Abdruck des Leids

Das Gesicht, das einen durch das gitterförmige Gewebe hindurch anschaut, irritiert. Einerseits, weil es durch das faltige Gewebe zum Teil verdeckt ist, andererseits wegen seines Zustands. Die leicht geneigte Kopfhaltung, die halb geschlossenen Augen, die geröteten Augenränder und der halboffene Mund erzählen von erlittenem Leid. Die Augen der Frau lassen die Vermutung zu, dass sie geschlagen worden ist und geweint hat (große Ansicht).

Der Zustand der Gaze verstärkt diesen Eindruck. Die zerrissenen und ausgefransten Stellen stammen vermutlich von einem Kampf, die verdickte braune Farbe, dass jemand durch den Dreck gezogen und beschmutzt worden ist. Insbesondere die bewegten Randbereiche, in denen die Haare und das ausgefranste Gewebe der Gaze ineinander übergehen, suggerieren erlittenes Leid, das an die Substanz gegangen ist

So vermittelt das mit dem leichten Stoff überlagerte Gesicht den Eindruck, als wäre aus ihm alles Leben gewichen, als wäre es nur noch eine leblose Maske eines Körpers, der bereits tot ist. Eine Assoziation geht deshalb in die Richtung eines Leichentuches, das den Kopf einer Verstorbenen und das erlittene Unrecht verhüllt und gleichzeitig kundtut.

Das im feinen Gewebe wiedergegebene Gesicht knüpft zudem an den Schleier von Manoppello an, welcher auf unerklärliche Weise das Antlitz Christi auf einem sehr feinen Gewebe wiedergibt. Das heilige Gesicht auf dem Schleier wird als das echte Schweißtuch der Veronika verehrt. Da das vorliegende „Schweißtuch“ ein weibliches Gesicht zeigt, wird zudem eine Brücke zu Maria und den weinenden Frauen geschlagen, die Jesus auf seinem Leidensweg begleitet und auf ihre Weise Jesu Leid mitgetragen haben (vgl. Lk 23,27).

Und nicht zuletzt gibt die Arbeit all die vielen Menschen ein Gesicht, die aus irgendeinem Grund im Wasser ihr Leben verloren und mit einem Netz aus dem Wasser gefischt worden sind.

So bringt der „Stofffetzen“ gleichzeitig ganz Verschiedenes zur Sprache. Die Gaze, die üblicherweise zum Verbinden von Wunden verwendet wird, vermag in allen Fällen das erlittene Leid und die seelischen und körperlichen Wunden nicht abzudecken oder zu verbinden. Die Nähe zum „Volto Santo“ von Manoppello und alle anderen Assoziationen machen deutlich, dass es einen Zeitpunkt im Leben gibt, an dem es kein Halten mehr gibt, kein Aufhalten oder keine Umkehrung des Leidensweges.

Dann tut die Gewissheit gut, dass Gott jeden von uns gerade dort unsichtbar hält, wo alle irdischen Bindungen reißen. Ermutigend und stärkend hat dies der Beter zu Beginn des Psalms 31 formuliert (V. 2-6):
„Herr, bei dir habe ich mich geborgen. Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit; rette mich in deiner Gerechtigkeit! 
Neige dein Ohr mir zu, erlöse mich eilends! Sei mir ein schützender Fels, ein festes Haus, mich zu retten! 
Denn du bist mein Fels und meine Festung; um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten.
Du wirst mich befreien aus dem Netz, das sie mir heimlich legten; denn du bist meine Zuflucht. 

In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist; du hast mich erlöst, HERR, du Gott der Treue.“

Diese Arbeit wurde 2019 im im Dom Museum Wien in der Ausstellung “Zeig mir deine Wunde” gezeigt. Über 40 künstlerische Positionen brachten die verschiedenen Aspekte von Verwundungen in unserem Leben zum Ausdruck.