Orientierung

Die Anordnung der gelben Linien identifizieren wir schnell als Straßennetz einer Großstadt. Der Ausschnitt könnte einem Stadtplan entnommen oder aus der Luft aufgenommen sein. Es ist kein Zentrum auszumachen. Doch im unteren Bereich ist eine Verdichtung des Straßennetzes zu beobachten. Zudem lassen rote Punkte und Flächen – wie wir es von Stadtplänen kennen – an wichtige Gebäude denken.

In Wirklichkeit sind hier die einzelnen Straßenzüge aber nicht mehr klar zu erkennen. Sie sind teilweise mit Farbe übermalt und signalisieren gerade das Gegenteil von Ordnung. Sie scheinen verstopft zu sein und stiften Verwirrung. Wie ein undurchdringliches Dickicht verhindern sie das Vorwärtskommen. Das kann Angst auslösen, eingesperrt zu werden oder den Weg nicht mehr zu finden.

Aus dem gestalterischen Unterschied zwischen den beiden Bildhälften ergibt sich die Sehnsucht nach einem übersichtlichen und sicheren Weg. Lieber keine äußeren Orientierungspunkte, wenn diese nur verwirren, und wie ihre rotbraune Farbe auch gedeutet werden kann, Verwundung und Schmerz bedeuten.

Doch worauf sollen wir vertrauen? Auf den Straßen kennen wir Navigationssysteme. Sie führen uns sicher ans Ziel, umfahren Baustellen und Staus. Für unser Leben gibt es kein solches System, bei dem das Ziel eingegeben wird und uns dann automatisch die schnellste und eine kürzeste Route vorgeschlagen wird.

Allerdings hat uns Gott seine Weisungen ins Herz gelegt, damit wir mit Seiner Hilfe den für uns besten Weg finden, der uns sicher zu einem inhaltlich wie zeitlich erfüllten Leben führt. Insbesondere die Psalmen sprechen davon: „Alle, die deine Weisung lieben, empfangen Heil in Fülle; es trifft sie kein Unheil.“ (119,165) „Er hat die Weisung seines Gottes im Herzen, seine Schritte wanken nicht.“ (37,31)

Mit dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe, dem Sinn für Gerechtigkeit und für Schuld hat uns Gott ein Navigations- oder Orientierungsinstrument ins Herz gelegt, das die eingeschlagenen Wege vertrauensvoll geht und das Kreuzungen zuerst als Ort der Begegnung sieht und erst dann als Ort der Entscheidungen und des Abschieds. In der Fülle der Möglichkeiten vertraut der Gläubige dem über ihm seienden Gott, dass ER ihn sicher durch die Gefahren jeden Weges führt, aus Sackgassen herausholt, an den Kreuzungen die richtige Entscheidung treffen lässt und zu stärkenden Rastplätzen führt. – Mit IHM werden alle Strassen, wie es das Bild andeutet, zu lichterfüllten Wegen des Lebens, in denen bereits das Ziel entgegenleuchtet.

Gottes Weisungen

Alles scheint in Bewegung zu sein auf diesem Bild: Die mit schnellen Pinselstrichen aufgetragene Farbe, die Farbtöne, selbst die Komposition scheint in heller Aufruhr durcheinander gewirbelt zu werden.

Mittendrin lässt sich allerdings eine Gestalt entdecken, die von den Gewalten scheinbar unberührt am Boden kniet. Ihr aufrechter Oberkörper und die Umrisse des Kopfes sind deutlich zu erkennen, während das Gesicht verhüllt ist und Arme und Beine angedeutet sind. Erschrecken und Ehrfurcht bringen die Hände am Herz und vor dem Mund zum Ausdruck. Rot gekleidet, ist sie vorne, unten und hinten von roten Elementen tragend und beschützend umgeben.

Erst durch diese Person lässt sich das untere Bilddrittel als Erde festlegen. Vor ihr und über ihr wölbt sich ein großer Bogen von der linken unteren Ecke diagonal nach oben. Assoziationen an Felsen und Wolken werden hervorgerufen und bringen Mose in Erinnerung, der nach dem Auszug aus Ägypten von Gott eingeladen wurde, auf den Berg Sinai zu steigen. „Der Herr sprach zu Mose: Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib hier! Ich will dir die Steintafeln übergeben, die Weisung und die Gebote, die ich aufgeschrieben habe. Du sollst das Volk darin unterweisen.“ (Ex 24,12)

Die Begegnung selbst wird folgendermaßen beschrieben: „Die Erscheinung der Herrlichkeit des Herrn auf dem Gipfel des Berges zeigte sich den Augen der Israeliten wie verzehrendes Feuer. Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg hinauf. Vierzig Tage und vierzig Nächte blieb Mose auf dem Berg.“ (Ex 24,17-18)

Obwohl die wolkenartigen, dunklen Elemente den hellen Hintergrund größtenteils verdecken, lassen die leuchtenden Gelbtöne doch die Herrlichkeit Gottes im Hintergrund erahnen. Er ist die Urkraft, die hinter allem steckt. Mit ihrer bewegten und dichten Darstellung taucht die Künstlerin nicht nur in die an sich verhüllte Begegnung ein, sie lässt uns auch die Bedeutungsfülle dieser Zeitspanne spüren. Das Bild lässt an einen Sturm denken, an ein Chaos, an eine schöpferische Neuordnung. Gott schenkt den Israeliten Weisungen, die ihnen wie Sonne, Mond und Sterne in guten und hellen sowie in schlechten oder eben dunklen Zeiten Orientierung geben sollen.

Doch was bewirken in Stein gemeißelte Gebote, wenn sie nicht beachtet oder umgesetzt werden? Hat die Künstlerin das Bild vielleicht deshalb so bewegt gemalt, damit auch wir die revolutionäre Kraft in den Zehn Geboten spüren, die Kraft des Heiligen Geistes? Auch wenn der Bundesschluss keine Präfiguration von Pfingsten ist, so gibt Gott den Israeliten und allen Gläubigen durch Mose doch eine äußere Lebenshilfe, die ihr Inneres bewegen und erneuern soll.

Blick in den Himmel

Ein mit Licht erfüllter Kreis dominiert die Komposition dieses Aquarells. Er ist von einem schmalen grauen Ring eingefasst und zeigt sich wie eine Öffnung im blauen Hintergrund des Quadrates. Ein Blick in den Himmel? In seiner Mitte zwei schmale, aufgerichtete Rechtecke. Durch ihre organischen Ränder und die geneigten Formen erinnern sie auch ohne anatomische Details an Menschen, die sich nahe stehen, ja in ihrer Zuwendung einander zugeneigt sind.

Die größere Gestalt ist ganz im Rot des Blutes und des Lebens sowie der Liebe gehalten. Sie steht in sich selbst, kann sich der kleineren Gestalt zuneigen und ihr Halt geben. Denn diese schwach s-förmig geschwungene Figur besteht nur in der Anlehnung. Ihre grüne Farbe lässt an das Grün der Pflanzen und Bäume denken, die auf der Erde wachsen. Die wenigen Angaben genügen, um die beiden Rechtecke als Symbole für Gott und den Menschen deuten zu können – den Schöpfer des Lebens und der Liebe sowie sein aus Erde geschaffenes Abbild (Gen 1,27), das wie die Pflanzen wächst und vergeht (vgl. dazu Ps 90,5-6; 103,13-18).

Die beiden Gestalten erinnern in ihrer Beziehung an die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Nach der langen Zeit in der Ferne findet er bei seinem Vater jene Barmherzigkeit und Geborgenheit wieder, die seinem Leben Halt und Sinn gibt (Lk 15,11-32). Beeindruckend hat der Künstler die Herzlichkeit und Innigkeit der Begegnung durch das Überlappen und ineinander Verschränken der beiden Farben und Formen dargestellt. Der Sohn taucht tief in die Wirklichkeit Gottes ein und Gott schenkt ihm trotz allem erlittenen Schmerz seine ungeteilte Liebe. Gestalterisch bringt der Künstler dies durch das „Ausbluten“ der roten Farbe in den grün-gelben Bereich hinein zur Sprache.

Die Betrachtung der beiden im Licht stehenden Gestalten und der Bildgeschichte vom verlorenen Sohn können den Wunsch aufkommen lassen, von Gott so herzlich umarmt zu werden wie der zurückgekehrte Sohn. Die Sehnsucht wird geweckt, sich mit allen Unsicherheiten und Ängsten bei Ihm anzulehnen und Zuneigung und Halt zu finden. Diese Grundhaltung des Gläubigen wird dann im Gespräch mit Gott nicht mehr viele Worte brauchen. Das ganze Vertrauen und die wissende Nähe Gottes floss bei Jesus in die familiär-zärtliche Anrede „Abba – lieber Vater“ hinein (Mk 14,36). Und er empfahl seinen Zuhörern mit den einfachen, von herzlicher Nähe und Barmherzigkeit geprägten Worten des „Vater unsers“ zu beten: „Vater unser im Himmel, … Gib uns unser tägliches Brot. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. …“ (Mt 6,9-13).

Über den „Blick in den Himmel“ hinaus führt dieses Aquarell den Betrachter ins Gebet und an das Herz Gottes. Es lässt nicht nur mit den Augen die uns Menschen zugewandte Liebe Gottes sehen. Das Aquarell ermöglicht so dem Betrachter, die göttliche Liebe mit dem Herzen zu erfahren und sich gewissermaßen „im Himmel“ wiederzufinden.

Joachim Wanke, Andreas Felger, Gottesnähe – Vater unser, Präsenz Kunst & Buch, 2005, (Aquarelle und Zeichnungen von Andreas Felger, Betrachtungen von Bischof Dr. Joachim Wanke). Außerdem ist ein Leporello mit allen 14 Aquarellen und einer Betrachtung auf der Rückseite im Buchhandel erhältlich.

Hier auf der Website des Künstlers können Sie alle Bilder zum Vater unser online anschauen.

Glück !?

Die beiden an sich unabhängigen Bilder stehen einander thematisch und kompositorisch nahe. In beiden Werken steht ein Bild einem Durchgang mit vergleichbaren Proportionen gegenüber, der mit Licht erfüllt ist. Auch Gegensätze prägen die Komposition: Die Bilder sind im Vergleich zu den Durchgängen erhöht. Auf ihnen sind Heilige in ekstatischer Haltung dargestellt, die von je zwei spielenden Putten begleitet auf Wolken schwebend in den Himmel entrückt werden. Neben dieser „dreifachen“ Erhöhung sitzt ein Kind auf der Treppe bzw. steht ein weiteres auf dem Boden. Sie sind allein und wirken verloren in der großen Türöffnung und vor dem undefinierten Hintergrund. Während ihre unsichtbaren (da von ihnen aus um die Ecke herum platzierten) Gegenüber mit ausgebreiteten Armen dem Licht über ihnen entgegenschauen, sind sie mit sich selbst beschäftigt. Der Junge zündet sich gerade eine Zigarette (oder einen Joint) an, während das Mädchen von ihrem Idol Marilyn Monroe träumt. Dieser Genuss, diese irdische Vision scheint sie zu „elektrisieren“.

Die Bilder erscheinen wie aus der Türe herausgeschnitten und an die Wand gehängt. Obwohl sie thematisch in eine Kirche gehören würden, befinden sie sich in einem weltlichen Gebäude. Mit Maria und Franziskus (erkennbar am Ordensgewand und den Stigmata) werden zwei der wichtigsten Vorbilder des christlichen Glaubens in glücklichen Momenten ihres Lebensweges gezeigt. Ihre Platzierung im Museum deutet an, dass sich die Frage nach der erfüllenden und beglückenden Lebensgestaltung überall und zu jeder Zeit stellt, letztlich aber doch sehr religiös geprägt ist. Welche Bindung macht mich glücklich, schenkt mir inneren Frieden? Wer oder was motiviert mich, ermutigt mich und schenkt mir die Kraft, Großes zu erreichen?

In der Gegenüberstellung der barocken Heiligenbilder mit der heutigen Wirklichkeit der Kinder stoßen nicht nur Vergangenheit und Gegenwart aufeinander, in den Personen begegnen sich auch die Erfüllung und die Suche danach. In diesem Bild wird neben der Frage der Sinnfindung auch die Berufs- und Berufungsfrage angeschnitten, die sich sicher bei Kindern und Jugendlichen am intensiven stellt, uns aber gewissermaßen immer wieder neu begegnet: Wo will ich hin? Zu was bin ich berufen? Die lichten und grenzenlosen Räume hinter den Kindern mögen Ausdruck dafür sein, dass ihnen alle Möglichkeiten offen stehen.

Obwohl das Mädchen noch auf Marilyn Monroe „steht“, stellt sich aufgrund des mit Licht erfüllten Raumes die Frage, ob sie wie Maria vielleicht gerade von einem unsichtbaren Engel angesprochen wird. „Wie soll das geschehen?“, mag sich auch das Mädchen fragen. Wie kann ich eine Karriere machen wie Marilyn oder Maria …? – Ob sie an Gott glaubt? Ob sie ihm ihr Leben anvertraut, es gleichsam in seine Hände legt, wie es einst Maria gemacht hat mit den Worten: „Ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38). Maria ist für dieses Vertrauen, für diese Hingabe in ihre Aufgabe mit der Aufnahme in den Himmel belohnt worden. Aber was für ein Gewicht hat dieser immaterielle „Gewinn“ schon bei der Entscheidungsfindung gegenüber dem weltlichen Ruhm und dem finanziellen Erfolg?

Auch der Junge scheint sich in seiner Glückssuche schwer zu tun. Seine sitzende Haltung am unteren Ende der Treppe signalisiert einen Tiefpunkt. Er gibt sich mit vergänglichem Genuss zufrieden. Sein Gegenüber, Franziskus, hat entgegen dem Zeitgeist auf die durch Armut geprägte Nachfolge Christi gesetzt und ist reich beschenkt worden. Vielleicht stellen sich dem Jungen ähnliche Fragen.

Der Künstler lässt uns mit der Geschichte der beiden Jugendlichen im Ungewissen. Aber wenn wir das unendliche Licht hinter ihnen als Gegenwart Gottes deuten, dann leuchtet uns die Zuversicht entgegen, dass Er alle Suchenden mit Erkenntnis unterstützt und – wie die Entscheidung auch fallen wird -, hinter ihrem Entschluss stehen wird.

„In den Arbeiten von Stephan Melzl zeigt sich exemplarisch die Macht des Bildes, rationales Denken zu transzendieren. Für die Darstellung innerer Zustände und Phantasien konstruiert er gegenständliche Welten von eigentümlicher Melancholie und zugleich humorvoller Komik. Die widersprüchlichen Empfindungen, die seine Bilder auslösen, fallen auf den Boden der eigenen Widersprüchlichkeit, und kaum etwas erscheint in seinen Bildern als gesichert. Sie erzählen von einem fragmentierten, einem ambivalenten Zustand einer Bewältigung der äußeren und inneren Wirklichkeit.“ (Auszug aus einem Text von Dorothea Strauss, Freiburg)

Fußspuren

Vier gelbe Fußspuren durchqueren hart am Rand der fasrig strukturierten Fläche das Bild. Die Anordnung der Fußspuren zeigen dem Betrachter eine Sicht von oben. Der Mensch, der diese goldenen Spuren hinterließ, hat die blau-weiß-rote Fläche von rechts nach links überquert und dabei ungewöhnliche Abdrücke hinterlassen. Es sind nicht durch das Gewicht verursachte Vertiefungen, sondern Verfärbungen. Wo dieser Mensch gegangen ist, hat er „seine Farbe“ hinterlassen.

Doch wer war es und wo geschah dies? Die Hintergründe vermögen weitere Hinweise zu geben: Während der obere durch sein helles Blau-weiß an den Himmel erinnert, lässt sich der untere am besten mit bewegtem Wasser in Verbindung bringen. Die Grenze zwischen Wasser und Himmel wäre dann gleichsam der Horizont, die Wasseroberfläche. Und seinen Spuren nach wäre dieser Mensch dann ein Grenzgänger zwischen Himmel und Erde.

Aber Fußspuren auf dem Wasser? Unmöglich! Zum einen können wir Menschen nicht auf dem Wasser gehen, zum anderen verwischt das Wasser die Spur jeglicher oberflächlichen Berührung in Sekundenschnelle.

Im Bild können sie allerdings an Jesus erinnern, der seinen Jüngern eines Nachts über das Wasser des Sees Gennesaret zu Hilfe eilte, weil sie im Gegenwind mit starkem Wellengang zu kämpfen hatten (Mt 14,24-25). Gerade weil das Gehen auf dem Wasser nicht möglich ist, meinten sie ein Gespenst zu sehen und ängstigten sich sehr.

Die „goldenen“ Spuren zeugen von einem göttlichen Beistand. Sie verweisen auf die Herkunft Jesu und auf seine Herrlichkeit. Sie sprechen von seiner Ermutigung: „Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!“ (V. 27) und erinnern an seine tröstenden Abschiedsworte: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. … Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,18b.20b)

Die goldenen Fußspuren zeugen von seinem Vertrauen in den Vater. Er war so von diesem Vertrauen durchdrungen, dass es die Spuren all seiner Schritte einfärbte. Dadurch sind sie uns Einladung und Ermutigung, ebenfalls Schritte des Vertrauens zu wagen. Petrus versuchte es, doch nach einigen Schritten bekam er wieder Angst und Zweifel … und begann unterzugehen, bis Jesus ihn bei der Hand ergriff.

Uns geht es in vielen Sachen des Glaubens auch so. Dann brauchen wir die haltgebende Liebe Gottes an unseren Händen oder unter unseren Füßen – ähnlich wie das satte Rot in der Tiefe des Wassers – damit auch unser Herz wieder zuversichtlich fest wird und das scheinbar Unmögliche durch das Vertrauen in Jesus möglich wird. Dann werden vielleicht auch unsere Fußstapfen zu vergoldeten Spuren, in denen Gottvertrauen, Überwindung und Fülle des Lebens zu lesen sind.

Leid und Flucht

Die Farben des Bildes scheinen sich von den beiden rechten Ecken her zur Mitte und nach rechts hin zu verdunkeln. Der lichterfüllte Sand verfärbt sich von oben und von unten her glühend rot, um dann von einer aschgrauen Schicht überdeckt zu werden. Darin sind schwarze Gestalten unterwegs, gerade noch als Menschen erkennbar. Im harten Gegensatz zu den dunklen Menschengruppen leuchtet am oberen Bildrand ein halb verdecktes rundes Licht. Ob es für die Sonne steht, welche das Land einst in warmen Farben leuchten ließ, bevor sie durch die Flammen und den Rauch eines anderen Feuers verdeckt wurde?

Unheil ist aus dem Bild herauszuspüren. Als Betrachter fragen wir uns unwillkürlich, was geschehen ist, dass eine solche Finsternis das Land bedeckt und die Menschen zur Flucht bewegt. Die Farben assoziieren Wüste, Hitze, brennendes Land und verbrannte Erde. Krieg lässt sich erahnen und lässt an die vielen Konflikte in Nahost denken, in denen immer und immer wieder Heimat zerstört und Menschen in Angst und Finsternis gehüllt werden. In Gruppen sind sie in der Sehnsucht nach neuer Sicherheit und Heimat unterwegs.

Von den Menschen sind nur Silhouetten übrig geblieben. Als Schatten geistern sie durch das zerstörte Land, als „verkohlte“ Gestalten, bei denen mit der Umwelt zusammen auch vieles im seelischen Bereich verbrannt und zerstört worden ist.

Das Bild strahlt Trauer aus, aber nicht Trost- und Hoffnungslosigkeit. Denn noch leuchtet die Sonne. Aber sie hat keine Kraft, die Menschen in der Finsternis zu erreichen. Das Bild erinnert auch an das Volk Israel, von dem wiederholt berichtet wird, dass es in Dunkelheit und Finsternis lebt, aber über ihnen ein Licht aufstrahlt (vgl. Jes 9,1; 60,2).

Auch das große Kreuz, das verborgen als Symbol des Leidens und Sterbens über das ganze Bild gelegt ist, spricht die Hoffnung an. Die von Leid und Not betroffenen Menschen sind nicht allein. Jesus Christus hat sich durch sein eigenes Leiden mit ihnen solidarisiert und ist ihnen auf ihrem kreuzwegähnlichen Auszug aus der „heiligen“ Stadt nahe. Er trägt ihre Angst und ihr Leiden mit. Hebt sich im Bereich des linken Randes nicht schemenhaft ein schwarzer runder Kopf vom grauen Hintergrund ab und lassen sich darunter nicht die ausgebreiteten Arme und der Leib des Gekreuzigten sehen? Sein Sieg über Sünde und Tod lassen das warme Rot im Hintergrund in einem ganz anderen Licht sehen: als Künder des neuen Lebens, als Verheißung des neuen Tages, der neuen Zeit nach diesem Schrecken und dieser Not.

Der barmherzige Samariter

Ohne Hilfestellung kämen wir wahrscheinlich nicht auf den Gedanken, in dieser linearen Gestalt den barmherzigen Samariter zu sehen. Denn die Umrisse lassen neben einem Fuß oder einem Kopf auch andere Assoziationen zu.

Das die Arbeit prägende braunschwarze Band scheint mit einer breiten Feder auf das Blatt aufgetragen: Ansätze sind erkennbar und die auslaufenden Farbschattierungen vermitteln den Eindruck, dass die Striche in einem Zug gezogen worden sind.

Mit dem Band ist das Wichtigste ins Bild gebracht. Auf einer relativ schmalen Basis baut sich ein baumartiges Gebilde auf, das sich in der Mitte verdoppelt und in vielen Rundungen ausformt. An drei Stellen gehen je drei kurze Bänder strahlenartig von der Grundform weg.

Ist nun eine Person dargestellt oder sind es gar zwei Personen? Die beiden hufeisenförmigen Bögen oben links lassen an die Köpfe von zwei Personen denken. Die beiden Kreisformen in der Bildmitte dürfen wohl als Hände gesehen werden, wodurch wir zusammen mit den angedeuteten Beinen eine aufrechte, nach links schreitende Person zu erkennen vermögen, die eine weitere Person im Huckepack auf dem Rücken trägt.

In der Bibel heißt es, dass der Mann aus Samarien Mitleid mit dem von den Räubern zusammengeschlagenen Mann hatte. In seiner Barmherzigkeit hielt er sein Reittier an, stieg er ab und beugte er sich zum Verletzten nieder, um seine Wunden mit Öl und Wein zu pflegen und dann zu verbinden. Danach hob er ihn auf sein Reittier und brachte ihn in eine Herberge, damit dort für ihn gesorgt werde (Lk 10,30-35).

Im Gegensatz dazu ist hier der Samariter selbst als Träger des Verletzten dargestellt. Zeigt er sich durch seine Barmherzigkeit nicht für den anderen verantwortlich und belastet er sich dadurch nicht genauso wie sein Reittier? Und es scheint, dass er sich mit drei weiteren Personen beladen hat, die seiner tragenden Hilfe bedürfen.

Überraschenderweise ist in der dargestellten Gestalt auch der gute Hirte erkennbar, der immer wieder den verlorenen Schafen nachgeht und diese, wenn sie müde oder verletzt sind, auf seinen Schultern nach Hause trägt (Lk 15,5). Deckungsgleich sind beide von der Grundhaltung der Sympathie, des Mitleidens (von griech. syn, pathein = mitleiden) geprägt. Was die Bibel als exemplarische Einzelfälle wiedergibt, ereignet sich immer wieder und bildet einen festen Bestandteil des Lebens. Nicht umsonst hat Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Vorbild für den Gesetzeslehrer genommen, damit dieser (und auch wir) genauso handeln (Lk 10,36-37).

Weiter oben wurde gesagt, dass mit dem Band das Wesentliche ins Bild gebracht worden sei. Bildhaft bringt es zum Ausdruck, dass die Barmherzigkeit – das erbarmende, mitleidende Herz – die verbindende Kraft ist, die über alle erdenklichen Grenzen hinweg Menschen zu neuer Verbundenheit zusammenführt.

Lichtgestalt

In leuchtendem Gegensatz zur nachtblauen Horizontale bildet die weiße Lichterscheinung im Bild eine vertikale Achse. An sich ist das Bild eine abstrakte Komposition von helleren und dunkleren Farben. Es ist nichts Konkretes zu erkennen. Selbst die Lichtquelle bleibt unscharf, wie von Nebelfetzen verhüllt. Dennoch erinnern uns die teils fließenden, teils luftigen Farbübergänge unweigerlich an Wolkenbilder und Lichterfahrungen, die jeder von uns schon mit dem Blick zum Himmel machen durfte. Denn da sind solche Farbmalereien keine Seltenheit.

Die kontrastreiche Stimmung dieses Bildes verbinden die meisten wahrscheinlich mit einem Gewitterhimmel. Unheimlich und doch faszinierend schwebt das schwere Dunkelblau nicht nur ganz oben im Bild, sondern wie eine dunkle Gewitterwolke auch über dem Betrachter.

Darunter die mächtige Lichtgestalt, welche dem Druck von oben buchstäblich standhält. Sie lässt sich durch das Dunkle nicht erdrücken, bricht unter ihm nicht zusammen. Ihr Kraftzentrum könnte die hellere Wolke in der oberen Hälfte sein. Weitere fünf Lichtpunkte sind sternförmig um dieses Zentrum angeordnet und tragen zu seiner starken Ausstrahlung bei.

Geheimnisvoll diffus ist in diesem Bild das Licht gegenwärtig. Es ist nicht klar zu bestimmen, ob es von unten oder von oben kommt oder gar aus der lichten Mitte. Doch scheint diese nicht vor den blasseren Partien zu schweben und mehr von vorne als von hinten beleuchtet zu werden?

Jedem wird die Betrachtung dieser Begegnung von Licht und Dunkel etwas anderes offenbaren. Für mich sagt das Bild viel über die Begegnung von Gott und Mensch aus. Kann in der Lichtgestalt nicht ein nach rechts schreitender Mensch gesehen werden? Er ist vom Licht und der Gnade Gottes erfüllt, welche am intensivsten in seiner Seele leuchten und ihn zur Suche nach Gott bewegen, der ihm nahe ist und sich doch in mystischer Dunkelheit allen menschlichen Zugriffen und Vereinnahmungen entzieht.

So finde ich mich wie in einem Spiegel auch im Bild wieder: Als vom Licht Erleuchteter, als Gott Suchender und nach ihm Tastender, als Mensch auf dem Weg zu Ihm, dem unfassbar Großen, zu dem ich als sein Kind berufen bin. Dabei erfahre ich seine Größe nicht als Bedrohung oder Gefahr, sondern als Schutz und Geborgenheit, die mir überall im Leben den notwendigen Raum zur Weiterentwicklung gibt.

Ein Katalog Ausstellung im Dom zu Meißen mit ganzseitigen Abbildungen der Bilder kann bei der Galerie Sybille Nütt (galerie@kunstindresden.de) bezogen werden.

Weltumfassend

Ein von Kinderhand gezeichneter Kopf befindet sich in der Mitte des Bildes. Halbrund geformt und mit einem kurzen Zick-Zack-Haarschnitt versehen, schauen die ganz oben im Gesicht angeordneten Punktaugen zum Himmel, der in einem vertikalen blauen Band angedeutet ist. Der große u-förmige Mund gibt dem Knabengesicht ein fröhliches, aber auch spitzbübisches Aussehen. Selbstsicherheit geht von ihm aus, wie es auch die erhobenen Arme signalisieren. Ihm scheint die ganze Welt zu gehören. Er steckt voller Kraft, Zuversicht und Tatendrang, die Welt zu erkunden. Er scheint sich glücklich bewusst zu werden, dass er mit geistigen und seelischen Fähigkeiten gesegnet ist, die ihm ermöglichen, die Welt zu erforschen und gleichsam zu umfassen.

Der Künstler hat den in der Kinderzeichnung nur mit Strichen angedeuteten Körper des Knaben mit dem Ausschnitt einer alten Landkarte in Verbindung gebracht. Die Welt, die er mit seinem Wissen und mit seinen Gefühlen „umfasst“, trägt er bereits ins sich. Allerdings scheint sie noch verborgen zu sein, denn wie ein Fluss durchquert eine große Wasserwelle das Bild. Das Kind steht jedoch bereits in diesem die Welten verbindenden Wasser. Es wird durch das Wasser mit den fernen Kontinenten verbunden, wie in einem Boot zu ihnen hingetragen …

Aber – erfährt der Junge dieses weltumspannende Gefühl wirklich oder träumt er alles nur? Denn das hellblaue Feld über seinem Kopf könnte auch andeuten, dass er visionär oder in seiner Fantasie in andere „Welten“ sieht. Andererseits scheinen auch die erhobenen Hände den dunklen und begrenzenden Lebensrahmen nicht nur fernzuhalten, sondern auch zu durchbrechen. – Wie dem auch sei, in diesem Kind steckt die Kraft, neue Lebensräume zu erschließen!

Ob es der Glaube ist, der ihm diese Kraft gibt? Der Glaube an Gott und an seine eigenen Fähigkeiten? Wir wissen es nicht. Aber die in ihm steckende Kraft macht seine Lebenswelt hell, froh und weit. – Wünschen wir uns das nicht alle?

In Verbindung mit dem Bild mag vielleicht das im Epheserbrief überlieferte Gebet des Apostels Paulus am besten unserer Herzensbewegung Wort zu verschaffen: „Ich [Paulus] … bitte, er [Gott Vater] möge euch aufgrund des Reichtums seiner Herrlichkeit schenken, dass ihr in eurem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt. Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt.“ (Eph 3,14-19)

Glauben

Geheimnisvoll verbirgt und offenbart diese mehrteilige Arbeit Wesentliches des christlichen Glaubens. Die Heiligkeit des einen dreieinigen Gottes ist aus der Anordnung und Farbgebung der einzelnen Teile herauszuspüren.

In ehrfurchtsvoller Distanz, fernab von allen an Menschen und die Schöpfung erinnernden Symbolen „schwebt“ zentral auf einem blauen Grund ein goldener Ring: Symbol für den einen ewigen Gott, seine Herrlichkeit, seine Liebe, seinen Bund mit den Menschen. Dieses Mittelfeld lebt durch die diagonale Schattierung, die an einen Nachthimmel denken lässt. So unbegreifbar Gott auch ist, dem Gläubigen offenbart er sich als naher Gott – und nicht nur in dunklen Zeiten – als sinnstiftendes und Orientierung gebendes Licht (vgl. Ps 23; Joh 8,12 u.a.).

Die Seitenflügel sind symmetrisch aufgebaut. Das untere Drittel bedecken abstrakte Formen, die mit pastoser Farbe aufgetragen worden sind. Sie vermitteln Chaos, Unruhe und geschäftiges Treiben und verweisen damit auf das vielgestaltige Leben auf der Erde. Über diesen bunten Andeutungen sehen wir eine feurig rote, ruhigere Fläche mit symbolischen Hinweisen.

Links ist eine Schale zu erkennen, in der ein Feuer brennt. „IGNIS – Feuer“ steht seitenverkehrt daneben, wie von hinten auf die Leinwand geschrieben. Darf es als Feuer des Glaubens gelesen werden, als Zeichen für den Glauben, der von den Gläubigen im Credo gemeinsam bezeugt und gleichsam über ihren Köpfen hoch und heilig gehalten wird?

Daneben ein Hinweis auf Lukas 10,22 oder / und 23: „… niemand weiß, wer der Sohn ist, nur der Vater, und niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.’ Jesus wandte sich an die Jünger und sagte zu ihnen allein: ‚Selig sind die, deren Augen sehen, was ihr seht. Ich sage euch: Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und wollten hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört.’“ Die torähnliche Form ∏ darüber mag Jesu Wort in Erinnerung rufen, das er über sich gesagt hat: „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden … und Weide finden.“ (Joh 10,9)

Unser Glaube basiert auf der Offenbarung durch Jesus Christus, der durch den Heiligen Geist Mensch geworden ist. Die Menschwerdung hat der Künstler auf dem rechten Seitenflügel in einem rosafarbenen „Lichtstrahl“ dargestellt, der nach unten immer stärker wird. In der oberen Hälfte wird er kaum wahrnehmbar durch einen schwachen Schriftzug gekreuzt und dadurch zum Kreuz. INCARNATUS ist von rechts nach links zu entziffern. Nur weil Gottes Sohn Mensch wurde und sich als solcher offenbarte, konnte er Anstoß erregen und gekreuzigt werden. Daran erinnern auch die beiden als Pendant zum Torbogen auf der linken Seiten stehenden Nägel.

Im Unterbau dieses „Flügelaltars“ verweisen sieben Fackeln auf die sieben goldenen Leuchter, die der Seher Johannes als Symbole für den Glauben der sieben Gemeinden in der heutigen Westtürkei sah (Offb 1,12 sowie die ermahnenden Worte an die Gemeinden in den Kapiteln 2-3). Sie brennen wie Kerzen vor dem Allerheiligsten – Seine einzigartige und heilige Gegenwart bezeugend. Diese Tafel ist vom Wort „EST – ist/sein“ geprägt. Es kann in Verbindung mit dem obigen INCARNATUS als INCARNATUS EST gelesen werden, betonend, dass er durch den Heiligen Geist in Maria Fleisch angenommen und Mensch geworden ist (Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine, et homo factus est).

Dieses EST kann aber ebenso auf uns und unseren Glauben bezogen werden. Erst wo der Glaube in uns Gestalt annimmt, Christus durch den Heiligen Geist in UNS Fleisch angenommen hat (Gal 2,20) und wir durch die lebendige Gottesbeziehung wahrhaftig Menschen geworden sind, gelangen wir doch zum wirklichen Sein und Leben. Die vielen X in den bunten Formen der Seitenflügel könnten ebenfalls dies bedeuten: Christi Menschwerdung vollendet sich dort, wo Menschen den christlichen Glauben annehmen und sich auf den einen dreifaltigen Gott taufen lassen. Christi Menschwerdung vollendet sich dort, wo Menschen aus dem Glauben heraus und in der Kraft des Heiligen Geistes wie Jesus Christus leben und handeln.

 > geschlossener Zustand

Den ganzen 5-teiligen Missa-Zyklus finden Sie im 57-seitigen Buch „Missa“ von Uwe Appold abgebildet (Juli 2005, ISBN 3761619731, Euro 15,-).

Veränderungen

„Aus dem Dunkel bricht ein glühender Feuerball hervor und verströmt ein intensiv leuchtendes Licht. Wie von einer schützenden Schale wird das lodernde Feuer halbkreisförmig umfangen. Reliefartig hebt sich die Farbe vom Bildgrund ab und kommt auf den Betrachter zu. Dieser Eindruck steht im Wechsel mit einer Sogwirkung, die den Blick in die Tiefe des Bildraumes lenkt. Helmut Schober versteht seine Malerei als Darstellung von Energie und Licht, deren Erscheinungen er in immer neuen Facetten Ausdruck verleiht. So erinnert der glühende Feuerball an kochendes vulkanisches Gestein, das sich als Lava ergießt. Vorstellbar ist jedoch auch ein kosmisches Ereignis in den unendlichen Dimensionen des Weltalls. Entsteht hier vor unseren Augen ein Gestirn aus leuchtenden Gas- und Staubwolken, dessen Licht in den umliegenden dunklen Weltraum hineinstrahlt?

‚Der Geist des Herrn’, heißt es in einem Kirchenlied (GL 249), ‚erfüllt das All mit Sturm und Feuersgluten’ – diese spirituelle Vorstellung nimmt vor der Malerei von Helmut Schober Gestalt an und lässt das Gedachte zum lebendigen Bild werden. Evokationen an Licht- und Feuererscheinungen, wie sie in der Bibel geschildert werden, schließen sich an: das Pfingstwunder, die Ausschüttung des Heiligen Geistes, der auf die Apostel herabkam und ihr Leben durch Mut und Glaubensstärke veränderte (vgl. Apg 2). Auf dynamische Vorgänge spielt auch der Bildtitel ‚Veränderungen’ an. Diese werden als Prozesse des Glühens, des Aufbrechens und des Verschmelzens visualisiert, offenbaren in der Betrachtung jedoch das Potential einer spirituellen Tiefe, die über das Sichtbare hinausführt.“

Die Betrachtung von Frau Sabine Sander-Fell (IM DIALOG, Zeitgenössische Kunst in Pax Christi Krefeld, 2004, S. 46-47) auf der spirituellen Ebene fortführend, kann das halbkreisförmige Rund auch als großes C gelesen werden, das auf Christus Jesus hinweist, der die ganze Schöpfung umfängt, trägt, bewahrt (vgl. Kol 1,15-20). Wie ein Herz leuchtet die rote Erscheinung in der Mitte dieses göttlich-menschlichen Lebensraumes: Geschützt und doch mit Öffnungen versehen, damit sein feuriger Lebensatem aus der Tiefe aufsteigen und sich über die ganze Welt ausbreiten kann. Die roten Schattierungen, die wie Wellen über die Bildoberfläche wogen, deuten auf die Wärme der göttlichen Liebesglut hin, die als heißer Atem die erloschenen Glaubensfeuer sorgsam wieder zu entfachen und zu beleben vermag.

Dieser glühend roten Mitte wohnt eine gewaltige Kraft inne. Es erinnert an die zerstörerische Macht des Feuers, an die Explosionen und Kriege, die unsere Welt und unsere Herzen erschüttern und auch das Ende der Welt ins Blickfeld rücken. So gesehen kann das Bild bedrohlich wirken und Angst machen. Es kann aber auch die Bitte um den göttlichen Beistand auslösen, „den Geist der Weisheit und der Einsicht, den Geist des Rates und der Stärke, den Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht“ (Jes 11,2), damit wir mit Mensch und Umwelt richtig umgehen können und es eben nicht zu einer Katastrophe kommt.

Übrigens: Je dunkler der Raum wird, in dem das Bild hängt, um so mehr leuchtet die rote Farbe! Ob auch darin ein Bild für den Heiligen Geist gesehen werden darf, der in unserer Mitte um so mehr aufleuchtet, als uns die Lebenssituation bedrückt und einengt? Das Bild veranschaulicht gewissermaßen, wie Gott mit der schöpferischen Kraft seines Geistes, die Veraltetes auseinanderfallen und Neues entstehen lässt, in den Menschen gegenwärtig ist, sie von innen her verändert, aufbrechen und neue Wege beschreiten lässt. – Weil sie Seine Kraft und Führung erfahren, aber auch die Geborgenheit in Ihm.

Die Broschüre IM DIALOG, Zeitgenössische Kunst in Pax Christi Krefeld mit vielen Abbildungen und hervorragenden Beschreibungen zu den 33 Kunstwerken kann für Euro 3,50 + Porto im Pfarrbüro bestellt werden: pfarrbuero@pax-christi-gemeinde-krefeld.de

Vertrauen – Verwandlung

Die Thematik dieses Bildes ist mit den römischen Schriftzeichen LK XXIII, XLVI und den großen Buchstaben PATER, IN MANUS TUAS eigentlich klar auf die Leinwand geschrieben. Sie verweisen auf die letzten Worte Jesu im Lukasevangelium: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist“ (Lk 23, 46).

Doch weder ein Kreuz noch ein Gekreuzigter sind zu sehen. Stattdessen eine lichtvolle Erscheinung, die aus einer rechteckigen Form in einen wie von Flammen erfüllten Himmel aufzusteigen scheint. Ebenso erregen eine gelbe Senkrechte im unteren Bereich, ein roter Balken am oberen Bildrand, zwei gemalte Nägel, zwei spiegelverkehrt geschriebene Worte sowie zwei am rechten Bildrand gezeichnete Kreuze die Aufmerksamkeit. Die verschiedenen Zeichen sind in eine fast rechteckige Form eingebettet, deren Seiten im oberen Teil leicht hervorstehen und dadurch ein T-förmiges Kreuz andeuten. Es geht also wohl um die Kreuzigung.

Erinnert die fleischfarbene pastose Form rechts unten nicht an einen menschlichen Körper, der durch einen roten Punkt als Verwundeter gekennzeichnet ist? Die violette Farbe lässt noch das Leiden spüren, dem er ausgesetzt ist. Aber seine Form lässt an einen Baumstumpf denken, dem Zeugen und Überbleibsel eines einst mächtigen Baumes. Alles Leben ist aus ihm gewichen, so scheint es. Doch in Anlehnung an das Heilswort von Jesaja 11,1 wächst zärtlich etwas Neues, etwas wie ein Trieb oder auch ein Gebäude aus diesem Baumstumpf hervor. Dieses nur bei genauem Hinschauen Sichtbare ist von einer wunderbaren Lichterscheinung umgeben und in eine nochmals neue Gestalt überführt. Eine Andeutung auf die Kirche, die aus ihm entstanden ist?

Es ist, als würde der Körper den Worten folgen, die Jesus voll Vertrauen am Kreuz gebetet hat und die sich bereits im feurigen Rot des Himmels verlieren. Die väterliche Liebe ist der Halt, an dem sich Jesus festhält. Dafür könnte der rote Balken stehen, der das Bild am oberen Bildrand horizontal durchquert. Unmittelbar darunter steht mit PATER, IN MANUS TUAS der Anfang der letzten Worte, die Jesus aus der größten menschlichen Tiefe gleich einem Rettungsanker betend zu seinem Vater im Himmel hinaufgeworfen hat: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“

Das Vertrauen erschließt sich aus dem zweiten Teil dieses Psalmverses (31,6), in dem es heißt: „… du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott.“ Der lanzenförmige Lichtstrahl, der nach unten immer stärker wird, mag die erlösende Gnade Gottes darstellen, assoziiert aber auch einen leuchtenden Hirtenstab, der dem gegeben wird, der durch die dunkle und verlassene Schlucht gehen muss: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“ (Ps 23,4) Oder leuchtet in dieser gelben Linie gar als Zeichen des Sieges das verherrlichte Kreuz auf, dessen Querbalken mehr erahnbar als sichtbar ist?

Auch die zwei rostigen Nägel, die zur Hälfte über einem Kreis liegen und sich durch ihren Schatten geheimnisvoll von der Leinwand abheben, scheinen über die Kreuzigung hinausweisen zu wollen. Ihre leichte Krümmung lässt ein J und ein C in ihnen erkennen, die Anfangsbuchstaben von Jesus Christus. Oberhalb und unterhalb von ihnen sind ebenso mysteriös „tse“ und „mudrev“ der Leinwand eingeschrieben, was spiegelverkehrt als EST VERBUM lesbar ist. Diese Botschaft ist uns von der „anderen Seite“ gegeben und sichtbar gemacht worden. Jesus IST das WORT, das von Anfang an bei Gott war und in die Welt gekommen war, um allen Menschen Licht zu sein (Joh 1,2-3.9).

Auch wenn Jesus nach den letzten Worten den Geist ausgehaucht hatte, der ihm von Beginn seiner Menschwerdung und explizit bei seiner Taufe gegeben war (Lk 3,22), bleibt sein Wort bestehen. So luftig und transparent die Farben aufgetragen sind, so lebendig und feurig werden sie – wie er selbst gesagt hat – weiterwirken: „Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen.“ (Joh 5,24)

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Bereit

Mosaikartig gruppieren sich die verschiedenen Farbfragmente um die goldene Mitte. Über den erhöhten Rahmen fließen sie gleichsam in die Tiefe des zurückversetzten Mittelfeldes hinein.

In seiner Erscheinung und durch die Verwendung der kostbaren Naturpigmente erinnert das Bild an die Ikonen der Ostkirche. Nur sind in diesem Bild keine biblischen Szenen zu erkennen. Die Künstlerin blieb abstrakt. Dennoch … die Kraft der Farben wirkt im Kontrast zum Goldgrund und der perlenweißen Kontur, die sich in einem großen malerischen Gestus durch das Mittelfeld des Feldes zieht.

Die Farben und Formen deuten an, lassen vor dem geistigen Auge Bekanntes erscheinen und verhüllen es gleichzeitig geheimnisvoll (vgl. 2 Kor 13,12). Der weiße Pinselstrich lässt die Silhouette eines Kopfes im Seitenprofil sehen. Das Kinn leicht erhoben, schaut die Person nach rechts. Vom goldenen Grund durchdrungen scheint ihr Blick gar in die Ferne zu schweifen.

Eine Sehnsucht nach Hinwendung spricht aus den Farben und aus dieser Kopfhaltung. Eine Sehnsucht, sein Leben Gott, für den die goldene Farbe Symbol sein kann, hinzugeben, damit er es mit seiner Gnade füllen kann. Der Psalmist schreibt: „Mein Herz ist bereit, dein Gesetz zu erfüllen bis ans Ende und ewig.“ (Ps 119,112) Ein solches, von Gott durchdrungenes Leben wäre dann gewissermaßen vergoldet, erfüllt, geglückt. Strahlt sein Mund nicht ein zufriedenes Lächeln aus?

Wie als Antwort taucht aus dem vom weißen Pinselstrich eingerahmten Goldgrund ein weiteres Gesicht auf, das in die Gegenrichtung aus dem Bild herausschaut. Sind es die Augen, die Nase, der Mund des Auferstandenen, die uns barmherzig aus Gottes Herrlichkeit heraus anschauen, unserer Sehnsucht begegnend und ihr Halt und Ziel gebend?

Dieses Bild schenkt Zuversicht: Wir sind auf unserem Erdenweg nicht allein. Aus dem Bild spricht eine malerische Übersetzung der wunderbaren Worte, die Paulus zur Ermutigung an die Römer (8,18-19.22-30) schrieb: „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. … Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld. So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können. Und Gott, der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist: Er tritt so, wie Gott es will, für die Heiligen ein. Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die nach seinem ewigen Plan berufen sind; denn alle, die er im voraus erkannt hat, hat er auch im voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei. Die aber, die er vorausbestimmt hat, hat er auch berufen, und die er berufen hat, hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.“

Durchbruch

Bewegung durchzieht das Bild in alle Richtungen. Sie verbindet kommunizierend das unten Liegende mit dem luftig Leichten im oberen Bereich und vollzieht sich in Leserichtung durch den Farbwechsel zum Licht. Die Mitte wird durch die gelbe Lichterscheinung betont, die von oben hereinzubrechen scheint.

Das Bild vermag den Tagesanbruch anzusprechen, bei dem das Licht siegreich aus dem Kampf mit der Dunkelheit hervorgeht. Dabei verdankt das Licht seine Kraft der Macht der Sonne. Letztlich ist sie es, die mit ihren Strahlen die Erde zärtlich berührt und aus dem Schlaf zu neuem Leben erweckt.

Liegt am Boden nicht eine menschliche Gestalt? Das Erdhafte, das auf oder im Boden Liegende, wird tornadoartig über eine kreuzförmige Himmelsleiter in die Höhe gerissen. Jakobs Traum (Gen 28,12-22) von der Treppe, die Erde und Himmel miteinander verbindet, wird sichtbar. Gott steht zu den Seinen, auch wenn sie sich in der Dunkelheit der Sünde oder des Todes zu verlieren scheinen. Gott steigt zu den Menschen hinab, um sie zu erlösen und durch seinen eigenen Kreuzesweg zum ewigen Leben zu führen.

So finden sich Jesu Tod und Auferstehung ebenso in diesem Bild wie seine Worte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“ (Joh 11,25-26) Diese Botschaft scheint das Kreuz in schlangenförmige, tanzende Bewegung zu versetzen und bringt Freude zum Ausdruck. Es ist nicht mehr Ort des Todes, sondern durch Jesus Durchgang zum ewigen Leben. Nach wie vor verbinden sich mit ihm dunkles Leid, Einsamkeit, irdisches Sterben. Durch Jesu Auferweckung von den Toten ist aber der Sieg über Sünde und Tod untrennbar mit dem Kreuz verbunden. Gottes Liebe hat den Durchbruch geschafft und neues, ewiges Leben für alle Glaubenden ermöglicht.

Noch sind die Spuren des Kampfes deutlich zu sehen: Das Durcheinandergewirbelte, Fragmentarische in der Bildmitte, das auch an Jakobs nächtlichen Kampf mit Gott erinnern mag, mit dem er rang, „bis die Morgenröte aufstieg“. Durch die Hüftverletzung lebenslang geprägt, ging er lebend aus dieser Gottesbegegnung „von Angesicht zu Angesicht“ hervor (Gen 32,25-31). Doch die Kraft von oben nimmt überhand und verwandelt übermächtig das ganze Geschehen. Das Kreuz darf vor Freude tanzen: Das Leid und der Tod sind überwunden, die Liebe und das Leben haben die Macht des Bösen und der Sünde gebrochen, durchbrochen, besiegt.

Dem Kreuz gegenüber steht eine lichte Säule. Sie erinnert einerseits an die Wolkensäule, die mit den Israeliten durch das Rote Meer zog und sie rettete (Ex 13,21-14,31), andererseits rückt sie den neuen, aufgerichteten Menschen ins Blickfeld. Wurzelt sie nicht am gleichen Ort wie die „Füße“ der liegenden Gestalt? Wir sind zum Licht berufen (Mt 5,14). Durch Christus leben wir. Unser Leben soll ganz und gar transparent auf IHN hin sein (vgl. Gal 2,20 „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“), damit ER durch uns sprechen kann.

Auferstehung

Ein ungewöhnliches Bildformat begegnet uns in dieser „Anastasis“ von Rainer Jochims. Das Bild ist aus dem rechten Winkel heraus leicht rechts nach oben zu einem Parallelogramm verschoben. Die unteren Ecken sind gerundet, in der Oberkante sind zwei große Einbuchtungen herausgebrochen. Dadurch wirkt diese Kante grob und unfertig, behält mehr von dem, was sich an ihr ereignet hat und wodurch sie seither geprägt wird.

Spürbar will das Werk etwas von dem ihm eingeschriebenen Geheimnis weitergeben. – Doch was ist seine Sprache, was will es uns sagen? – Eine gewisse Ratlosigkeit kann sich breit machen. Es bleibt ein Staunen, aus dem heraus tastende Annäherungen hervorgehen.

Deutet nicht das nach rechts ansteigende Bildformat bereits eine Aufwärtsbewegung an? Auch die Farben werden nach oben heller. Das ruhige Rostrot im unteren Bereich löst sich nach oben gleichsam in gelben Farbtönen auf. Auch kommt von unten nach oben immer mehr Bewegung in die Strichführung hinein. Mit allen Mitteln werden wir zu den beiden geheimnisvollen, rundlichen Einbrüchen am oberen Bildrand hingeführt.

Sie erinnern mich an Fußabdrücke, wie sie auf manchen Himmelfahrts-Ikonen zu sehen sind: Hier stand eben noch Jesus, nun ist er in den Himmel aufgefahren. Durch den weißen Bildhintergrund könnten die Aussparungen tatsächlich als die Füße dessen gesehen werden, der durch seine Worte, Taten und insbesondere durch seine Auferstehung das „Licht der Welt“ geworden ist. So gesehen wäre das Kunstwerk der Boden, der Ausgangspunkt der Auferstehung, auf dem ER seine Spuren hinterlassen hat. Insofern wäre es richtig, wenn unser Blick über das Sichtbare hinaus auf das Unsichtbare und damit Unfassbare außerhalb des Bildes gelenkt wird. ER ist auferstanden!

Dennoch ziehen in der Bildmitte weißliche Aufhellungen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Unser Blick wird in die Tiefe geführt und kann im unfigürlichen, doch bewegten Farbfeld verweilen. Die warmen Farben geben Erinnerungen Raum und Geborgenheit: Erinnerungen an das Leben und Wirken von Jesus, aber auch an eigene Begebenheiten, in denen wir „Auferstehung“ erlebt und im Glauben auch bergende Aufnahme im Himmel erfahren haben.

Verkündigung

Im Schnittpunkt von zwei Kreisformen begegnen sich zwei menschliche Gestalten. Die linke Gestalt muss ihren Flügeln nach ein Engel sein, die rechte der Haltung nach Maria, die sich kniend dem Willen Gottes beugt: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38).

Die Begegnung findet nicht mehr in einem Haus statt. Als Heimat Mariens wird hier die Erde bezeichnet. Als lichte Gestalt ragt sie aus der grau-schwarzen Oberfläche heraus. Durch ihre Unschuld und Reinheit von Sünden nimmt Maria eine herausragende Position ein. Sie, die Unbefleckte, wurde von Gott auserwählt, den „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32) zu empfangen, den „Retter der Welt“ (Joh 4,42; 1Joh 4,14).

Die Verkündigung an Maria findet so am Schnittpunkt von Himmel und Erde statt. Der Bote des Himmels überbringt der Vertreterin des Erdengeschlechts die frohe Botschaft, dass Gott seinen Sohn unter den Menschen groß werden lassen will. Dazu wird er Maria mit Seinem Heiligen Geist überschatten (Lk 1,35). Wunderbar hat der Künstler den Geist Gottes als bewegte, goldgelbe Kreisform dargestellt, wodurch nicht nur Gottes Herrlichkeit und Unendlichkeit angesprochen werden, sondern auch seine beschützende, rettende und Leben schaffende Kraft.

Von oben, von außerhalb des Bildes in die wahrnehmbare Bild-Welt einfließend, umgibt die immaterielle Energie Maria und den Engel wie ein Heiligenschein und vermittelt theologisch richtig, dass der Sohn durch die Menschwerdung die göttliche Dreifaltigkeit nicht verlässt, sondern in Ihrer Mitte bleibend in Maria die Natur und das Wesen von uns Menschen annimmt. Maria bildet so eine Art Brücke, auf der Jesus zu uns Menschen kam.

Den Weg von Jesus scheint eine feine gelb-weiße Linie anzudeuten. Sie entspringt dem leuchtenden „Wolkenbogen“ des Heiligen Geistes und kreist spiralförmig im Engel wie in Maria, um anschließend den Erdball zu umrunden. So sehr der Heilige Geist Maria überschattet und sie mit dem Engel zusammen umgibt, so sehr erfüllt er auch den Botschafter wie die Empfängerin. Wie der Heilige Geist den Engel zu Maria bewegt hat, bewegt Er Maria und lässt sie fruchtbar werden.

Was mit Maria geschah, ist und bleibt einmalig. Doch Gott möchte in jedem von uns Mensch werden, jeden von uns mit seinem Heiligen Geist erfüllen. Insofern richtet sich die Verkündigung nicht nur an Maria, sondern an jeden von uns! Die universelle Botschaft bringt der norwegische Dichter Svein Ørnulf Ellingsen in einem vom Magnifikat inspirierten Text in poetischen Worten zum Ausdruck:

Gottes Lob wandert und Erde darf hören.

Einst sang Maria , sie jubelte Antwort.
Wir stehn im Echo der Botschaft vom Leben:
Den Herrn preist meine Seele.
Ich freue mich, dass er mein Retter ist.
Der Hohe schaut die Niedrige an.
Halleluja, Halleluja.

Wunder der Wunder: Für uns wirst du Mensch, Herr!
Lass doch das Lied, das Maria uns lehrte,
Brücke der Freude sein, die uns zu dir führt.
Den Herrn preist meine Seele.
Ich freue mich, dass er mein Retter ist.
Er denkt an uns, hilft Israel auf.
Halleluja, Halleluja.

(Kath. Gesangbuch der Schweiz, Nr. 762, 1.+3. Strophe)

Versöhnung

Tatsächlich, die sich vom Hintergrund nur leicht abhebende Gestalt auf dem fast monochrom gestalteten Bild muss Jesus sein. Auch wenn kein Kreuz zu sehen ist, verrät die Körperhaltung seine Kreuzigung. Fast wie bei einem Röntgenbild ist seine Gestalt in ein mystisches Licht getaucht, in dem einzelne Körperpartien in helleren Farbtönen aufleuchten.

Das Leid und der Schmerz sind zu spüren, ebenso die Einsamkeit Jesu. Kein weiteres Lebewesen ist auf dem Bild zu sehen. Eine außerordentliche Stille und ein alles übersteigender Frieden gehen von Jesus aus und lassen ehrfürchtig an seine letzten Worte denken: „Es ist vollbracht!“ Danach neigte Jesus sein Haupt und gab seinen Geist auf. (Joh 19,30)

Das Werk des Vaters ist vollbracht. Jesus hat durch sein Opfer den Menschen Heil und Rettung gebracht. Das quadratische Format mag auf die Welt hinweisen, die störende und irritierende Zweiteilung, die längs durch den Körper läuft, ruft in Erinnerung , dass Jesus durch seinen Kreuzestod Menschen und Welten, die einst durch Feindschaft voneinander getrennt waren, wieder miteinander verbunden hat. Paulus schreibt an die Gläubigen in Ephesus (2,12-16): „Damals wart ihr von Christus getrennt, der Gemeinde Israels fremd und von dem Bund der Verheißung ausgeschlossen; ihr hattet keine Hoffnung und lebtet ohne Gott in der Welt. Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, durch Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen. Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder. Er hob das Gesetz samt seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in seiner Person zu dem einen neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet.“

Bleibt in unserer Bildbefragung noch die Bedeutung der mystisch grünen Farbe zu ergründen, die durch zahlreiche Schattierungen von Leben erfüllt ist und im Wechsel mit den schwarzen Flächen an das Licht- und Schatten-Spiel eines großen grünen Feuers erinnert, in dessen Licht sich die bevorstehende Auferstehung anzukündigen scheint.

Mit der grünen Farbe möchte der Künstler aber vor allem einen Bezug zu den Gärten (polnisch „Ogrody“) mit ihren Gräsern, Blumen und Blättern herstellen. In ihnen wird uns im jährlichen Wechselspiel von Werden und Vergehen unsere Vergänglichkeit vor Augen geführt (vgl. auch Ps 102,12; 90,5-6). Mit dem Garten verbunden ist aber auch unsere Sehnsucht nach dem (verlorenen) Paradies. Im Orgrody-Grün wird Jesu Verkündigung vom Reich Gottes angesprochen. Darin lässt der Künstler die Dimension der Versöhnung anklingen, wie sie dem gottesfürchtigen Verbrecher am Kreuz auf seine Bitte hin geschenkt worden und uns allen verheißen ist. Der gute Schächer sagte: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ Und Jesus antwortete ihm: „Amen ich sage dir: Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,42-43)

Begegnung

Halb verdeckt von Farbflächen, Pinselstrichen und Bleistiftlinien schweift unser Blick wahrscheinlich zuerst auf den leicht geneigten Menschenkopf im Hintergrund. Unschwer lässt sich an seinen Gesichtszügen das Haupt einer gotischen Christusgestalt erkennen. Aus welchem Zusammenhang es jedoch extrahiert worden ist, lässt sich durch die Isolierung und malerische Verfremdung nicht sagen.

Wesentlich scheint der Blick, mit dem Jesus durch das Liniengewirr hindurch dem Betrachter eindringlich in die Augen schaut. Das Leid ist zu spüren, das er aushalten muss, ebenso das Kreuz auf seinen Schultern, das in der Diagonalen unter seinem Kopf angedeutet ist. Arnulf Rainer hat das Jesus zugefügte Leid in einer gestischen Aktion malerisch umgesetzt: Zuerst wurde er von ihn mit dem Pinsel und mit Stift „gegeißelt“, bis sein Gesicht mit Striemen gezeichnet und sein Haupt mit einem Liniengeflecht gleich einem Dornenkranz gekrönt war (Mk 15,17-19). Dann hat er mit seiner Hand gelbe und dunkelrote Farbe so aufgetragen, dass er damit dem Abbild des Gekreuzigten heftige Hiebe versetzte. Die triefenden Farbspuren legen Zeugnis ab, dass der Künstler ihm mit vollen Händen „eins ausgewischt“ hat. Dick wie verklebtes Blut ist die Farbe unter seinem Gesicht eingetrocknet, während die gelben Farbspuren wie zwei Leuchten links und rechts von seinem Angesicht erscheinen: Nichts beschönigend, aber erinnernd und mahnend als ein ehrendes Zeichen für denjenigen, der für seinen Glauben an Gott und an uns Menschen gestorben ist.

Die dem Werk zu Grunde liegende Fotografie hat der Künstler auf einen Karton aufgezogen. Durch die Übermalungen sind ihre Ränder hervorgehoben und lassen das Rechteck wie ein Fenster in eine andere Welt erscheinen. Es ist, als ob die Übermalung diesseits bliebe und dem heiligen Gesicht nichts anhaben könnte. Viele Christus-Übermalungen hat Rainer auf einem kreuzförmigen Träger durchgeführt. Hier ist das Grundformat jedoch rechteckig. Allerdings hat er den Christus-Kopf in eine Kreuzform integriert. Die beiden gelben „Figuren“ bilden die Außenseiten des stehenden Balkens, die Unterkante der Fotografie zeichnet die Unterkante des Querbalkens, während zwei in der Mitte des Gesichts seitlich vorstehende Elemente den Querbalken oben abschließen.

So gesehen ist dieses Bild wie ein Zeitfenster, das uns zu Zuschauern des Leidens Jesu Christi macht und uns an die Seite von Simon von Zyrene, seiner Mutter Maria oder Veronika stellt, die ihm das Schweißtuch gereicht hat.

Nun begegnet er mir und scheint mich schweigend zu fragen: Wie willst Du bei meinem Anblick reagieren? – Im Augenblick haben wir vielleicht Mitleid und wollen ihm beistehen. Nichts läge uns ferner als ihn wie die Soldaten mit Peitsche und Stöcken zu schlagen oder wie der Künstler mit Farbe und Bleistift zu malträtieren. Aber wer von uns ist schon ohne Schuld? Können vernichtende Gedanken und Worte über andere Menschen (vgl. Mt 25,40.45) oder die bewusste Missachtung und Verletzung der Schöpfung nicht auch wie Peitschenhiebe wirken, entstellen und Leid verursachen?

„Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last;
Ich hab’ es selbst verschuldet, was du getragen hast.
Schau her, hier steh’ ich Armer, der Zorn verdienet hat;
Gib mir, o mein Erbarmer, Den Anblick deiner Gnad’!“

4. Strophe aus „O Haupt voll Blut und Wunden“

Kreuzauflegung

Weiß und wie eine Wolke, in den Konturen luftig zerzaust schwebt das Kreuz in diesem rot-gelben Bildraum. Links unter ihm eine mit gelben Linien skizzierte Menschengestalt. Über dem Kreuz helle Lichtpunkte, die an einen Sternenhimmel denken lassen, und eine rosafarbene Wolke.

Mit diesen wenigen Angaben lässt sich das Geschehen schwer einem Ort oder einer Zeit zuordnen. Außer dem Menschen gibt es keine irdischen Anhaltspunkte. In gewisser Weise ist dem Geschehen der Boden entzogen worden, spielt sich die Szene irgendwo im kosmischen Weltenraum ab. Nur der rot leuchtende Nebel bildet in der raum- und zeitlosen Weite ein äußerst vergängliches Gewand und einen minimalen Sichtschutz für das schändliche Vorgehen: Dem Mensch gewordenen Sohn Gottes wird das Kreuz aufgebürdet, damit er es zur eigenen Folterstätte trage und dort an ihm den Tod erleide.

Die blutrote Kulisse und die weiße Kreuzform mögen auf die Passion hinweisen. Doch wer mag die Gestalt unter dem Kreuz sein, und wieso ist das Kreuz leuchtend weiß, und leicht und schwebend wie eine Wolke dargestellt? Zum Verstehen des Bildes ist die Bilderfolge des Kreuzweges wichtig, in der es sich befindet. Aus ihr geht hervor, dass der Künstler Jacques Gassmann den Kreuzweg aus der Sicht von Jesus gemalt hat. Beim Malen nahm zuerst der Künstler Jesu Sichtweise an. Nun stehen wir Betrachter an seiner Stelle und werden durch die Bilderfolge in den Leidensweg von Jesus hineinversetzt.

So sehen wir unter dem Kreuz den einen Menschen stellvertretend für alle Menschen, die ihm vor Wut glühend zurufen: „Ans Kreuz mit ihm!“ (Mt 27, 22f) Das schwebende Kreuz mag andeuten, dass Gott es zugelassen hat, dass die Menschen seinem Sohn das Kreuz aufgelegt haben (Mt 26,39.42). Weil es Gottes Wille ist, kann das Kreuz als geistige Last gesehen werden, die von „oben“, also von Gott her gegeben ist.

Umgeben vom „Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28), mag das lichte Kreuz auf die Unschuld und die Reinheit von Jesus hinweisen, wie sie im Hebräerbrief (7,26) beschrieben ist: „Ein solcher Hoherpriester war für uns in der Tat notwendig: einer, der heilig ist, unschuldig, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel.“

Von dieser Kreuzauflegung am Anfang der Passion Jesu Christi geht unser Blick letztlich bereits zum Ende des Kreuzweges. Das an diesem Kreuz vergossene Blut wird alle Menschen, die sich gläubig unter das Kreuz stellen und um Vergebung bitten, überströmen und Versöhnung und Heil schenken. So gesehen kann die gelbe Farbe des Menschen auch so interpretiert werden, dass er unter dem Kreuz zum Glauben gekommen ist (vgl. Mt 27,54) oder wie der weise Simeon beim Anblick des Gottessohnes Segen erfahren hat: „… meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel“ (Lk 2,30-32).

Nachfolge

Weiß-grau hebt sich das zentrale Bildereignis vom gelbroten Hintergrund ab. Menschliche Konturen sind zu erkennen, ein großes Auge, die Umrisse einer orthodoxen Kirche. Farblos erscheinen die Formen, unerfüllt, sie geben sich als leere Räume, die erst gefüllt werden müssen.

Durch die breite, grau schraffierte Fläche scheint die menschliche Gestalt sich nach links zu bewegen, der Kirche zugewandt. Wie bei einem gesprungenen Ei durchzieht eine gezackte Linie die menschliche Form – die durchaus auch für seine Seele stehen könnte – von oben nach unten und signalisiert Erschütterung, Zerrissenheit, vielleicht auch Aufbruch. Der rechten Seite nach zu schließen, ist ein Teil von ihr weggebrochen und hat eine tiefer liegende Schicht freigelegt, die in Verbindung mit der Kirche steht und von der diagonalen, schraffierten Fläche dominiert wird.

Was diese wie ein Berg ansteigende und an eine Felsoberfläche erinnernde Fläche wohl zu bedeuten hat? Gleichzeitig ergeben die sich kreuzenden Linien eine Gitterstruktur und lassen darin ein Netz erkennen. Könnte damit die Berufung des Petrus angesprochen sein, der vom Fischer zum Stellvertreter Christi auf Erden berufen worden ist? „Kommt her, folgt mir nach!“, sagte Jesus zu ihm und seinem Bruder Andreas, „Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ Worauf beide die Fischernetze liegen ließen und ihm nachgefolgten. (Mt 4,19-20)

Später sagte Jesus zu ihm: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ (Mt 16,18; vgl. Joh 4,42) Ein großer Auftrag, den Jesus dem einfachen Fischer anvertraute. Aber baut Gott letztlich nicht auf jeden von uns seine Kirche? Soll nicht bei jedem von uns der Glaube an Ihn so fest und widerstandsfähig sein wie Gestein? Sind wir nicht alle berufen, Zeugnis von unserem Glauben zu geben und als Menschenfischer für unseren Gott tätig zu sein?

Das Bild von Wolfgang Franken könnte also ein Bild jedes einzelnen von uns sein. Ein Bild der Berufung, bei der es gilt, „Farbe zu bekennen“ und dadurch viel leeren Platz aufzufüllen. Ein Bild der Erschütterung und der Zerrissenheit, die mit jedem Anruf Gottes einhergehen, weil er aus der vertrauten und dadurch oft auch bequemen Welt aufbrechen heißt, und das zudem mit dem anspruchsvollen Auftrag, sein Wort zu leben und zu verkünden, damit die kirchliche Gemeinschaft lebt und wächst. Zu guter Letzt könnte es auch ein Bild der Verwandlung sein. Wer Christus nachfolgt, wird zu einem neuen Menschen. Die goldene Fläche hinter dem Kopf lässt mit ihrem Glanz und ihrer Kostbarkeit an Gott denken, der rückenstärkend mit seinen Berufenen mitgeht, ihnen „Flügel“ verleiht und durch sie Seine heilige Gegenwart aufleuchten lässt. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“, fasste Paulus seine Erfahrung im Brief an die Galater (2,20) zusammen.