Lichtblick

Umgeben von einem dunklen Rahmen, öffnet sich unserem Blick in der Bildmitte ein helles Fenster. Es scheint nicht sehr groß zu sein, denn die weiße Taube, die sich mit dem grünen Zweig im Schnabel auf dem Fenstersims niedergelassen hat, füllt fast das ganze Fenster aus.

Die dunkelblaue Farbe suggeriert umgebende Dunkelheit und Nacht. Von den fünf Menschen sind nur schattenhafte Köpfe und Silhouetten auszumachen. Die beiden Personen, die sich unter dem Fenster befinden, lassen durch die vier hellen Senkrechten und den engen Bildraum zudem an Gefangene denken, die eingesperrt und niedergedrückt sind. Seltsam, wie der Künstler ihre Augen, Nasen und Münder stilisiert mit einem Kreuz-Zeichen angedeutet hat.

Soll es ihre „Religio“, ihre Rückbindung an Gott zum Ausdruck bringen, die ihnen Zugehörigkeit und Schutz verheißt? Denken wir nur an die Riten von Taufe, Firmung, Konfirmation oder Krankensalbung … Trotzdem bleiben viele Fragen und Zweifel. Wer kann Katastrophen wie eine Sintflut, einen Tsunami und anderes mehr verstehen? Helfen kann da nur ein unsagbares Vertrauen. In diesem Vertrauen haben sie die Taube ausgesandt und, um sicher zu gehen – denn Zweifel bohren tief – eine zweite.

Nun ist sie in ihre Mitte zurückgekehrt – mit dem Zeichen des Zweiges. Die Dunkelheit hat einen Lichtblick erhalten, der sich auf den Köpfen der wartenden Menschen bereits spiegelt. Durch das Licht wird das Zeichen auf ihren Köpfen sichtbar, das in der Bibel bei Menschen verwendet wird, die aus ihrem Glauben, aus ihrer innigen Beziehung zu Gott, der Schöpfung und den Mitmenschen heraus in Zeiten der Dekadenz einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn bewahren. So heißt es von Noach: „Noach war ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen; er ging seinen Weg mit Gott.“ (Gen 6,9) Deshalb wurde er von Gott beauftragt, zur Rettung des Menschengeschlechts und der Tiere ein großes Schiff zu bauen, auf dem er mit seiner Familie und den Tieren die Zeit der Sintflut überleben konnte. Das Aquarell vermittelt den Augenblick, in dem die Taube das zweite Mal nach der Erkundung nach Land erfolgreich mit dem frischen Olivenzweig als Zeichen für das Wiederaufblühen der Natur zurückkehrte. „Jetzt wusste Noach, dass nur noch wenig Wasser auf der Erde stand.“ (Gen 8,11)

Im blauen Hintergrund könnte aufgrund dieser Begebenheit ebenfalls das alles vernichtende Wasser der Sintflut gesehen werden. Auch den Geretteten steht das Wasser bis zum Hals. Was sie allerdings über Wasser hält, ist ihre Verbundenheit mit dem Licht, das im Fenster wie ein Floß, wie eine rettende Insel in ihrer Mitte schwimmt. Ihr Vertrauen hat ihnen eine neue Zukunft, neue Aufgaben und sicher auch neue Leiden gegeben. Hoffnungsvolle Zuversicht und Liebe erfüllt und verbindet sie mit dem unbegreiflichen Gott. Und dieses gläubige Festhalten am gerechten Denken und Handeln verhindert, dass sie sich in unwürdige Machenschaften verstricken, die ihnen und anderen Unheil und Tod bringen. – Ermutigung und Lichtblick für uns!

Das besprochene Aquarell stammt aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers mit Bildern von Andreas Felger
/ Deutsche Bibelgesellschaft in Stuttgart, 1.664 Seiten, 171 ganzseitige Aquarelle und 104 teils farbige Skizzen, Format 17,3 x 24,5 cm

Seit vielen Jahrzehnten widmet Andreas Felger einen wesentlichen Teil seines künstlerischen Schaffens der Auseinandersetzung mit biblischen Texten. Seine Bilder sind Ausdruck gelebten Glaubens, wiederholter Meditation und Durchdringung. Seine Aquarelle und Skizzen sprechen eine spirituelle Sprache. Konkrete Darstellungen wechseln mit abstrakten Motiven, schaffen meditative Momente, eröffnen andere Sichtweisen und neue Zugänge zur Heiligen Schrift. Die Begegnung und der Dialog zwischen Mensch und Gott werden in seinen Bildern anschaulich und berühren die Sinne.