im letzten Gleichnis vor seinem eigenen Leidensweg.