Im Herzen gebor(g)en

Auf einer gerundeten roten Fläche liegt ein Kind. Oder besser gesagt es liegt in einer von Leben pulsierenden Herzform. Wie eine vulkanische Eruption aus der Tiefe der Erde ergießt sich das warme Rot zu dieser Herzform. Die Wärme dieses Herzens wird gesteigert durch eine kalte Umgebung, die genauso an eine Winterlandschaft zu erinnern vermag wie an Tageszeitungen, in denen Neuigkeiten verbreitet werden. Denn auf den Papierfragmenten ist in blauen Großbuchstaben wiederholt JESUS zu lesen und in schwarzen Zahlen 24.12. Alle Welt soll von seiner Geburt hören, alle sollen seinen Namen kennenlernen.

Der Neugeborene ist diagonal in dieses Herz gebettet. Seine Arme und Beine sind angewinkelt, sein Gesicht ist halb verdeckt durch ein Sternfragment mit einem Schweif, das zugleich eine Krone anzudeuten vermag. Links neben ihm liegen weitere leuchtende Objekt, die möglicherweise Geschenke darstellen.

Das Kind wirkt verloren in diesem Herz. Es sind keine weiteren Menschen zu sehen, nicht einmal Maria oder Josef. Allerdings umgibt es auf der rechten Seite ein grau-weißes Band, das sich an drei Stellen zu Gesichtern ausformt. Zum einen auf der Höhe der Hand mit einer vertikalen und einer horizontalen Andeutung, zum anderen zu seinen Füßen in der Ausformung zu einem schwarzen Gesicht mit Knollennase. Dieses wirbelnde Band hat etwas Festliches. Es könnte die drei Weisen aus dem Osten darstellen, die zum Kind kamen, um ihm zu huldigen. Andererseits zieht sich diese grau-weiße Linie wie eine tragische Spur der Zerrissenheit durch das Herz und erinnert an all jene, die dem Neugeborenen nach dem Leben trachteten. Ein schwarzes „Loch“ links neben dem Kind verstärkt diesen unheilvollen Eindruck durch seine Verbindung mit den dunklen Stellen im Band.

Damit verbindet das ambivalente Band die beiden Bereiche des Hintergrundes, auf denen stilisierte braune Sterne bald zu hellen, bald zu dunklen Kreuzen werden. Unmissverständlich weist auch der weiße Judenstern unterhalb des Kindes auf seine Abstammung hin. Wie die Juden im Zweiten Weltkrieg ist dieses Kind gekennzeichnet und – so wie sein Name und das Datum ins Bild eingebracht worden sind – auch abgestempelt: Das ist er, das muss er sein, der neugeborene König der Juden, der Menschensohn, der Sohn Gottes, den der Vater als Kind zu uns Menschen geschickt hat.

Allein, hilflos, ausgesetzt, wie unerwünscht liegt das Kind inmitten dieser eisigen Landschaft. Doch das göttliche Kind ist uns ans Herz gelegt. Es ist uns ins Herz gelegt, damit wir ihm Geborgenheit schenken, es schützen und für es sorgen. Wir sollen Jesus in unser Herz aufnehmen, er will in uns und durch uns zur Welt kommen und Licht in der Welt sein.

Die Schriftzeichen wirken wie Nachrichtenfetzen: Heute ist euch der Heiland geboren. Im Herzen sollt ihr ihn tragen und verehren. Im Herzen sollt ihr ihn wärmen und mit Leben erfüllen, so dass er in euch groß werden kann und ihr durch ihn immer mehr zu Christenmenschen werdet.

Tanzender Stern

Von links oben fliegt dieser Stern in den Bildraum. Er zieht einen geflochtenen Schweif hinter sich her und scheint sich in seiner jetzigen Position aus seiner hellen Mitte gerade voll zu entfalten.

Dies einerseits durch das hellgelbe Licht, das sich über sieben Extremitäten strahlenförmig in alle Richtungen ausbreitet und darüber hinaus die dunkelblaue Nacht verklärt und in warmes Grün verwandelt. Andererseits sprüht der Stern durch die geschwungenen Linien und die feurig-warmen Flächen vor Energie. Sie bedecken ihn wie ein luftiges Kleid und tragen viel zu seiner tanzenden Erscheinung bei.

Fast meint man eine menschenähnliche Fantasiegestalt mit kurzen Beinen und Armen zu sehen, die zudem noch Flügel hat. Wie ein Quirl zwirbelt der Stern durch die Nacht. Doch in ihm ruht das Licht. Kreisrund und ohne wirkliche Begrenzung offenbart es sich als göttliche Gegenwart und Quelle. Der Stern – Lichtträger, Freudenbote, Lebensbringer – von Gott zu uns Menschen.

Prof. Dr. Dr. Ingrid Riedel erklärte in ihrer Ansprache anlässlich der Vernissage zur Ausstellung „LEBENsFARBEN“ (Kloster Hegne, 30.11.2014), dass die diagonale „dynamische Achse eine Bewegung vom Symbolraum des Väterlichen – links oben – zu dem des Mütterlichen hin – unten, mehr rechts – darstellen kann, wobei bei religiösen Themen diese Achse auch aus der Richtung der Transzendenz – der des väterlichen Gottes – her kommen kann. Von dort her käme also der tanzende Stern mit seinem wundersam geflochtenen Schweif aus Gelb, zartem Rot und Grün, eingeflogen in die Zone des Nahen, Konkreten, des Irdischen, des Hier und Jetzt, …“

Der Betrachter ist somit der Empfänger des Lichts, das der Stern in sich trägt. Er will es uns geben, damit wir wie er von innen her erleuchtet werden und selbst lebendige Lichter in den Dunkelheiten dieser Zeit werden. Frohe Lichtträger, vor Freude tanzende Lichtträger, voller Leben und voll ansteckender Energie.

So wie der Stern von Bethlehem. Die Weisen aus dem Osten haben ihn als besonderes Zeichen erkannt, sind ihm gefolgt und hatten dadurch das Glück, das „Licht der Welt“ (Joh 8,12) von Angesicht zu Angesicht schauen zu dürfen und von ihm durchdrungen und erfüllt (vgl. Mt 2,10) selbst zu einem Licht in seiner Welt zu werden.

Wenn Friedrich Nietzsche Zarathustra zu seinem Volk sagen ließ: „Ich sage euch: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können, ..” (Also sprach Zarathustra), dann um unsere Sehnsucht zu ermutigen, über das Sichtbare dieser Welt hinauszuschauen und von dort her das Heil zu erwarten.

Anspruch und Zuspruch

Worte. Nur wenige, aber starke Worte finden sich auf diesem Triptychon. Es sind Wortbilder, Worte, die ins Bild gesetzt wurden, grafisch inszeniert ihre Wirkung entfalten. Es ist ein Dialog, der sich kurz und bündig auf Wesentliches beschränkt. Durch den Verzicht auf eine bildliche Darstellung wird der Betrachter unmittelbar zu einem Beteiligten dieses Dialogs. Das Sehen und Lesen verwickelt ihn in das Geschehen, macht ihn zum Adressaten der Botschaft.

DU!
Was für eine Ansprache: Du bist auserwählt und angesprochen, niemand anders. Das Du, das der Engel an Maria adressiert hatte, ist hier anonymisiert. Beinahe flüchtig steht es groß und einfach in die Bildmitte geschrieben. Es ist nicht zu erkennen, wer es spricht, noch wer der Empfänger ist. Das Du, das in diesen ansonsten leeren Bildraum hineingestellt wurde, kommt damit von einem Unbekannten, der sich nicht weiter zu erkennen gibt. Und es richtet sich an jeden, der das Triptychon betrachtet.

ICH?
Wieso ich? Vor dem mächtigen Du steht das Ich ganz klein auf dem nächsten Bild. Fragen tauchen auf. Muss das sein? Ausgerechnet ich? – Ich möchte mich drücken. Mache mich ganz klein. Vielleicht sieht er mich dann nicht oder vertraut mir nicht mehr – und wählt jemand anderen. Aber das große und mächtige Du bleibt bestehen, es bleibt unausweichlich an mich gerichtet, an den, der es sieht und liest. (Ob mich abwenden und weggehen etwas verändern würde?)

Ja!
Ja! steht auf der gegenüberliegenden Bildseite. In der gleichen blauen Farbe wie das ICH. Im Vergleich zum kleinen ICH groß und stark auf einer neuen Zeile stehend. – Wie wurde aus dem großen Fragezeichen diese klare Bejahung? Was bewirkte die Trendwende vom Sich-Wegducken- und Verschwinden-Wollen zur standhaften Zusage?

Zwischen dem ICH und dem Ja ist handschriftlich, im Vergleich zu den anderen vier Stichworten aber klein und schwach, jedoch wortreich geschrieben: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten;. Die graue Farbe lässt eine Verbindung zu dem zu, der auch das DU in meine Welt hineingebracht hat. Stärkung wird zugesprochen. Ganz leise, unscheinbar. Aufmerksamkeit wird verlangt, gutes Hinsehen, um die entscheidende Zusage nicht zu übersehen. Dabei wird „der Heilige Geist“ und „die Kraft des Höchsten“ farblich hervorgehoben, verstärkt, betont. Derjenige, der sich an mich wendet, mir etwas zutraut, wird mich mit nicht weniger als der „Kraft des Höchsten“, dem „Heiligen Geist“ stärken, damit ich Ja sagen kann.

Zu was ja gesagt wird, geht aus den wenigen Worten nicht hervor. Dafür muss man wissen, dass das Wort vom Heiligen Geist aus der Verkündigung des Engels an Maria stammt (Lukas 1,57) und dass dem anspruchsvollen „Du“ die Verheißung eines Kindes folgte, das niemand geringerer sein sollte als der „Sohn des Höchsten“! Hieraus erklärt sich das kleine fragende ICH genauso wie danach das große Ja! aus der Zusage der „Kraft des Höchsten“.

Halleluja!
Dieser Jubelruf steht quer über das dritte Bild. Das Wort steht erhöht, in gleicher Farbe wie das ICH? und das Ja!. Er stammt von der mit der Farbe Blau charakterisierten Person. Der hebräische Jubelruf sagt wörtlich übersetzt: „Lobt Jah(we) – Lobt und verherrlicht Gott!“ Jahwe ist der Gott, der sich Israel als sein Volk erwählt hat, der es über alles liebt und unter anderem aus der Gefangenschaft in Ägypten in die Freiheit geführt hat. Neben ihm gibt es keine anderen Götter – er ist der Höchste (Ex 20,2-3)! Nun ummantelt die braune Farbe – symbolisch die Kraft des Höchsten – die blauen Buchstaben. Seine Kraft ließ nicht nur ein starkes Ja! sagen, sondern bewegte darüber hinaus zum Lobpreis dessen, der diese übermenschliche Kraft geschenkt hat – damit das Unfassbare wahr wird: Gott wird Mensch. – In mir … denn mit dem Du! bin ja ich angesprochen! (vergl. dazu auch Angelus Silesius) Gott traut auch mir Großes zu!

Gottesgegenwart

Die Abbildung einer Leiter mit dreizehn Sprossen durchquert mittig das Bild. Unten ist sie schmaler, nach oben wird sie weiter. Grau wie ein Schatten liegt sie auf dem wolkig hellen Hintergrund. Ihre Enden berühren weder den oberen noch den unteren Bildrand. So scheint sie im Bildraum zu schweben und erweist sich noch fragiler und haltloser als Leitern an sich schon sind. Gleichzeitig wird damit etwas Unfassbares, Traumhaftes angedeutet.

Zwischen Leiter und Hintergrund sind feine bewegte Linien und dunkle Verdichtungen zu sehen, die sich hier zu einem Arm, dort zu einem Oberkörper, dann wieder zu einem Kopf formen. Gestalten sind zu erkennen, die sich übereinander auf dieser Leiter drängen. Menschenähnliche Wesen – doch schemenhaft und transparent auf das hintergründige, tragende, weiße Licht, das von hinten das ganze Bild durchdringt.

Ihre Gestalten sind nicht zierlich, nicht unbedingt schön, sie haben auch keine Flügel. Sie sind wesentlich Boten des Lichts und als solche Niedersteigende und Aufsteigende. Im linken oberen und rechten unteren Drittel sind neben der Leiter zwei nach unten gekehrte Köpfe zu sehen, ein dritter Kopf unter der Leiter wie als Gegenüber zum angedeuteten Kreis, in dem die Leiter oben endet.

Alles wird schattenhaft wahrgenommen, entzieht sich dem Begreifen – und doch ist es das Sehen einer Wirklichkeit, die da ist und in Aktion da ist. Nicht nur von uns, sondern von einer weiteren Gestalt, die in dunkelbrauner Tinte unter der Leiter angedeutet liegt.

Es muss Jakob sein, der im Traum sieht. Er ist auf der Flucht von Zuhause, wo er sich den Erstlingssegen seines Vaters Isaak erschlichen hat (Gen 27). Während er schläft – allein in der nächtlichen Dunkelheit der Wüste – erhält er Besuch: Engel, Lichtgestalten „und siehe, der Herr stand oben“ (Gen 28,13). Gott zeigte sich ihm nicht nur, Gott sprach auch zu ihm, denn Jakob hört sagen: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.“ (Gen 28,13-15) Damit offenbarte sich ihm Gott nicht nur als gegenwärtiger Begleiter, sondern auch als machtvolle, zukunftsweisende Stärkung: Ich werde mit dir sein, bis sich alles erfüllt hat! Was für eine Verheißung!

Gott ist handlungsstark gegenwärtig, er lässt die Seinen nicht allein. Der belebte weiße Hintergrund erinnert auch an die Wolkensäule beim Auszug aus Ägypten, in der Gott sein Volk verhüllt und es doch aktiv aus der Gefangenschaft heraus in die Freiheit führte. Ein ermutigendes Bild. Gott ist da in dunklen und einsamen Zeiten, er spricht und verheißt eine lebenswerte Zukunft. Mag die Gegenwart noch so aussichtslos oder trüb aussehen.

 

Jacques Gassmann wurde am 24.11.2014 in Regensburg der Kulturpreis Kunst und Ethos 2014 verliehen. Dieser wurde anlässlich des 75-jährigen Gründungsjubiläums des Verlags Schnell und Steiner von den beiden Gesellschaftern gestiftet.

Himmel und Hölle

Himmel und Hölle sind einander im Zentrum des Bildes als Schriftbilder gegenübergestellt. Verbunden sind sie durch ein Pluszeichen. Das Wort „Himmel“ steht aufrecht, die „Hölle“ ist auf dem Kopf geschrieben. Von oben wie von unten führen sich verjüngende Strahlen ins Bildzentrum und scheinen den dunkelgrauen Hintergrund aufzureißen.

Es ist erstaunlich, dass die Künstlerin Himmel und Hölle so nahe beieinander und in der gleichen hellen Schrift dargestellt hat. Sie hat zwar den Himmel traditionellen Vorstellungen entsprechend oben und die Hölle unten gezeichnet, aber die Unterschiede sind nicht groß. Es ist nicht einfach auszumachen, wo der Himmel bzw. die Hölle beginnen; räumlich schon gar nicht. Das Wortpaar vermittelt zudem den Eindruck zusammenzugehören, sich beinahe spiegelbildlich zu bedingen.

Zwischen den beiden Wörtern ist nicht wirklich Raum für unsere Lebenswelt. Das Dazwischen ist nur mit dem Verbindungszeichen markiert. Es bildet das Kreuz, in dem sich die Horizontale als Symbol für die Erde und die Vertikale als Verbindung von Himmel und Hölle überschneiden. Es steht für uns Menschen, für unsere Freiheit, uns für das eine oder das andere entscheiden zu können. Es steht umso stärker im Spannungsfeld der beiden Krafträume, als Jesus Christus wegen seiner guten Werke viele in ihrem Denken und Handeln gestört hatte und sie ihn deswegen zu Tode gekreuzigt hatten.

So weist das Bild dezent darauf hin, dass der Himmel und die Hölle in uns beginnen, in unserem Denken, Reden und Handeln. Es weist darauf hin, dass Gut und Böse, Himmel und Hölle sehr nahe beieinander liegen und es manchmal schwer ist, das eine vom anderen zu unterscheiden. Die Anordnung der beiden Wörter kann allerdings auch als Tipp gedeutet werden: Der Himmel ist auf unserer Erde dort, wo die Dinge im Guten stehen und stehen gelassen werden. Die Hölle zeigt sich überall, wo die Dinge und die Weltordnung durcheinander gewirbelt oder auf den Kopf gestellt worden sind. – An uns ist es, die richtige Wahl zu treffen. Wir haben die Fähigkeit und die Macht, mit unseren Gedanken und Entscheidungen Licht in die Dunkelheiten dieser Welt zu bringen. Da es kein Dazwischen gibt, kann es nur darum gehen, dem „Himmel“ immer mehr Raum auf unserer Erde zu geben.

Gielia Degonda gewann mit dieser Arbeit 2013 den gleichnamigen Wettbewerb der Schweizerischen St. Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche. Die Jury hatte ihr Werk aus 40 eingereichten Bildern ausgewählt.

Reformer im Dialog

Ein Bildzitat von Martin Luther aus dem Pinsel von Lucas Cranach füllt die Bildmitte. Mit den intensivierten Farben erscheint sein Portrait wie eine mit der Lupe erzeugte Vergrößerung. Als wäre er aus der Tiefe der Vergangenheit ins Zentrum der Gegenwart hervorgeholt worden. Es zeigt ihn als Mensch – im Jahr seiner Heirat mit Katharina von Bora.

Sein Bildnis befindet sich wesentlich auf einem kräftigen Blau, das sich von ihm aus seitlich und nach unten weitet, Tiefe suggerierend, aber auch die Botschaft ansprechend, die er verkündet hat. Das vertikale blaue Feld unter ihm lässt sein Bildnis geerdet und fest erscheinen. Links und rechts ist sein Portrait von stilisierten Figuren flankiert, ähnlich einer personalen oder symbolischen Ehrenwache.

Zwei weitere Personenportraits befinden sich in den unteren Eckbereichen: links Lucas Cranach der Ältere, portraitiert von seinem Sohn Lucas Cranach dem Jüngeren, rechts noch einmal Martin Luther, diesmal im Profil und mit Doktorhut. In den schwächeren Farben und in ihren Ausschnitten wirken sie wie Erscheinungen. Sie sind einander zugewandt und durch die schwungvolle gelbe Linie so miteinander verbunden, dass sie im Gespräch und Austausch miteinander stehen. Eine weitere gelbe Vertikale kreuzt diese und gleichzeitig die Mittelpunkte der waagrechten „Hirnholzabdrücke“, der nach oben offenen Halbkreise. Unsichtbar führt die Linie auf das zentrale Portrait von Martin Luther und darüber hinaus in die orangefarbene Fläche.

Die warmen Farben als auch die runden Formen deuten unaufdringlich auf eine transzendente Präsenz hin. Sie bringen Gott als ewiges Licht und Präsenz hinter und in allem Geschaffenen zur Sprache. Farblich korrespondiert dazu das lineare Fischsymbol unterhalb von Martin Luther. Das ICHTYS-Symbol ist das Erkennungszeichen der ersten Christen. Die erste Person zeichnete den ersten Halbkreis auf den sandigen Boden, die zweite Person vervollständigte das Symbol durch einen Gegenbogen und gab sich dadurch als Glaubensbruder oder -schwester zu erkennen.

In verändertem Kontext war die Zugehörigkeit auch in der Reformation ein großes Thema. Es ging um die Freiheit der Christen in geistlichen Dingen, um die Mündigkeit im Glauben, womit auch die Entscheidung jedes Einzelnen gefragt war, mit wem er in der Kirche weitergehen wolle.

Repräsentativ für den „reformierten Gläubigen“ im Zeitalter des Humanismus steht Martin Luther. Er hat in seiner Zeit nicht geschwiegen, sondern hat das Gespräch gesucht, den Dialog, den Austausch, um Missstände zu korrigieren und positive Veränderungen in der Kirche zu bewirken. Auch nach fast 500 Jahren bleibt er allen Christen ein mahnendes Zeichen, dem Dialog mit Andersdenkenden, Kritikern und auch Querdenkern nicht aus dem Weg zu gehen oder ihn gar zu verweigern. So schwer und mühsam solche Gespräche oft auch sind, für die Re-vision der eigenen Gedanken, für die Re-form der eigenen Haltungen und Handlungen sind sie unumgänglich notwendig. Die Kunst, vertreten durch die Künstler Lucas Cranach und Jörgen Habedank, vermag auf ihre Weise dazu einen Beitrag zu leisten.

Zum Cranachjahr 2015 hat der Künstler Jörgen Habedank 12 farbige Collagen mit Motiven zur Reformation von Cranach gestaltet. Das als Bild-Impuls besprochene Blatt zierte den Monat Oktober.

Verhüllen, um zu offenbaren

Der österreichische Künstler Arnulf Rainer ist bekannt für seine „Übermalungen“. Hier hat er zwei Drittel einer Kopie eines Bildes aus der Bibel des Königs Wenzel (Prag, um 1390) mit orangen und gelben Farben übermalt. Das ursprüngliche Bild zeigte Gott, der Moses in der Wüste zu sich gerufen hatte (Ex 3,1-11). Davon ist nur noch Moses zu sehen, wie er auf das Geheiß Gottes seine Schuhe auszieht (Detailbild), weil er heiligen Boden betritt. Warum übermalt Rainer Bilder? Warum hat er ein altes Motiv der biblischen Ikonografie mit breiten farbigen Pinselstrichen zugedeckt?

Er macht dies, um eine in seinem Werk wiederkehrende Idee auszudrücken, die man überall in seinen Arbeiten findet: Verbergen offenbart. Indem das Motiv ganz oder teilweise dem Blick entzogen wird, fügt der Künstler etwas Geheimnisvolles hinzu, und schafft er den Wunsch zu sehen. Rainers Handlung durch Verbergen zu verhüllen besitzt mindestens vier Dimensionen: eine künstlerische, anthropologische, biblische und theologische.

Die künstlerische Dimension: Rainer bedeckt seine Gegenstände nie ganz. Er lässt immer Stellen im Bild unbedeckt, was ihnen besondere Kraft gibt. Außerdem ist seine Übermalung meistens in kräftigen Farben, die einem alten Gemälde – das man es nicht mehr richtig anschaut, weil man es zu kennen glaubt – wieder Leben geben. Der Künstler zeigt damit, dass das Bild ein Kunstwerk ist, das zum Leben erwacht und kraftvoll genug ist, unsere alten Darstellungsweisen zu erschüttern.

Die anthropologische Dimension: Der Mensch will – wie es mit Thomas in der Bibel treffend zum Ausdruck gebracht wird – sehen. Er will alles sehen, sogar das, was unsichtbar ist, sogar Gott. Der Mensch hat Mühe das Geheimnis zu akzeptieren und zu lernen, dass das Unsichtbare in der Regel wichtiger ist als das Sichtbare. Indem Rainer überdeckt und versteckt, stellt er sich dieser menschlichen Tendenz entgegen. Seine Veränderung fordert uns heraus, damit wir lernen zu akzeptieren , nicht über das hinaus zu suchen, was uns gegeben ist zu sehen. Denn oft genug ist es so, dass wir, je mehr wir sehen, umso weniger glauben. Indem Rainer uns daran hindert, gibt er uns unsere wirkliche Menschlichkeit zurück.

Die biblische Dimension: Indem er den größeren Teil dieses alten Bildes übermalt, erweist sich Rainer als guter Exeget des biblischen Textes in Exodus 3,1-11. Die alte Buchillustration zeigt Gott mit einem menschlichen Gesicht, einem Heiligenschein und umgeben von Engeln. Aber der Gott, der Moses zu sich rief, ist in diesem biblischen Text ein Gott, der sich verhüllt. Er zeigt Moses sein Gesicht nicht und verweigert seinen Namen zu nennen. Er sagt nur: „Ich bin, der ich bin“. Wie im biblischen Text verbirgt Rainer Gott vor uns. Die farbige Malerei in Form von großen Feuerzungen verhüllt und offenbart gleichzeitig das Wesen von Gott und hat seine Präsenz im Bild, aber auch in unseren Herzen wieder aufflammen lässt.

Die theologische Dimension: Rainer illustriert hier nicht nur eine biblische Erzählung. Er stellt uns eine Art theologischen Kommentar zum Gott der Bibel zur Verfügung. Wenn er sich selbst offenbart, dann durch das Wort oder durch einfache Zeichen, die sein Geheimnis bewahren. In diesem Bild gehen die orangen Spuren, die man als Feuerzungen interpretiert, an einem gewissen Punkt auseinander und lassen einen flüchtigen Blick auf Gott zu (Detailbild), der über seine Präsenz unter uns spricht und uns gleichzeitig zurückweist, sich auf ein menschliches Wesen reduzieren zu lassen. Gott ist immer größer als wir. Gott ist immer anders als wir. Das will uns die Bibel in all ihren Erzählungen sagen. Das ist auch die Botschaft des österreichischen Malern Arnulf Rainer.

Dieser Beitrag wurde in englischer und niederländischer Sprache am 16. Februar 2014 auf der Website artway.eu erstveröffentlicht. Jérôme Cottin ist Professor für praktische Theologie an der protestantischen Fakultät in Straßburg und Verantwortlicher der Website www.protestantismeetimages.com.

Bis zum Grund

Ein Lichtstrahl durchdringt die Farbflächen. Zunächst hellblau klar, wechselt er mit dem Eindringen in den unteren dunkleren Farbraum seine Farbe in ein helles Gelb. Wie eine Pfeilspitze taucht er bis zur Unterkante des Bildes ein; scheint den blauen Hintergrund in eine linke und eine rechte Seite zu teilen. Und doch bleiben die beiden Farbflächen durch die Fortführung der nach rechts ansteigenden Trennlinie im Lichtstrahl verbunden.

Dieser Lichtstrahl schneidet nicht wie ein Messer durch, sondern dringt in die Materie ein, aus dem klareren Blau des Himmels in das grünliche Blau des Wassers und des Wachstums der Erde. Um den Lichtstrahl herum breitet sich kelchartig ein durch ihn erhellter Schein aus, der lediglich am Bildrand einen tiefblauen Rand hinterlässt. Eine zusätzliche Farbveränderung lässt sich links vom Lichtstrahl feststellen. Eine rote Lichtbrechung begleitet hier das Licht und erscheint im unteren Bereich am intensivsten.

Trotz des einschneidenden Ereignisses geht von dem Bild eine große Ruhe aus. Ein Grund mag im harmonischen Miteinander der scheinbaren Gegensätze liegen, bei denen sich Waagrechte und Senkrechte kreuzen, dunkle und helle Flächen durchdringen oder strenge geometrische Elemente mit weichen Farbübergängen die Waage halten. Auch das Trennende zwischen Oben und Unten ist durch den Lichtstrahl überwunden. Ein zweiter Grund mag der Umstand sein, dass der Lichtstrahl auch bleibenden Halt gibt, einen festen Anhaltspunkt bildet, wie ein Leuchtstab, ein immaterieller Anker, der tief in der diagonal aufsteigenden Fläche steckt.

Was mag das Bild für uns bedeuten? Dieser Lichtstrahl, der offensichtliche Grenzen durchdringt ohne zu verletzen und bis auf den Grund des eigenen Wesens vordringt und Tiefen ausleuchtet, die selbst uns oft unbekannt sind? Vom Psalmvers 139,23: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne mein Denken!“ ausgehend, könnte der Lichtstrahl als ein Zeichen für Gott gedeutet werden. Die Keilform des Lichtstrahls lässt auf einen unendlich großen Anfang schließen – Gott selbst – das punktgenaue Auftreffen auf der Unterkante des Bildes auf sein individuelles Eingehen auf den Menschen. So kann der Lichtstrahl für Gottes Ergründen des Menschen stehen, das Prüfen seiner Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit.

Ob Maria auch so ein Lichtstrahl durchdrungen hat, als Gott ihr durch den Engel ankündigte, dass er sie zur Mutter seines Sohnes auserkoren hatte? Dann könnte das Licht auch als Symbol für Gottes Geist gesehen werden, durch den Maria Jesus empfangen hat. Und von Menschenseite her könnte er als strahlende Antwort Marias verstanden werden: JA, „mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38). Denn Licht streut, die Lichtquelle wäre demzufolge die Seele oder das Herz Mariens.

Das Bild lässt sich auch als Metapher für meine Gottesbeziehung sehen. Der Lichtstrahl gleichsam als Datenautobahn des Austausches zwischen Gott und mir. Es stellt visuell die Frage, ob ich es zulasse, dass Gott mich besucht, erforscht und mein Herz erkennt, wie es der Psalmist erbittet. Dass Gott meine Bedürftigkeit sieht, auf meine Sehnsucht (vgl. Jes. 26,9) nach ihm antwortet. – Gleichzeitig mag es Anstoß sein, das göttliche Licht zu verinnerlichen! Es zuzulassen, in mir aufzunehmen, mich von ihm durchdringen und verändern zu lassen zu einer Lichtgestalt, die Anhaltspunkt für andere sein kann.

Diese Arbeit war im Rahmen des Festes „Maria Himmelfahrt“ 2014 zusammen mit einem Dutzend anderer moderner Arbeiten zu Maria in Warendorf ausgestellt. Alle Kunstwerke finden Sie in der PDF-Version des Begleitheftes zur Ausstellung: Maria ImPuls der Zeit

Pespektive der Hoffnung

Es ist schwer etwas zu erkennen. Weiß dominiert die Bildfläche. Ein nebeliges Weiß, mit Blau durchsetzt. Es könnten Nebelschwaden am frühen Morgen sein? Aber auch Erinnerungen an kalte Wintertage werden wach. An gefrorene Scheiben, welche die Sicht nach draußen verwehren, an Schnee, der alles uniform zudeckt und somit der Farben beraubt, an die eisigen Temperaturen, welche das Leben extrem verlangsamen oder sogar zum Erstarren bringen. Ohne das Farbfenster in der Bildmitte wäre nur von Isolation, Kälte und Tod die Sprache.

Doch die „Nebelwand“ ist durchbrochen und gibt die Sicht auf eine überraschend andere „Welt“ frei. Es ist, wie wenn der weiße Vorhang in der Mitte von einer geheimnisvollen Macht aufgerissen wird, die Eisfläche schwindet und das frei gewordene Loch Blicke auf ein farbiges Dahinter offenbart.

Was zu sehen ist, sind nicht mehr als Andeutungen. Die Farbflächen lassen keine konkreten Gegenstände oder Gestalten erkennen. Aber es sind warme, kräftige Farben, die Lebenskraft und -fülle ausstrahlen. Und diese Perspektive verändert alles. Alles! So wie die Auferstehung Jesu von den Toten!

Noch besser lässt sich das Bild verstehen, wenn es im Vergleich zum Bild zum Karfreitag betrachtet wird.

Kristina Dittert, Karfreitag, 2012

Auffallend ist der ähnliche Bildaufbau. Doch im Gegensatz zum beinahe schwarzen Hauptteil im Karfreitagsbild, der von Dunkelheit und Nacht erzählt, ist das Auferstehungsbild von Licht durchdrungen und kündigt einen neuen Morgen, einen neuen Tag an. Und im Bildzentrum wechselt der schmerzhafte Einblick in das feurig-rote, sich hingebende Herz Jesu zu einem freudigen Ausblick auf das Leben nach dem Tod.

Das kalte Weiß mag vielleicht noch stören. Aber symbolisiert Auferstehung nicht den Anfang einer radikalen Veränderung im menschlichen Leben? Der Tod wird nicht das Ende sein, das Leben wird weitergehen … Dank Jesus! So bezeichnet die Auferstehung einen Durchbruch, ein Aufbrechen aus einer festgefahrenen, hoffnungslosen Situation; eine initiale Bewegung in eine neue Wirklichkeit. Diese Perspektive erfüllt mit Freude. Denn die neue Wirklichkeit ist wie ein neuer Tag nach der Nacht, sie ist so bunt und warm wie es die Fülle des Lebens nur sein kann.

Ad Manus

Zwei Bildflächen stehen zueinander im Verhältnis von ein Drittel zu zwei Drittel. Dadurch befinden sie sich miteinander im Dialog. Doch was eint, was verbindet sie in ihrer doch sehr gegensätzlichen Sprache?

Der aus dem Dunkel aufragende Arm und die am Querbalken festgeschlagene Hand verbinden das rechte Bild unwillkürlich mit der Kreuzigung Jesu Christi. Auch wenn vom restlichen Körper nichts sichtbar ist. Wie bei einem Ertrinkenden ragt die weiße Hand aus der Nacht des Grauens. Die Finger sind weit gespreizt, als suchten sie Halt, als wollten sie erfasst werden. Es ist die rechte Hand. Die Hand des Grußes. Aus dem Nichts taucht sie auf, das Leben andeutend, im Wunder der Hand sich konkretisierend, entfaltend und gleich wieder im Tod verlierend. Denn steil fällt der Arm nach rechts ab. Wer hier hängt, der hängt tief, in undurchdringlicher Nacht versunken.

Diesem farblosen Bild hat der Künstler ein schmales, hohes Bild gegenübergestellt. Es ist vertikal im goldenen Schnitt unterteilt, unten schwarz, oben goldfarben. Abstrakt antwortet es auf die einsame Hand, unten die Dunkelheit aufgreifend, oben eine neue Dimension andeutend. Mit feinen weißen Linien versetzt, strahlt die schwarze Fläche Ruhe aus. Soll damit die Ruhe und Erschöpfung nach dem Kampf angedeutet werden?

Wolkenartig bewegt erhebt sich darüber die einzige farbliche Betonung. Eine aufsteigende Dynamik ist spürbar, Licht, das noch nicht direkt sichtbar ist, doch durch eine Wolkenschicht durchscheint. Auferstehung wird angedeutet, Aufnahme in den Himmel, Verklärung des Leidens. Ist parallel zur Hand, im Verlangen der Finger, nicht ein lichter Abglanz von ihr wahrnehmbar, gleichsam im Herzen der goldenen Erscheinung? – Die Hoffnung, der Trost, dass alles menschliche Leiden Gott nicht unberührt lässt, sondern im Innersten zutiefst bewegt und dadurch in seine Herrlichkeit überführt.

Grundlage für dieses Diptychon ist eine siebenteilige musikalische Komposition über das Leiden Jesu durch Dietrich Buxtehude (1637-1707). In seinem Passionszyklus „Membra Jesu nostri patientis sanctissima“ (1980) folgt er den von Schmerzen geprägten Körperteilen des Gekreuzigten, beginnend bei den Extremitäten, den Füßen (Detailbild), aufsteigend zu den Knien und Händen, dann den Oberkörper betrachtend, zuerst die Seite, dann die Brust, vertiefend das Herz. Zuletzt schaut er ins Antlitz Jesu, in das gekrönte Haupt voll Blut und Wunden.

Für die sieben mehrstrophigen Hymnen bediente er sich einer der beliebtesten Passionsdichtungen jener Zeit, der „Rhythmica oratio“ von Arnulf von Löwen. In der Betrachtung der Hände heißt es:

Was sind das für Wunden
mitten auf deinen Händen?
Sei gegrüßt, guter Hirte,
erschöpft im Todeskampf,
der du durch das Holz gemartert bist
und an das Holz geschlagen bist
mit angespannten heiligen Händen.
Ihr heiligen Hände, ich umfasse euch,
Dank sage ich den so großen Schlägen,
den harten Nägeln,
den heiligen Blutstropfen,
mit Tränen küsse ich euch.
Von deinem Blut benetzt
übergebe ich mich dir ganz,
diese deine heiligen Hände
sollen mich beschützen, Jesus Christus,
in den letzten Gefahren.
Was sind das für Wunden … (Wiederholung)

So wie Dietrich Buxtehude den betrachtenden Worten von Arnulf von Löwen die unsichtbare musikalische Dimension beigefügt hat, so hat Johann P. Reuter den konkreten Körperteilen eine abstrakte Größe gegenübergestellt. Damit setzt er auf seine Weise das zeitlich Vergängliche in Beziehung zum Unvergänglichen: Das Greifbare versus das Unbegreifliche, die Temperauntermalung versus den Goldgrund, die Endlichkeit versus die Unendlichkeit, den Tod versus das ewige Leben.

Gott nahe zu sein ist mein Glück (Ps 73,28)

Biblischer Kontext
Wer diese wenigen Worte auch formuliert hat, der muss eine tiefe Erkenntnis in seinem Leben gemacht haben. Sein Bekenntnis ist denn auch das Resultat vieler Beobachtungen, Überlegungen und Glaubenserfahrungen, die im Psalm zum Ausdruck kommen. Nach der Vorwegnahme des Ergebnisses bekennt der Beter gleich: „Ich aber – fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wäre ich gefallen.“ (Vers 1) Aus den weiteren Versen geht hervor, dass er sich am mühelosen Glück und Reichtum der Gottlosen gestoßen hatte (V 4-12) und zu zweifeln begann, ob die Art und Weise, wie er seinen Glauben an Gott lebt, der richtige Weg ist. Er fragt sich: „Also hielt ich umsonst mein Herz rein und wusch meine Hände in Unschuld. Und doch war ich alle Tage geplagt und wurde jeden Morgen gezüchtigt.“ (V 13-14) Zuerst versuchte er das Problem im Alleingang durch Nachdenken zu lösen, doch erst im Heiligtum seines Gottes wurde ihm seine Situation offensichtlich. In der Zuwendung zu Gott kann er seine Erkenntnis nun als Gebet formulieren, sein Versagen („ich war töricht und ohne Verstand, war wie ein Stück Vieh vor dir“, V 22) als auch seine Entscheidung und sein Vertrauen („Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten“ V 23) bekennen. Mit drei absoluten Aussagen bekräftigt er sein Vertrauen auf Gott. „Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde. […] Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig. […] Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ Mit dem dreifachen Bekenntnis gibt er seinem Vertrauen in Gott einen unumstößlichen, felsenfesten Charakter, wobei er in der dritten und finalen Aussage seine Glaubenserfahrung nochmals verdichtet. Mit „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ bringt er seine wesentlichste Erkenntnis für sein Leben auf den Punkt und bezeugt sie öffentlich als Segen.

Literarische Betrachtungen
Die sieben Worte bilden dabei eine wunderbar symmetrische Komposition. Anfang und Ende des Satzes werden durch „Gott“ und „Glück“ gebildet, Synonyme für unfassbare und vollkommene Lebensfülle. Genau in der Mitte finden wir das Wort „sein“. Zwischen Gott und Glück ist das Sein, die Existenz, das Leben gut aufgehoben. Davor und danach die beiden Beziehungswörter „nahe“ und „mein“. Bei Gott zu bleiben, sich an ihm festzuhalten, ist das Beste, was der Mensch machen und ihm geschehen kann. Denn Gott ist die Quelle und die Erfüllung seines Lebens, ER ist eben sein Glück!

Gedanken zum Bild
Das Bekenntnis des Psalmisten hat Angelika Litzkendorf mit einer spannungsvollen Komposition aus Linien und Farben ins Bild gebracht. Die Grundlage bildet ein liegendes Kreuz aus breiten blauen Linien, das wie eine Krippe runden Formen Geborgenheit gibt. Nach rechts hin steigen aus dem Kreuz wogenartige Elemente hoch, die in ihrem Innenraum ein gelbes und ein rotes Licht über einer glutartigen Unterlage bergen. Die miteinander im Dialog stehenden Lichter befinden sich in der direkten Verlängerung zum gleichfarbigen Lichtbündel, das von oben links in die Bildfläche einbricht. Doch während die Farben von einem klaren Zusammenhang sprechen, lassen ihre Abgrenzungen auf unterschiedliche Lichtträger schließen. So darf das gradlinige große Licht mit den weichen Konturen als Symbol für den dreifaltigen Gott gedeutet werden, während die beiden intensiven Lichter mit klaren Konturen mehr für sein Geschöpf, den Menschen stehen.
Zusammen mit den runden blauen Formen entsteht der Eindruck eines großen Auges, in dessen Mitte die Farben und Formen des lichten Gegenübers aufleuchten. Gleichzeitig glaubt man in das Herz des Psalmisten schauen zu können und seinen Glaubenseifer zu spüren, seine Erkenntnis der lichten Güte Gottes, das Aufleuchten seiner entschiedenen Antwort auf Gottes Nähe zu sehen. Voll und ganz auf Gott ausgerichtet, kann er IHN in aller Freiheit schauen und von ihm angestrahlt und geliebt, gewissermaßen durchdrungen werden. Er hat nichts mehr zu befürchten: Gott nahe zu sein ist sein Glück. Anfechtungen mögen noch so bedrohlich über ihm schweben, er ist im Glauben unerschütterlich mit Gott verbunden.

In seiner Offenheit stellt die Komposition allen Betrachtern die Frage, wie ihr Glaube für Gott brennt. Ist uns das Suchen der Gottesnähe auch ein Bedürfnis? Ist uns das Verweilen und Sein in seiner Nähe ein derart unfassbares Glück, dass wir der Zweisamkeit mit IHM einen so großen Platz einräumen, dass sich daraus das ganze weitere Leben entfalten kann?

Diese Bild war zur Jahreslosung 2013 gemalt worden.

Im Glauben schauen

Bunt verhüllte Gestalten bilden eine Personengruppe, deren Anordnung an die Anbetung der Könige erinnert. Aber es sind keine Gesichter zu sehen, keine Hände, keine Füße – kein Jesuskind! Die Köpfe sind mit Einkaufstüten angedeutet und gleichzeitig unter ihnen verborgen (große Ansicht). Genauso ist es mit den Geschenken der drei Könige. Bekleidet sind die Gestalten mit zerknitterten, glänzenden Umhängen, die an Schutzanzüge als auch an Geschenkpapier erinnern. Auf dem gelbgrünen Boden und vor dem schwarzen Hintergrund wirken die vermummten Gestalten wie eine moderne Bühneninszenierung. Bis auf das Plastikmaterial und die Werbeaufdrucke lässt sich die Darstellung weder zeitlich noch geografisch einordnen.

So ganz ohne Gesichter, Hände oder Füße mutet diese eingepackte Personengruppe unheimlich und gespenstisch an. Schmerzlich wird das Fehlen der individuellen Erkennungsmerkmale zur Kenntnis genommen. Irritiert über die Verfremdung und fast verzweifelt sucht das Auge nach Hinweisen, welche die einzelnen Gestalten den Personen zuordnen lassen, die aus vergleichbaren Darstellungen bekannt sind. Es kann doch nicht sein, dass die Anbetung der Könige zu einer Werbeveranstaltung verkommen ist und nur noch die Sponsoren, aber nicht mehr die ursprünglichen, wesentlichen, zentralen Personen des Geschehens zu sehen sind.

Die beiden Gestalten ganz rechts im Bild müssen Maria und Josef sein. „Maria“ trägt ein weinrotes Oberteil über einem dunkelgrünen Gewand und hält zwischen ihren Armen ein weißes Bündel. „Josef“, bezeichnender Weise in einem braunen Gewand, steht hinter ihr.

Den Platz des Jesuskindes markiert ein weißes Bündel, das dreieckförmig von links nach rechts aufsteigt und dessen unterer Zipfel pfeilförmig auf dem mit einer blauen Plastiktüte verhüllten Tisch nach unten zeigt. Das Gesicht des Jesuskindes ist mit einem Stoffwirbel angedeutet. Dieses symbolische Gesicht bildet in dreifacher Weise das Blickzentrum. Zum einen endet die runde, weiche Verbindungslinie der Köpfe von Josef und Maria an dieser Stelle, zum andern laufen die Verbindungslinien der Köpfe und Geschenke der drei Könige in diesem angedeuteten Gesicht strahlenförmig zusammen und heben es als visuellen Höhepunkt derart hervor, dass auch der Betrachter dorthin blickt und das Antlitz des Neugeborenen sucht.

Doch immer wieder ist die Enttäuschung groß, das göttliche Antlitz nicht schauen zu dürfen oder zu können.

Denn da sind die drei Gestalten der „Könige“, die mit „Gaben“ zum „Kind“ gekommen sind, sich ihm zuwenden, vor ihm „niederknien“, auf ihn „schauen“. Der erste „König“ ist ganz in Weiß gekleidet, eine blau verhüllte Gabe darbringend. Der „König“ hinter ihm trägt einen caramelfarbenen Umhang über einem violetten Gewand. Sein Kopf ist mit einer Ril…-Tüte verhüllt, sein Geschenk mit einer Coop-Tüte. Der dritte „König“ steht in zweiter Reihe und tritt in grün-braunen Kleidern auf. Seine Gabe trägt er in einer Edeka-Tüte. Man ist versucht, die traditionellen Gaben den einzelnen Gestalten zuzuordnen … Leuchtet nicht in der gelben Tüte etwas vom Gold auf? Könnte das weiße Gewand des Knienden nicht in Verbindung mit dem Weihrauch gesehen werden, die Farben des zweiten „Königs“ mit dem Leiden Christi, so dass er der Überbringer der Myrrhe sein könnte?

Allein es bleiben Vermutungen. Alles ist so verpackt, dass wir zu sehen glauben, aber gleichzeitig nichts von all dem Angedeuteten wirklich sehen. Die Verkleidungen wecken eine Erinnerung, verweisen auf ein weit zurückliegendes Geschehen, das nicht in unserem Sinne dokumentarisch festgehalten wurde und bewiesen werden kann.

Kritisch stellt das Bild mit Weihnachten und Dreikönig verbundene Traditionen auf den Prüfstand: gut ausgeleuchtet und medienwirksam inszeniert, so wie es sich für unsere Zeit gehört. Es knüpft mit der Verkleidung am Brauchtum der Sternsinger an, mit den Einkaufstüten an unserem weihnachtlichen Konsum- und Schenkverhalten.

Durch dieses geradezu schmerzhafte Vorenthalten von allem Menschlichen in einem Bild, in dem es wesentlich um den Menschen geht, ja um Gottes Menschwerdung, wird gleichzeitig die Sehnsucht stark, unter und hinter all den Verpackungen von Weihnachten das Menschliche zu suchen. Im Menschen hat sich Gott offenbart, sich im Menschenkind unseren Vorfahren zu schauen gegeben.

So wie die drei Könige werden wir Gottes Sohn auf dieser Welt nie schauen können. Es bleibt uns die Sehnsucht, der Glaube und die Hoffnung, ihm nach dem Tod zu begegnen und sein Antlitz schauen zu dürfen. Hier auf Erden bleiben wir Suchende seines Antlitzes. Und da, wo wir ihn im Glauben verhüllt in den Geringsten und Ärmsten unter uns finden, können wir ihn auch aus dem Glauben heraus schauen und ehren.

Die Geburt Christi

Der Blick geht durch die Dunkelheit hindurch ins Licht. Denn es ist das Licht, das unseren Blick fängt und mit ihm den ganzen Menschen anzieht, der im Dunkeln steht. Es zieht uns Betrachter in den erleuchteten Raum, in dem die Umrisse einer roten Krone sichtbar sind. Sie mutet wie eine Krippe an, eine Krippe, in der kein Menschenkind liegt, sondern vielmehr eine Kerze brennt.

Die Kerze in der Krone mag klein sein, aber ihr Licht ist voller Leben. Es erfüllt den Raum mit einer Lichtfülle und Wärme, die jene einer Kerze übersteigen. Mit der Krone wird dem Licht Macht und Herrschaft zugesprochen. Dabei deuten die Spuren der Symbolfarbe Rot an, dass es um die Wirkkraft der Liebe und des Blutes geht, die gerade auch im Hinblick auf die Dornenkrönung und den Kreuzigungstod Jesu in der Auseinandersetzung mit Gewalt den Weg des Friedens gehen.

In der näheren Betrachtung lässt die helle Kerzenform in der Krone noch eine weitere Sichtweise zu. Die Lichtgestalt könnte auch einen menschlichen Oberkörper mit Kopf und Schultern wiedergeben. Klein erscheint dieser Mensch in der übergroßen Krone. Doch Jesus ist das Licht und bringt es uns durch sein Wort und sein Leben. Von unten scheint er in diese ihm zugeteilte Aufgabe hineinzuwachsen.

Den Beginn von etwas Neuem deutet auch ein anderes für eine Geburtsdarstellung ungewöhnliches Element an: die Fahne. Denn was wie ein hell erleuchtetes Fenster oder ein Durchgang aussieht, ist vielmehr als Fahne mit linksanliegendem Mast gestaltet. Krone mit der innenliegenden Lichtquelle figurieren als Zeichen. Wieso eine Fahne? Fahnen sind Feldzeichen, welche die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder Körperschaft markieren und diese Information visuell über eine größere Distanz zu übertragen vermögen, so auf dem Meer. Auch bei Eroberungen werden Feldzeichen gesetzt, um die neue Zugehörigkeit klar sichtbar zu machen, so geschehen bei der ersten Mondlandung 1969 durch die Amerikaner. Und genauso wie die Fahnen im Krieg immer den Standort des Befehlenden markierten, so wehen sie in unserer Zeit vor den Regierungsgebäuden von Städten, Ländern und Organisationen. Im Bild schwingt von allem etwas mit: Gott kommt zu den Menschen, die Erde gehört künftig zu seinem Königreich. Alle sollen sehen, dass seine Herrschaft nun beginnt und bei dem liegt, der hier geboren wurde. Auf sein Wort sollen alle hören.

Und obwohl das goldgelbe Rechteck als Fahne gestaltet ist, lädt das lichte Fenster zum Eintreten ein. Denn in der Fahne lässt sich zudem eine Stalltüre sehen, die sicher einen Einblick, aber ebenso ein Eintreten ermöglicht, um den, der hier angekündigt wird, auch in Wirklichkeit zu sehen.

Das Bild lädt den Betrachter somit ein, aus der Dunkelheit herauszutreten, sich ans Licht zu trauen und dort, im Zeigen seines eigenen Gesichts, das göttliche Antlitz zu sehen und zu schauen. Das Bild lädt zum Verweilen ein vor dem Wunder der Geburt Christi und seiner schlichten Herrlichkeit. Seine Herrschaft wird nicht mit demonstrativer Macht offenbart, sondern mit menschlicher Natürlichkeit und Herzlichkeit. Ganz so wie es der Prophet Jesaja angekündigt hat (9,1.5-6): „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. Seine Herrschaft ist groß und der Friede hat kein Ende. Auf dem Thron Davids herrscht er über sein Reich; er festigt und stützt es durch Recht und Gerechtigkeit, jetzt und für alle Zeiten.“

Verkündigung an Maria

In drei quadratischen Bildern entfaltet sich das Geschehen geradezu minimalistisch. Die einzelnen Begegnungsorte heben sich nur geringfügig durch die weiße Farbe vom unbearbeiteten Untergrund ab. In der Weite der Leinwand wurde so ein materieller und gleichzeitig spiritueller Raum mit hoher Reinheit geschaffen. Die Eiform identifiziert ihn als einen Ort des beginnenden Lebens.

Die Handlung ist klein dargestellt und beherrscht doch die weite, leere Fläche, so als wolle damit gesagt werden, dass sie für den ganzen Raum zentral und allein wichtig ist. Die Figuren sind auf Silhouetten reduziert. Es sind lehmfarbene Abdrucke bzw. Wiedergaben von „Protagonisten“ aus berühmten Werken des 15. Jahrhunderts (siehe unten). Auf zeitgenössische Weise aktualisiert und in ein neues Umfeld integriert vermögen sie eine moderne Sprache zu sprechen. Sie stehen im Spannungsfeld von dünnen, senkrechten wie waagrechten, dunklen Linien und vergoldeten Flächen, die leuchten.

Ankunft
Das linke Bild könnte den Untertitel „Ankunft“ haben. Eine engelhafte Gestalt „rauscht“ aus einer raum- und zeitlosen Sternenwelt heran, einer Welt ohne Koordinaten. Die goldene ovale Form könnte ein Ohr darstellen, ein „Geistesohr“ zum Lauschen über das Irdische hinaus. Maria steht in der diesseitigen Welt, am Kreuzungspunkt von Raum und Zeit. Sie ist als Sitzende, als Wartende, als Er-wartende dargestellt. In den Koordinaten kündigt sich schon das Kreuz an, im rechten Bild ist dieser Verweis dann ausformuliert. Die goldene ovale Form weist aber auch schon auf das ewige Antlitz Christi hin.

Berührung
Der mittlere Teil ist zärtlicher formuliert als die äußeren, hier findet eine „Berührung“ statt. Fast aus einem „Nichts“ erscheint der Engel, wie aus einer Wolke sich ins Irdische manifestierend. Zwei Hände berühren einander. Der materielle Raum (als Symbol für die Erde) biegt sich zur Schale, wird empfangend – wobei die konkave Linie auch ein angedeuteter Zeitstrom sein könnte, der den Tiefpunkt überwindet. In der Talsohle (Bildmitte) ist eine Verdichtung aus mehreren Lagen Japanpapier zu beobachten. Die materielle Konzentration bringt zum Ausdruck, dass eine Zeitenwende eingeleitet wurde, die Menschen wieder Boden unter den Füßen erhalten. Auf der „Erhebung“, die sich dadurch gebildet hat, wird Maria vom Himmelsboten zärtlich berührt und lässt sie – dargestellt mit der feinen goldenen Linie – Gottes Kraft spüren.

Gespräch
Im rechten Bild verdichtet sich die Handlung: Zwischen Gabriel und Maria entwickelt sich nun ein Gespräch. Der Engel schwebt nun über Maria und gibt ihr etwas hinunter, das wie ein Tierbein aussieht, aber die Kontur einer Textrolle ist. Maria, in einem Buch lesend, neigt sich nach hinten und wendet sich damit Gabriel zu. Dadurch bildet sie nun selbst eine Art Schale. Auch die strömenden Linien wirken verbindend, lebendige Linien, die über die gesamte Leinwand das Kreuz bilden, ein Leben bringender Tod wird vorverkündet. In die nach rechts führende, also zukunftsweisende Linie sind kleine Punkte Blattgold eingewoben: Gold, das aus einem Baldachin über dem Engel und Maria stammt und nun in die Zukunft hineinfließt. Die Szene spielt sich jetzt völlig in einem verdichteten Zentrum ab, geistig konzentriert und auch eingezogen in den irdischen Weltenkörper. Denn bald wird ein kleines Kind in Bethlehem geboren werden …

Die Protagonisten sind nach Barthélemy d’Eyck, Verkündigungsgruppe, Cathédrale St. Sauveur, 1443-44, Ste. Marie-Madeleine, Aix-en-Provence/Frankreich (Links); Leonardo da Vinci, Verkündigungsgruppe, ca. 1474, Galleria degli Uffizi, Florenz/Italien (Mitte); dem Meister der Sterzinger Altarflügel, Maria, Verkündigungsgruppe , 1456-1459, Deutschordenshaus, Sterzing/Südtirol/Italien (Rechts)

 

Die Betrachtung folgt den Gedanken des Künstlers und gibt diese in Auszügen wörtlich wieder, ohne dass sie als solches gekennzeichnet sind. Der Originaltext ist nachzulesen in: Heimo Ertl, Sabine Maria Hannesen, Norbert Jung: Perspektivenwechsel. Ave Maria – Die Verkündigung an Maria in modernen Kunstwerken, Bamberg 2013, S.118. ISBN 978-3-931432-32-4

Göttliche Inspiration?

Ein helles Rot bzw. Orange bildet die Hauptfarbe. Sie umschließt rechts einen intensiven gelben Bereich und ist gleichzeitig von anderen Gelbtönen überlagert, die in denen sich wiederum orangegesprenkelte Zonen befinden. Der Hintergrund bildet nicht deckend aufgetragene weiße Farbe, links oben und rechts unten eine braun-graue Ecke freilassend. Sie bilden ein Gegengewicht zur Hauptbewegung von links unten nach rechts oben. Die nach rechts orientierte U-förmige Bewegung wird durch den parallelen Verlauf einer blau-roten bzw. blauen Linie verstärkt.

Die Arbeit macht den Eindruck einer zweckfreien Malerei. Noch ist die Pinselführung des Künstlers zu spüren, die teils die Farbe mit klaren Konturen führend, dann wieder die Farbe nach außen spritzen lassend, so dass sie ihre eigenen Wege gehen ging. Damit hat Tobias Kammerer einen Spannungsbogen geschaffen, wie er nur im einzigen Augenblick der Gegenwart seinen Ausdruck findet. Mit diesem Pinselstrich, vielleicht sind es auch mehrere, ist es ihm gelungen einen Zeitpunkt festzuhalten, das Leben in ihm, die künstlerische Freiheit, die Freude am Malen.

Allein schon dieses dynamische Farben- und Formenspiel vermag den Betrachter zu begeistern. Virtuos weiß der Künstler seine Werkzeuge und Farben einzusetzen und miteinander zu kombinieren. Noch erstaunlicher wird es, wenn die an sich freien Farben durch unseren Geist mit festen Formen belegt werden und plötzlich zwei nach rechts blickende Gesichter in der Bildmitte auftauchen, der orange Kopf wegen der in die Luft geworfenen Haare voller Bewegung erscheint, ja zwei dazu gehörige Arme sich nach rechts ausstrecken. Die einen Kopf andeutende Kontur links hinter ihm scheint ihm über die Schultern zu schauen. Doppelte Bewegung nach rechts, die über die beiden Arme über den Bildrand hinausweist. Sie scheinen auf das Unfassbare zu zeigen, das im lichten Gelb zwischen den beiden Armen dennoch irdische Wahrnehmung angenommen hat. Die orange Gestalt scheint sie freudig zu begrüßen, zu umarmen, sie an sich zu drücken. Wer ist wohl dieses Licht gewordene Etwas, das für die beiden so bedeutungsvoll da und doch nicht fassbar ist? Es hat etwas von einem Geist an sich, es mag als Inspiration gedeutet, kann aber genauso als mystische Begegnung mit einer Muse gesehen werden. Was nach antiker Vorstellung nichts anderes bedeutet, als dass gute Ideen schon immer als ein göttliches Geschenk gesehen wurden. Die Gedanken sind frei, in der gelben Farbe einen göttlichen Funken zu sehen, der in der Begegnung mit dem Menschen diesen förmlich anzündet und vor lauter Energie in alle Richtungen explodieren lässt.

Das Bild weckt die Sehnsucht nach göttlicher Inspiration. Nicht nur für Künstler, sondern für und bei jedem von uns! Damit wir über unsere „Bild-(ungs-)Horizonte hinauszublicken vermögen. Damit seine Begeisterung uns anzündet und ermutigt, das Notwendige anzugehen und durch alle Schwierigkeiten hindurch zu vollenden. Damit nicht mein Ego im Mittelpunkt steht, sondern sein Wille.

Verheißung – mehr als ein Lichtblick

Es muss eine traumhaft schöne Nacht sein, wenn so viele Sterne am Himmel sichtbar sind. Die unzähligen Lichtpunkte verwandeln die schwarze Unendlichkeit in ein funkelndes Lichtermeer. Groß und stark steht jedes einzelne Licht am Firmament. Viele von ihnen sind vier-, fünf- oder gar sechseckig ausgeformt – und funkeln wie Kristalle. Um jeden Stern hat sich ein Lichtkranz gebildet, der das tiefe Schwarzblau aufhellt.

So funkelt der Nachthimmel kristallin und klar über dem blassgrünen Grasband, das sich im unteren Drittel quer durch das Bild zieht. Es erdet den Blick zum Himmel, es verortet den Blick ins Weltall. Grünbraun stehen die kurzen Grasbüschel auf dieser Erderhebung, die keinen Blick in die Weite der Landschaft erlauben, sondern die unmittelbare Umgebung, den konkreten Lebensraum als Ausschnitt der ebenso wenig fassbaren Erdoberfläche wie die Weite des Himmels darstellen.

Zwischen den Grasbüscheln sind helle und dunkle Stellen erkennbar, die an Sand erinnern, an eine Steppenlandschaft mit schräg gewehten Grashalmen. Kargheit spricht aus ihnen, Widerstand gegen Trockenheit, Wind und den Wechsel von großer Hitze am Tag und Kälte in der Nacht.

Neben den vielen weißen Lichtern finden sich auch gelbe Lichter, allerdings über die ganze Bildfläche verstreut. Mit ihnen scheinen die Lichtpunkte auf die Erde zu fallen, sie gleichsam zu befruchten und einzelne Gräser in Blumen zu verwandeln. Sie verbinden die Erde mit dem Himmel.

Das Bild kann einfach als Abbildung der Natur gesehen werden. Eine andere Bedeutung kommt ihm zu, wenn das Bild die Schau eines unsichtbaren Betrachters wiedergibt, der wie wir dieses Naturschauspiel sieht. Dem Bild ist zu entnehmen, dass er in einer kargen steppenartigen Landschaft lebt, in der er derzeit keine großen Aussichten hat.

In so einer Situation stand Abraham, als Gott ihm nach der Trennung von Lot viel Land und „Nachkommen zahlreich wie den Staub auf der Erde“ verheißen hat (Gen 13,14-18). Nach der Begegnung mit Melchisedek erneuerte Gott seine Verheißung und konkretisierte, dass ein leiblicher Sohn sein Erbe sein werde. Darauf „führte ihn [Gott] hinaus und sprach: Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst. Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Abram glaubte dem Herrn und der Herr rechnete es ihm als Gerechtigkeit an“ (Gen 15,4-6).

Abraham glaubte das menschlich Unmögliche! Dadurch wurden für ihn die vielen funkelnden Sterne zu Symbolträgern, die Licht in seine menschliche Dunkelheit und Ausweglosigkeit brachten. Sie wurden für ihn zum Sinnbild der Verheißung, dass Gott mit ihm ist und ihn wegen seines unerschütterlichen Glaubens an seine Zusage zu einem Segen für Generationen machen werde. Und in jeder Nacht, in jeder Dunkelheit wurden die Sterne dadurch zu Lichtblicken und zur Ermutigung, im Glauben nicht nachzulassen.

In dem Sinne vermag das Bild an Gottes Verheißung an Abraham zu erinnern. Es ermutigt aber auch, gerade in Zeiten der gefühlten Gottferne oder gar Abwesenheit den Kopf nicht hängen zu lassen, sondern den Blick zum Himmel zu erheben und die Sterne zu schauen. Die Sterne mögen weit weg erscheinen, durch Wolken oft nicht sichtbar sein, dennoch sind sie da. Ebenso ist Gott da, er steht zu seiner Verheißung. Nicht nur an Abraham, sondern an jeden, der wie Abraham Gottes Treue glaubt. Dann werden Sterne über einen Lichtblick hinaus zu Lichtträgern werden, die fest und kostbar wie Edelsteine die Zusage Gottes wach halten.

Austausch – Veränderung!

„Welten“ treffen in dieser Arbeit aufeinander und treten miteinander in Dialog. Da ist die hell bemalte Leinwand, die als Bühne für den Auftritt der drei Hauptakteure dient. Mächtig in der Ausdehnung, doch geschwächt durch den Zahn der Zeit, füllt ein rostiges Blech mit zerfressenen Rändern den unteren Bereich des Bildes. Ihm scheinen zwei schwarze Gestalten zu entsteigen, leicht und unfassbar wie Rauch, und doch wie vom rostigen Element festgehalten.

Alle Darsteller sind mit sich selbst und miteinander im Gespräch. Gleich mehrfach haben sie etwas Dialogisches an sich.

Als erstes erzählt das rostige Blech seine bewegte Geschichte. Sie ist nur bruchstückhaft zu verstehen. Früher muss das Metall hell geglänzt, etwas wasserdicht abgedeckt oder verschlossen haben. Am linken Rand ist deutlich ein kleines rundes Loch auszumachen, an dem es mit einem Nagel irgendwo befestigt war. Am unteren Rand ist eine horizontale Verdickung zu sehen, darüber ein einzelner Riegel. Wozu er wohl gedient hat? Was hat das Blech alles mit- und durchmachen müssen, dass es jetzt so aussieht? Welche Reise hat es zurücklegen müssen, bis es von der Künstlerin gefunden wurde und in dieser Arbeit seinen vorläufig letzten Platz fand?

Zur Bildmitte hin teilt sich das Blech in zwei Bereiche, die sich gegenüberliegen und durch die beiden Auskragungen zur Bildmitte hin einander zugewandt scheinen. Die Rostlöcher und -kanten lassen der Interpretation weiten Spielraum. Ließen sich in den beiden „Armen“ nicht auch Köpfe sehen? Andererseits muten die verrosteten Blechränder wie zerklüftete Küsten im Übergang vom Land zum Meer an. Dann wieder meint man, menschliche und tierische Extremitäten zu erkennen, oder gleich unterschiedliche Gestalten zu sehen, die um einen Viertelkreis herum in Bewegung sind. – Was wird hier für ein Theater gespielt?

Was für eine Rolle spielen die beiden schwarzen Figuren? Sie erscheinen wie Puppen in den mächtigen Fängen eines „Rostmonsters“. Während die linke Gestalt aus dem Kopf der Fantasiefigur zu steigen scheint, vermittelt die aufrecht stehende Gestalt den Eindruck, an ihren spitzwinklig endenden Beinen festgehalten zu werden. Ihre „Köpfe“ befinden sich in etwa auf gleicher Höhe. Die beiden Figuren lassen sich vielleicht am besten mit folgenden assoziativen Wortpaaren beschreiben, die weder auf der einen noch auf der anderen Seite einen Sinnzusammenhang ergeben müssen: Oberkörper – Vollkörper; bewegt – steif; gestikulierend – zurückhaltend; ungehalten – stolz; männlich – weiblich.

Doch auf der Leinwand sind „nur“ Farbreste zu entdecken, Fragmente oder Rückstände (Detailansicht). Ihre Gestalt ergibt sich wie beim Blech aus der Kombination von dem, was übrig geblieben ist, und dem, was wir darin zu sehen vermögen und glauben.

So kommunizieren alle Elemente des Bildes in mannigfaltiger Weise miteinander und verwickeln letztlich auch uns Betrachter in ihren wortlosen Gedanken- und Meinungsaustausch. Es geht um Schein und Sein, um das, was wir glauben zu sehen, um die inneren Bilder, die das Kunstwerk IN UNS wachzurufen vermag im Verhältnis zu dem, was sich wirklich auf der Leinwand befindet. Das rostige Fundstück stellt aber auch die Frage, wie wir mit den mineralischen Rohstoffen dieser Erde umgehen. Die Farbe des Rosts erinnert an die Erde selbst, an ihre weiten Flächen, an ihre Fruchtbarkeit, an ihren Reichtum. – Wie gehen wir mit ihren Schätzen um? Nehmen wir einfach … in der Meinung, dass sie uns zustehen? Oder empfinden wir sie als Geschenke … wofür wir dankbar sind?

Die schwarzen Farbspuren erinnern entfernt auch an Ölverschmutzungen, an im Meer treibende Ölteppiche. Sie vertiefen die Frage des verantwortungsvollen Umgangs mit den gefundenen Ressourcen, aber auch mit den von uns veränderten und umgestalteten Materialien. Wie geben wir die von uns gebrauchten Lebensmittel (im weitesten Sinne) wieder der Natur zurück? Geben wir wirklich etwas … oder hinterlassen wir vielmehr? Kennen wir noch eine angemessene Beziehung zur Natur und einen daraus resultierenden fairen Gütertausch mit der „Mutter Erde“ … oder ist sie einfach eine temporäre Goldgrube, die gleichzeitig von unserer Wegwerfgesellschaft unendlich belastet wird?

Es ist gut, wenn Welten aufeinandertreffen. Das regt das Gespräch und den Austausch an. Das stellt Fragen und stellt in Frage. Das sensibilisiert unsere Verantwortung und fördert unser Engagement. Für die ganze Erde, ihre Ressourcen, alle ihre Lebewesen.

Kleid des Lebens

Wie ein Ausstellungsobjekt befindet sich das Kleidungsstück in der Mitte des Bildes. Es hebt sich durch seine Andersartigkeit vom unmittelbaren weißen Umfeld ab. Das faltig aufgeklebte Trägermaterial auf dem flachen Hintergrund sowie das Farbenspiel von Weiß, Ockergelb und Braun lassen das Kleid plastisch hervortreten und wirklichkeitsnah erscheinen.

Die leichte Taillierung, die Betonung des Brustbereichs und die Andeutung einer schmückenden Bordüre als unteren Abschluss des Kleides machen es zudem zu einem weiblichen Gewand. Der feminine Charakter des Kleidungsstücks wird verstärkt durch den flächigen Hintergrund mit drei markanten schwarzen Kontrasten, die diagonal das Bild von links unten nach rechts oben queren. Sie wirken wie Maueröffnungen in einem weißen Fassadenfragment, die einen Durchblick auf einen undurchdringlich schwarzen Hintergrund freigeben. Ob es eine Bedeutung hat, dass die oberste Öffnung als Pluszeichen ausgeformt ist?

In diesem Spannungsfeld schwebt das Kleidungsstück, das die Künstlerin als „weißes Hemd“ betitelt. Sie sieht in dem Kleid oder verbindet damit wohl ein einfaches, direkt auf der Haut getragenes, lebensnotwendiges Kleidungsstück. Das Kleid im Bild ist ein schlichtes, aber auch ein schönes Kleid. Es könnte ein Unterhemd oder ein Unterrock sein, hat aber auch festlichen Charakter. Es ist nicht mehr blütenweiß, sondern gibt sich vom Leben gezeichnet und durchdrungen als Gebrauchsgegenstand.

Ohne weiteren Bezug zu einem Menschen vermag das „Hemd“ verschiedene Impulse zu vermitteln.

Gerade weil das Kleid „leer“ oder „inhaltslos“ im Bild steht, thematisiert es unser Grundbedürfnis, uns zu bekleiden. In einer Zeit, in der Kleider Massenware sind und oft zu Schleuderpreisen angeboten werden, aber auch nach einer Saison ihr Verfallsdatum erreicht haben, ist der Gedanke kaum mehr präsent, dass Nackte zu bekleiden zu den Werken der Barmherzigkeit gehörte und immer noch gehört. Es muss zwar niemand mehr bei uns nackt herumlaufen, aber es gibt dennoch genug Menschen auf der Welt, die sich auch die billigsten Kleider nur schwer leisten können. Kleidersammelstellen oder Kleidersammlungen erinnern daran, dass gut erhaltene Kleidungsstücke immer noch einen Wert haben und viel Gutes bewirken können.

Als „Schaustück“ öffnet das Kleid auch die Gedanken an alle, die am Entstehungsprozess eines Kleidungsstücks beteiligt waren und an die oft nur kurz gedacht wird, wenn die Medien von Kinderarbeit, menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und ungerechten Löhnen berichten. Wie können von dem Geld, das ich für ein Kleidungsstück bezahle, all die Menschen leben, die am Entstehungsprozess beteiligt waren? Vom Hersteller/Anbauer der Faser, demjenigen der die Fasern zu einem Faden spinnt und zu einem Garn zwirnt, über die Weber-, Schneider-, Näher- und Verkäuferinnen bis zu den Menschen, welche die Ware von einem Ort zum anderen transportieren?

In seiner Lebendigkeit erinnert das Kleid zudem, dass wir mit Kleidern vieles erleben und sie dadurch auch Erinnerungsstücke oder Träger von Erinnerungen sind. Denken wir nur an Hochzeits- oder Sonntagskleider. Oder an Kleidungsstücke, die uns bei bestimmten Tätigkeiten über Jahre hinweg begleitet und geschützt haben (z.B. bei der Arbeit, im Garten, beim Sport usw.). Sie sind uns wichtig geworden und gehören einfach dazu. Manche Kleidungsstücke werden sogar von Generation zu Generation weitervererbt. Zu Ihnen gehören insbesondere die Kleider, die für „hohe Zeiten“ des Lebens geschaffen worden sind. Lässt die offene Gestaltung des „Hemds“ nicht Verbindungen zu einem Tauf-, Erstkommunion- oder einem Brautkleid zu? Ja, aus christlicher Sicht sind auch Taufe und Erstkommunion „Hochzeiten“. Bei der Taufe ist das Kleid Ausdruck, dass der Täufling „Christus anzieht“, dass er in ihm ein neuer Mensch wird und in die Lebensgemeinschaft der Christen eingeht. Bei der Erstkommunion wird die Lebensgemeinschaft durch die Teilnahme an der Mahlgemeinschaft mit Christus vertieft. Als Hochzeits- oder Brautkleid ist das Kleid schließlich Ausdruck der Freude, mit dem liebsten Menschen den Bund für’s Leben zu schließen.

Nur ein Hemd? Nein! Möge das Kleid uns anregen, Kleider wieder bewusster zu kaufen, zu tragen und weiterzugeben. An ihnen „hängen“ mehr Menschenleben als wir denken. Und sie sind Träger von Erlebtem, von Leben!

Tod und Leben

Der Totenkopf ist wahrscheinlich das Erste, das wir beim Betrachten des Bildes erfassen. Mit großen runden, doch leeren Augenhöhlen „schaut“ er aus dem Bild heraus und grinst uns an. Sein Schädel ist aschgrau. Bezeichnenderweise ist er mit Kohle gezeichnet, einem pflanzlichen Material, das bereits einen Verwandlungsprozess durchgemacht hat. Auch formal wird die Vergänglichkeit sichtbar: Zum einen durch das fehlende bzw. wie ersetzte Stück Schädeldecke, zum anderen durch die Verformung zur rechten Bildecke hin.

Etwas kleiner, doch auch in rundlicher Form, ist dem Totenkopf auf der anderen Bildseite eine lichtgelbe Erscheinung mit feinen Zacken gegenübergestellt. Von ihrer Form her erinnert sie an eine Sonnenblume, von der Farbe her mehr an die Sonne selbst. Die hellgelbe Farbe wirkt kraftvoll und lichtdurchdrungen, der Pinselstrich bewegt. Somit stehen mit Sonne und Totenschädel Ursprung und Ende des Lebens einander gegenüber, Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, unendliche Bewegung und Erstarrung.

Zwischen und über den beiden Bildprotagonisten befinden sich grüne Elemente auf schwarzem Untergrund. Zuerst scheinen sie einfach einen ornamentalen Hintergrund für diese Gegenüberstellung zu bilden. Doch mit der Zeit werden Assoziationen an ein Blätterwerk wach, erinnert die T-Form an einen Baum voller Blätter und Leben, ja lässt sich sogar ein Lebensbaum in symbolischer Kreuzform sehen. Noch einen Schritt weiter meint man den Gekreuzigten selbst zu erkennen, wie er mit weit ausgestreckten Armen schützend Sonne und Schädel umarmt und ihnen links und rechts von seinem Kreuz einen Platz gibt.

Damit wird der Lebensbaum zum zentralen und entscheidenden Bildelement. Flächenmäßig etwa gleich groß wie die Sonne und der Totenkopf, jedoch dunkler von der Gestalt her, verbindet er die beiden und gibt ihnen Halt. Dieses zum Lebensbaum erweckte Kreuz steht primär für Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist und dem vom Vater das neue, unvergängliche Leben geschenkt wurde. Gleichzeitig verweist das lebendige Kreuz auf das Paradies, auf den „Baum des Lebens“ in seiner Mitte (Gen 2,9).

Das Kreuz ist der neue Baum des Lebens und, wie die blauen Stellen im unteren Bereich andeuten, auch die Quelle ewigen Lebens. Aus der Seitenwunde von Jesus floss Wasser und Blut (Joh 19,34). Er selbst hat gesagt, „wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“ (Joh 4,14)

Auch der Totenschädel darf in Verbindung mit dem Paradies gesehen werden. Am Fuße des Kreuzes bezieht er sich auf den alten Adam, durch den die Sünde in die Welt gekommen ist, während Jesus, der die Welt von der Sünde erlöst hat und das ewige Leben brachte, als neuer Adam bezeichnet wird.

So markant der Totenschädel also die menschliche Endlichkeit zur Sprache bringt, so erzählen das Kreuz und die Sonne von der Überwindung dieser Grenze. Die Künstlerin hat diesen Prozess nicht in Leserichtung, sondern von rechts nach links dargestellt. So ist es, als würde der Tod rückgängig gemacht. Jesu Tod und Auferstehung haben den Tod entmachtet und den Gläubigen unvergängliches, ewiges Leben geschenkt. Dafür stehen die Sonne und ihr Licht. Und sie erinnern jeden Tag neu: Auferstehung ist jetzt. Das Licht hat gesiegt, die Erstarrung ist vorbei! – LEBE!

Glühen für Gott

Ein Menschenkopf zeigt sich von der Seite gemalt im Profil. Hals, Kinn, Nase, Stirn und Auge sind zu erkennen. Allerdings sind weder Mund noch Ohren oder Haare zu sehen. Auch die Farben entsprechen nicht der Realität. Alles an diesem Menschenkopf ist nur zeichenhaft gemalt, deutet aber auf einen tieferen Sinnzusammenhang. Diesbezüglich kann dieser Kopf für jeden Menschen stehen, für jede Frau, für jeden Mann. Und es geht offensichtlich nicht um äußere, sondern um innere Wirklichkeiten.

An der Stelle des Auges ist eine blaue, mandelförmige Erscheinung zu erkennen. Farblich korrespondiert sie mit dem Zeichen des Kreuzes im Nacken und den partiellen Umrisslinien auf der linken Seite des Kopfes. Zwei gelbe Linien kreuzen das Auge und verstärken die Dynamik des Bildes von rechts unten nach links oben, vom hellblauen Kreisfragment zur lichten Goldfläche über der Stirn. Denn durch die gelben Linien wird die Mandelform zur Sammellinse, bei der sich parallele Lichtstrahlen in einem Punkt hinter der Linse, dem Brennpunkt, sammeln. Vom Kreuz ausgehend, wird so unser Blick zur leuchtenden Goldfläche gelenkt. Anscheinend ist es das Kreuz im Nacken, das die Sehweise des Gläubigen verändert und die vor ihm liegende Herrlichkeit überhaupt sichtbar werden lässt.

Der leicht nach hinten geneigte Kopf und der sich durch die roten und rötlichen Farben ergebende Viertelkreis unterstützen und verstärken diese Blickrichtung. Dadurch wird das hellblaue Kreissegment kräftemäßig zu einem starken Element, das an den Himmel erinnert und in den helleren Punkten sogar Sternbilder erahnen lässt. Ob es als himmlische Kraft gedeutet werden darf, als Nackenstütze des Glaubens, die Halt gibt und gleichzeitig sanft die Blickrichtung weist?

Erfüllt von den Farben des Feuers und der Glut, wird der Menschenkopf zu einem Lichtbogen. Vom Feuer durchdrungen und beseelt, vom Licht erfüllt, Hell und Dunkel in sich tragend, scheint er voller Spannkraft für Gott zu glühen. Seine Stirn berührt dabei die goldene Fläche und das Licht. Beides sind Symbole für Gott und spirituellen Reichtum, den wir erstreben. „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Ps 73,28), schreibt der Psalmist als Quintessenz seiner Überlegungen und Gebete. Dieser Mensch ist Gott ganz nahe. Er darf es sein mit seinen leuchtenden und mit seinen stumpfen Seiten, mit seinem vorausschauenden wie auch mit seinem reflektierend rückwärts gerichteten Blick (dunkle Silhouette in hellrotem Trapez).

Alles in allem überwiegt seine Begeisterung, sein Glühen für Gott. Beinahe meint man ein Lächeln dort zu sehen, wo gar keine Lippen sind. Gottes Geist schenkt Erkenntnis und Leben in Fülle.