Warten auf Gott

Aus der Ferne erkennt man auf den ersten Blick nicht viel auf diesem dreiteiligen Bild. Feine horizontale Linien durchziehen fast die ganze Bildfläche des Triptychons. Nur oben ist ein schmaler Streifen leer geblieben. Durch diesen hohen „Horizont“ entsteht der Eindruck einer graphisch vereinfachten Landschaft, welche an die Weite des Meeres oder einer Ebene erinnert.

Minimale Unterschiede in Abstand, Linienführung und Farbe lassen aufmerken. Bereits aus dem Gesamteindruck ist die freie Hand der Künstlerin herauszuspüren, die bewusst ohne technische Hilfsmittel gearbeitet hat. Die hinterlassenen Linien haben auf der Leinwand eine sehr menschliche, von Unregelmäßigkeiten geprägte Spur hinterlassen.

Aus der Nähe offenbaren sich die horizontalen Linien als eine Aneinanderreihung von unermesslich vielen Schriftzeichen, die ohne Abstand, Punkt oder Komma aneinandergefügt worden sind. Um was für eine Sprache es sich wohl handelt? Was wurde hier niedergeschrieben und mit einem Schriftbild dokumentiert?

Auf den ersten Blick erhalten wir durch die gleiche Größe der Buchstaben und der vielen senkrechten Striche den Eindruck einer alten, uns fremden Schrift. Mit der Zeit können einzelne Buchstaben wie E, U, T und W entziffert werden, doch ein Wort- oder gar Satzzusammenhang versperrt sich dem Eiligen. Dieser Text scheint keinen Anfang und kein Ende zu haben und lässt uns als Betrachter kaum einen Zugang offen.

Dadurch passiert etwas mit uns. Die scheinbar unverständlichen Zeichen verlangsamen unser Lesetempo und machen uns zu Suchenden. Da sich der Schriftsinn nicht gleich erschließt, wird unsere Geduld auf die Probe gestellt. Dieses Ausharren macht uns zu Wartenden.

Dabei entdecken wir vielleicht, dass auch das Niederschreiben dieses Textes viel Zeit gebraucht hat. Die leere Fläche war noch zeitlos. Indem die Künstlerin aber in diese Fläche eine Abfolge von geordneten Zeichen setzte, hat sie ihr gleichzeitig die dafür notwendige Zeit eingeschrieben: Die verschiedenen Tageszeiten, die Zahl der dafür gebrauchten Stunden und Tage.

So nimmt uns die Künstlerin in eine ausdauernde Meditation des sechsten Verses aus dem Psalm 130 hinein: „Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen“.

Das Verweilen vor dem Triptychon beruhigt und lässt zudem still werden. Wer wartet, ist in Erwartung. Und wer jemanden erwartet, ist ein bis an die Wahrnehmungsgrenzen Horchender und Schauender, damit er kein Zeichen seiner Ankunft verpasst. Um so mehr, wenn es sich beim Kommenden um Gott handelt, von dem es im Psalm (V. 7b-8) weiter heißt: „Denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle. Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden.“

Und die Vergebung durch Gott wird, wie es die Größe des Triptychons und der weite Horizont andeuten, unermesslich sein. „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue, soweit die Wolken ziehen“, betet der Psalmist an einer anderen Stelle (Ps 36,6). – Wer möchte das verpassen?