Liebesbeweis

In Paris gibt es am Montmartre nahe der Place des Abbesses eine künstlerisch gestaltete Mauer, die ganz der Liebe gewidmet ist. Die Liebeserklärung par excellence ist hier in 311 handschriftlich individuellen Varianten in 250 Sprachen und Dialekten wiedergegeben. Von 1992 an sammelte der Sänger Frédéric Baron mit seinem Bruder in der ganzen Welt den Schriftzug „Ich liebe dich“, um dann die Kalligraphin Claire Kito zu beauftragen, die gesammelten Versionen künstlerisch zu bearbeiten und sie zu arrangieren. So entstand im Jahre 2000 „Le mur des je t’aime“ – die „Ich-liebe-dich-Mauer“. Die Kacheln im A4-Format erinnern an die damals noch analog auf A4-Papier gesammelten Schriftzüge. Die eingestreuten roten Farbflecken sollen Stücke gebrochener Herzen darstellen und der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die zersplitterte Menschheit durch die Kraft der Liebe wieder vereint werde (Quelle: Wikipedia).

Ein Ausschnitt dieser 40 m2 großen Mauer wurde in dem Moment fotografiert, als eine Frau in orangerotem Mantel und weißer Mütze darunter vorbeilief und sich genau zwischen drei roten Fragmenten befand. Der in der Unschärfe der Frau wiedergegebene flüchtige Moment ist ein Zeichen der Zeit. Der universelle Satz „Ich liebe dich“ findet so in einem manifesten Individuum eine konkrete menschliche Gestalt und es entsteht ein Dialog zwischen den vielen Liebeserklärungen und der einen Frau. In welcher Sprache hat sie wohl einem Mitmenschen gesagt, dass sie ihn liebt? Ist sie glücklich verliebt oder trägt sie den Schmerz und die Wunden einer zerbrochenen Liebe in sich? Die zwischen den weißen Schriftzügen eingestreuten roten Farbpunkte können von der Frau ausgehender Ausdruck hochfliegender Gefühle als auch Fragmente einer zerbrochenen Liebe sein. Ob sie die vielen Liebesbekundungen aus aller Welt vorübereilend – en passant – überhaupt wahrnimmt oder sie sogar auf sich bezieht und sich so in diesem Moment geliebt fühlt?

Den auf dieser Wand versammelten Liebesäußerungen wohnt eine gewaltige Kraft inne. So unterschiedlich die berühmten drei Worte in den verschiedenen Sprachen auch lauten, sie bringen einen Menschheitssatz zum Ausdruck, das menschliche Grundbedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Die Liebe ist so weit und tiefgründig, so unerschöpflich und geheimnisvoll wie der Ozean, den die tiefblau glasierten Kacheln andeuten. Wobei das Bild mit dem Meer beides andeutet: überschäumende Freude, grenzenlose Weite, tiefe Sehnsucht, absolutes Lebenselixier, … aber eben auch seine Unberechenbarkeit: unfassbare Kraft und Gewalt, grundlose Tiefe, bedrohliche Gefahr.

Neben der Liebe zwischen Menschen können die Liebesbotschaften auch aus zwei weiteren Perspektiven gesehen werden: Zum einen als Liebeserklärung Gottes an uns Menschen, die Gott nicht nur in allen Sprachen und Dialekten dieser Welt zu uns spricht, sondern auf einzigartige und individuelle Weise zu jedem Einzelnen. Gottes Liebe ist die Quelle unserer Liebe: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen.“ (1 Joh 4,16) Unsere Gott antwortende Liebe ist die dritte Sichtweise, denn, wer Gott liebt wird auch zu ihm sagen können: „Ich liebe dich“. Für den Autor des ersten Johannesbriefes ist diese Liebe untrennbar mit dem Respekt und der Liebe zu allen Menschen verbunden: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder [= seinen Mitmenschen] hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“ (1 Joh 4,20)

So mag der tiefblaue Hintergrund auch andeuten, dass unsere Liebe zueinander von einem unbeschreiblich Größeren, Transzendenten oder eben von Gott gehalten wird und aus der starken Bindung an IHN hervorgeht. Die weißen Schriftzüge vermitteln die Liebe als etwas Positives und Lichtvolles, das jeder dem anderen schenken kann.

Beim Nachdenken über die Bedeutung der Aussage „Ich liebe dich“ wird klar, dass die Liebe eine gewaltige Kraft ist, welche Menschen verbindet und ihre Lebensbedingungen positiv beeinflusst und zum Guten zu verändern vermag. „Ich liebe dich“ ist eine Ich-Botschaft, bei der das Du im Mittelpunkt steht. „Ich liebe dich“ bringt ein Gefühl zum Ausdruck, ein Hingezogen-Sein zum anderen, ist aber darüber hinaus auch eine Haltung der Wertschätzung und des Respekts, der Fürsorge und des Schutzes. „Ich liebe dich“ heißt in den Alltag übersetzt: Ich mag dich, ich bin froh, ja glücklich, dass es dich gibt, dass du da bist. Und weil du mir viel bedeutest, suche ich deine Nähe und möchte so viel wie möglich mit dir teilen, ich will für dich sorgen und darauf achten, dass dir nichts passiert. Dieser liebevolle Blick mit einem offenen Herzen erkennt wesentlich mehr als die sichtbare Gegenwart des Geliebten. In der Liebe nehme ich den anderen in der Tiefe und in allen Dimensionen wahr und an. Die Liebe das Herz, so dass ich über den oder die Geliebten im unmittelbaren Umfeld hinaus auch „Ich liebe dich“ zu allen Menschen meiner Zeit sagen kann. Ganz im Wissen, dass wir als Weltgemeinschaft voneinander abhängig sind und dass ihr Wohlbefinden auch mein Glück bedeutet. Wo wir einander im Respekt der Liebe begegnen, wird nicht nur Paris eine „Stadt der Liebe“ sein, sondern die ganze Erde zu einer „Welt der Liebe“ werden.

 

Diese Fotografie ist wiedergegeben im Katalog WRITTEN ON THE WALLS, 2023, 96 Seiten, 50 Fotografien. ISBN: 978-3-910311-05-3. Mit Textbeiträgen von Nora Gomringer, Claudio Ettl, Walter Leimeier, Hans-Walter Ruckenbauer und Ludger Verst. Der Katalog kostet 18,00 EUR und kann beim Künstler bezogen werden: mail@manfred-koch-fotografie.de.
Hier können Sie einen Blick in den Katalog werfen (PDF)

Mitten im Alltag

Es ist nur ein Kleiderbügel – ein billiger Kleiderbügel aus Plastik – der an der Wand hängt. Unbenutzt, arbeitslos, doch dem verformten Pendant unter sich eine Art schützendes Dach gebend. Dekonstruiert lassen unten nur Haken, Mittelteil und der Vergleich der einzelnen Elemente mit der Vorlage den ursprünglichen Gegenstand erkennen.

Die Umformung fordert zunächst auf im eher chaotischen „Trümmerhaufen“ nach „Überlebenden“ bzw. nach sinnstiftenden Elementen zu suchen. Nach und nach nehmen die einzelnen Teile eine sinngebende Gestalt an und lassen eine Krippe erkennen – mitten im Alltag, an der Garderobe, im Übergang von draußen nach drinnen, gleich hinter der Türe. In der Mitte einander gegenüberstehend Maria und Josef, links daneben ein Hirte mit einem Lamm, dahinter ein Esel und ein Ochs. Auf der anderen Seite nähern sich drei Personen, die sowohl für die Hirten als auch für die drei Könige stehen können.

Aber wo ist das Kind? Der Titel sagt doch, „Gott ist immer mittendrin”. Liegt es vielleicht hinter Maria und Josef geschützt im Dunkeln? Unter dem kleinen Bogen in der Mitte ist ein Kinderkopf auszumachen. Gott will offensichtlich nicht an der Front mitmischen, sondern liebt mehr die verborgene Position – unterm Kleid oder im Kleiderschrank. Er muss nicht glänzen, um gegenwärtig zu sein. Es genügt ihm, da zu sein, eine tragende Funktion zu haben. Wie die Krippe, so einfach und unperfekt, ohne Glanz und Gloria.

Die Frage nach dem Kind beinhaltet auch die Frage nach Gott. Jede Frage ist eine Suche und je offener sie gestellt bzw. gestaltet wird, umso mehr kann man Gott in allem Möglichen entdecken, sogar in einem Kleiderbügel. Gott ist kein Sonntagsgott. Er ist jederzeit und allerorts alltagstauglich. Gott ist da an jedem Tag im neuen Jahr und offenbart sich in den unmöglichsten Situationen als erstaunlich gegenwärtig wie – mit diesem Bild im Kopf – ab heute auch im schwarzen Plastikkleiderbügel an der Garderobe.

 

Die Kleiderbügelkrippe war vom 05.11.2022 bis 22.01.2023 Teil der 82. Telgter Krippenausstellung “Mittendrin” im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte. 

Geheimnisvolles Zusammenspiel

Rätselhaft gibt sich die Assemblage aus altem Holz, aufgesetzten Metallteilen und blauem Glas. Die Arbeit aus Fundstücken lebt von Gegensätzen wie rund – eckig, oben – unten, außen – innen, geschlossen – offen, aber auch durch Dreiklänge wie Metall – Holz – Glas oder die drei zentralen Rundformen aus verrostetem Eisenblech.

Bei der Annäherung an das Rätsel bildet die gestemmte Holztür die Grundlage und den Rahmen. Sie formt das rechteckige Pendant zu den drei Kreisformen im oberen Drittel. Im Zusammenspiel erscheinen sie wie ein Haus, bei dem die drei Metallteile das Dach bilden und sich vertraute Elemente wie die Öffnung oder der blaue Glasstein in der Türfüllung wiederfinden. Zwei sich gegenüberliegende flache Bogen betonen die sich nach unten öffnende Bewegung und formen gleichzeitig einen geschützten Innenraum.

Jedes einzelne Element des Werkes ist gleichsam energetisch aufgeladen mit seinem sinnlich-physischen Dasein und seiner Geschichte und weist doch im Zusammenhang darüber hinaus. Die drei Kreiselemente vermögen in ihrer runden Vollkommenheit die Unendlichkeit und die Dreifaltigkeit Gottes anzudeuten. Darunter findet sich in der rechteckigen Tür als Symbol für die Erde als viertes Kreiselement ein rundes Loch, das kreuzförmig mit Flacheisen versperrt wurde und deshalb an den Kreuzestod Jesu erinnert. So wie dieses Loch mit der Öffnung ganz oben korrespondiert, stehen die beiden blauen Glasstücke miteinander im Dialog. Während das obere im Kreis unzugänglich fern wirkt, erscheint das größere, herzförmige Glas näher und durch die offenen seitlichen Bogenformen greifbarer. Senkrecht von oben nach unten betrachtet thematisiert das Werk Entäußerung, Niederkunft, Gestaltwerdung im Herzen der Schöpfung und insbesondere des Menschen.

Denn die Assemblage kann auch als vereinfacht dargestellter menschlicher Oberkörper gelesen werden: Die oberste Kreisform als Kopf, die anderen beiden als Schulterpartie, die knochenartigen hellen Bogen als Rippen des Brustkorbs und gleichzeitig als bewahrende Arme oder große Hände vor dem rechteckigen Oberkörper. Bereits 2008 hat Jörgen Habedank eine ähnliche Assemblage geschaffen, die er „Heilige Umarmung der Welt“ genannt hat. Dieses Umarmende, Beschützende, Geborgenheit und Lebensraum Schenkende kulminiert in dem blauen Herz. Die Beleuchtung intensiviert seine Strahlkraft und lässt es noch lebendiger wirken.

In der Mitte der beiden „Rippenbogen“, die auch als offenbarende und verherrlichende Mandorla oder als symbolische Krippe gesehen werden können, gewinnt das himmelblaue Herz eine besondere Bedeutung: In seiner blauen Farbe schwingt die Symbolik des Saphirs mit, der als Edelstein mit der stärksten Energie gilt und für Reichtum und Weisheit steht. In ihm leuchtet die Weite des Himmels und die Tiefe der Ozeane, geheimnisvoll verborgen auch der Gottessohn.

So verwandeln sich die weggeworfenen Fundstücke durch den Künstler in Objets trouvés und erhalten im Zusammenspiel der Assemblage eine weitere Bedeutung und neues Leben: Die Geburt des Gottessohnes in der Welt und insbesondere in den Menschenherzen andeutend.

 

Die Assemblage war Teil der 82. Telgter Krippenausstellung “Mittendrin” im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte. Die Ausstellung war mit über 120 zeitgenössischen Ausstellungsstücken bis zum 22. Januar 2023 zu sehen.

Weitere Assemblagen des Künstlers

Die Antwort zur Frage

In einer sternförmigen Glasflasche schwebt mittig ein kleiner Schlüssel. Er hängt an einem feinen Faden am Korkpfropfen, der die Flasche verschließt. Die einfache Kombination regt zu vielfältigen Fragen an.

Wieso wurde der Schlüssel in diesen gläsernen Safe gehängt? Er ist wie ein Schaustück sichtbar und wird gleichzeitig hinter Glas unberührbar weggesperrt. Wozu ein Schlüssel und welches Schloss vermag er aufzusperren? Wer darf ihn aus der Flasche nehmen, um damit welche Tür zu welchem Raum zu öffnen? Auf welche Fragen wird er eine Antwort geben?

Die Sternform der Flasche lässt uns an dunkle Tages- und Jahreszeiten und vielleicht auch an die Advents- und Weihnachtszeit denken. Der Stern führte die drei Magier aus dem Osten zum menschgewordenen Gottessohn. Er weckte die Sehnsucht der drei Männer nach dem lebendigen Gott und offenbarte ihnen ein neugeborenes Kind.

Kann man den Schlüssel als Symbol für Jesus sehen und den Stern gleichsam als seine Krippe oder sogar als lichten Christusträger? Auch wenn der Glasstern nicht leuchtet, so verweist er doch auf eine vom Licht durchflutete, immaterielle Herkunft und der Schlüssel auf eine ihm innewohnende materielle, in Jesus menschgewordene Zukunft. Ist unser Herz die Antwort auf Seine Suche nach einer Herberge, so wie Angelus Silesius es auf den Punkt gebracht hat: „Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren“? Soll das Herz durch IHN wie ein Stern leuchten – weil ER der Schlüssel zu Gott, zur Erkenntnis, zum Glück, zum Seelenfrieden, zur Freude, zur Freiheit und vielem anderem Lebenswichtigem ist?

Fragen sind die Triebfedern der Suchenden: Die Leute haben Johannes den Täufer gefragt „Wer bist Du?“ (Joh 1,22), weil sie den Messias, den Retter ersehnt und gesucht haben. In der O-Antiphon des 21. Dezembers („Gott, send herab uns deinen Sohn“, 5. Strophe) wird Jesus besungen als „O Schlüssel Davids, dessen Kraft befreien kann aus ewger Haft: Komm, führ uns aus des Todes Nacht, wohin die Sünde uns gebracht.“ Die Schlüsselantwort Jesu auf die Frage der Suchenden ist: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ (Joh 14,6)

Der einsame Schlüssel ruft in Erinnerung, dass Jesus der Türöffner zum Himmel, zum Vater ist. Der einsame Schlüssel möchte berühren, die Schlösser und Türen unserer Herzen aufsperren, damit sie weit offen für die Begegnung und die gelebte Gemeinschaft mit Gott, unserem Vater, werden. ER ist die Antwort, auf die Frage.

 

Der Stern von Bethlehem

Der Stern von Bethlehem
leuchtet hinein
in unsere Dunkelheit
der inneren Unruhe,
des Überfordert- Seins,
des Machtstreites
untereinander,
der Lieblosigkeit,
der Verzweiflung
und der Unfähigkeit
zum Handeln.
Du, Stern von Bethlehem,
laß dein Licht
unsere Seelen erhellen
und uns zu Taten
der Liebe bewegen.

© Gudrun Kropp

Das Objekt war Teil der 82. Telgter Krippenausstellung “Mittendrin” im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte. Die Ausstellung war mit über 120 zeitgenössischen Ausstellungsstücken bis zum 22. Januar 2023 zu sehen.

Reliquiensch(r)ein

Neun schwarze Einkaufstüten sind in drei Reihen nebeneinander angeordnet und werden in ihrer unterschiedlich großen rechteckigen Erscheinung präsentiert. Sie geben sich in ihrem edlen, dunklen Outfit vornehm, geheimnisvoll verhüllend und suggerieren einen kostbaren Schatz im Innern.

Auf allen Tüten leuchtet ikonisch der Markenname, der über das eigentliche Kaufereignis hinaus die Werbung für das jeweilige Haus fortsetzt. Er ist überall mittig angeordnet, steht folglich im Zentrum, und wirkt wie ein Licht in der Dunkelheit. Nomen est omen. Die Firmennamen sprechen für sich, für das Ganze des Unternehmens als auch jedes ihrer Produkte, die in diesen Tüten nach Hause getragen worden sind.

So sind die Tüten Einkaufsreliquien, „Zurückgelassenes” und „Überbleibsel“ (lat. reliquiae) unseres modernen, auf Konsum ausgerichteten Lebensstils. Einige Tüten stammen sogar aus einem Hotel in Venedig, wo chinesische Touristen sie im Foyer zurückgelassen haben. Diese Verpackungen sind Ikonen des Luxus, Relikte moderner Heiliger mit vorgetäuschten Wundern und vergänglichen Heilsversprechen. Der Künstler hat sie mit weißen und roten Bändern oberflächlich ins liturgisch Feierliche erhoben. Doch die Bänder sind ebenso eine ästhetische Kosmetik wie die Tüten fälschlich auf Werte hinweisen, die scheinbar wesentlich zum Leben gehören.

Der moderne Reliquienschrein weckt die Frage nach dem wahren Sein hinter dem Schein der Konsumwelt. Er erzeugt Aufmerksamkeit durch das Gegenteil. Wie würden die Menschen reagieren, wenn auf einer Tüte in weißen Großbuchstaben GOTT stünde? Welches Geheimnis würde sich dann in der Tüte verbergen? Für welches „Unternehmen“ oder welche „Produkte“ würde GOTT als ikonischer Markenname stehen?

Ursprünglich wurden in vielen religiösen Gemeinschaften die Reliquien von Personen verehrt, die im Rufe besonderer Heiligkeit und Gottesnähe standen. Die sterblichen Überreste sind bleibende Zeitzeugen, in denen sich von Gottes Geist erfülltes Leben über die Jahre hinweg verdichtet abgelagert hat und deshalb seine Ausstrahlung  andauert. Die „dekorative“ Ausgestaltung der Gebeine ehrt die Heiligen und verlebendigt die Erinnerung an das Besondere in ihrem Leben. Der Inhalt der Markentüten steht für eine andere Form von Leben. Das Konsumleben, für das die Markennamen stehen, war für die Menschen zu der Zeit, in der die Heiligenreliquien gesammelt und verehrt wurden, gar kein wahres Leben. Denn wahres Leben war für sie nicht vergängliches Leben, sondern allein ewiges Leben. Auf dieses Leben haben sie sich seit jeher durch immaterielle Werte und innere Haltungen vorbereitet, um nicht durch äußeren Glanz als „Scheinheilige“ in Verruf zu kommen.

Bildvariante mit farbigen Tüten
Bildvariante mit goldfarbenen Tüten

Das Wesentliche schauen

Was für eine Überraschung! Bei dieser Krippendarstellung gibt es in Wirklichkeit keine Krippe, kein Jesuskind, keine Maria und keinen Joseph, auch keine Besucher wie Hirten oder Könige. Diese „Krippe“ besteht nur aus Elektroschrott, aus Platinen, Schaltern, einer Spule, abgerissenen Kabeln etc. Vermutlich stammen sie aus einem Computer. Die einzelnen Teile sind so angeordnet, dass die chaotisch wirkende Zusammenstellung durch das Licht einer Lampe aus einem bestimmten Winkel Schatten an die Wand werfen. Überwölbt vom hellen Lichtkegel ist der Schattenwurf einer Futterkrippe zu sehen, aus der Stroh heraushängt und in der ein Säugling liegt. Von ihm sind der Kopf, eine Hand und ein Fuß zu sehen. Am Boden wirft das Licht die Silhouette einer Kerze oder einer Babytrinkflasche und rechts daneben den Griff einer Schaufel in einem Eimer an die Wand.

Welch ein Kontrastprogramm: Im Vordergrund türmt sich eine Ansammlung von ausgedientem Elektroschrott, während die frohe Weihnachtsbotschaft im Hintergrund ein Schattendasein fristet. Normalerweise halten wir das Schattenbild für einen trügerischen Schein und das dazugehörende dreidimensionale Objekt für die wahre Realität. Hier ist es umgekehrt: Das Schattenbild vermittelt das Wesentliche. Durch das genau ausgerichtete Licht wird das sonderbare Chaos in eine frohe Botschaft verwandelt. Nur durch das Licht wird in der Installation auf irritierende und faszinierende Weise das weihnachtliche Wunder der Menschwerdung sichtbar.

Das Kunstwerk ist eine Art Gleichnis: Auch wir Menschen sind für die Entdeckung und das Erkennen des Gottessohnes auf Licht angewiesen, ob es nun ein Stern, ein Engel, ein Geistesblitz oder eine innere Erleuchtung ist. Ohne diese Befähigung könnten wir nicht mit dem geistigen Auge über das Vordergründige einer Ansammlung von Konsumgütern oder auch eines süßen Kindleins in der Krippe hinwegsehen und seine irdische Gegenwart so durchdringen, dass wir in ihm Gottes Sohn und unseren Heiland schauen und verehren.

Wie die Elektroteile früher im Rechner des Computers Bilder auf den Bildschirm zauberten, so projiziert das Licht nun ein Schattenbild an die Wand. Ebenso soll Gott in uns aufleuchten und durch uns als Mensch geboren werden, damit ER für alle auf vielfältige Weise sichtbar und erlebbar wird. Wie in dieser Installation ereignet sich das weihnachtliche Geschehen immer wieder wunderbar und gleichzeitig unspektakulär im Stillen – ohne die kleinste Beachtung durch Dritte wie Hirten, Könige oder die Eltern. Und doch erneuert und verändert jedes noch so unscheinbare weihnachtliche Geschehen, in dem Gott sichtbar Mensch wird, wesentlich das Antlitz der Erde.

 

I M M A N U – E L

Ins Zeitendunkel ist die Nacht entschwunden,
In der ein Stern erstrahlte – klar und hell,
In der sich Erd‘ und Himmel neu verbunden,
In der geboren ward Immanu-El.

Zwar vieles könnte heut‘ nicht mehr geschehen:
Dass Hirten hör‘n der Engel Lobgesang,
Dass heil‘ge Könige zum Himmel sehen
Und folgen dann des neuen Sternes Gang.

Doch in der Flucht der Zeit bleibt unverloren
Das Ewige, das uns erschien in jener Nacht.
Von neuem wird das WORT in dir geboren,
Das einst im Stalle ward zur Welt gebracht.

Ja! Gott mit uns – nicht dort, in Himmelszelten
Und nicht in Sturmeswehn, in Feuer nicht und Streit,
Und nicht in Fernen unerforschter Welten,
Und nicht im Nebel der Vergangenheit.

Nein: hier und jetzt: im eitlen Weltgetriebe,
Im trüben Lebensfluss, im Alltagstrott
Tönt uns die Botschaft von der ew‘gen Liebe:
Besiegt sind Not und Tod – mit uns ist Gott.
Wladimir Solowjow (1853-1900)

 

Jens Henning hat mit seiner Krippe den Bischof-Heinrich-Tenhumberg-Preis 2021 gewonnen. Seine Krippe war bis zum 13. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Warten auf Jesus

Ein junges Paar steht am Ausgang eines Bahnhofs. Die einfach gekleidete junge Frau hält ein Baby in den Armen, ein Bauarbeiter in einfacher, verschmutzter Kleidung steht ihr bei. Ein Mann in weißer Latzhose und einem gelben Koffer schaut zu ihnen hinüber. Hinter ihnen öffnet sich der Blick auf einen Bahnsteig mit Informationstafeln und einem blauen Zug.

Das Paar scheint gerade in der Stadt anzukommen. Vor ihnen liegen erneut Gleise, vielleicht von der Straßenbahn. Sie müssen ja irgendwo eine Herberge finden in der Stadt. Neben ihnen wünschen Esel und Ochs aus einem DB-Informationsschalter heraus (auf die verkehrte Welt weist das von hinten spiegelverkehrt abgebildete DB-Symbol hin) den traditionellen Bergmannsgruß „GLÜCK AUF“. Mit dem kurzen Wunsch werden Gesundheit und Erfolg bei der gefährlichen Arbeit in den Bergwerksstollen zusammengefasst, das Finden des Gesuchten und auch die gesunde Rückkehr des Kumpels. Der als Graffiti auf die Wand gesprühte Spruch zu ihrer Rechten verortet das Glück einzig und allein im Glauben an Jesus: „Ohne Jesus ist Schicht im Schacht“.

Mit dem Rücken zur Wand sieht der telefonierende Geschäftsmann diesen entscheidenden Hinweis allerdings nicht. Läuft er dem Glück davon?

In den Ecken eines unsichtbaren Dreiecks umgeben drei Personen das junge Paar: links unten ein Mädchen mit einem weißen Lamm, rechts eine alte Frau am Rollator, oben ein geflügelter Mann in Business-Kleidung. Seine dunkle Brille und sein tastender Gang lassen in ihm einen blinden oder lichtscheuen Engel sehen. Was für eine Botschaft er wohl verkünden mag?

Unbeholfen steht er auf dem Dach der Bahnhofshalle. Wem soll er die Botschaft verkünden? Würden die Leute seine Botschaft überhaupt verstehen, wenn der Gottessohn so unauffällig in einer Bergmannsfamilie in die Welt hineingeboren wird? Wer es nicht weiß, wird das göttliche Kind übersehen, seine Ankunft verpassen! So ist es auch beim Mädchen und bei der alten Frau ungewiss, ob sie auf das Kind zugehen oder an ihm vorbeigehen. Die farbliche Verbundenheit mit Maria (rot-rosa Oberteile) lässt ersteres vermuten. Biblisch gesehen könnte das Mädchen symbolisch für die Hirten, die zum Stall geeilt sind, als auch für Johannes den Täufer stehen, der mit den Worten auf Jesus hinwies: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh 1,29). Die alte Frau hingegen könnte die biblische Witwe Hanna andeuten, die Gott im Tempel erwartete und sich über seine Ankunft derart freute, dass sie es allen erzählte, „die auf die Erlösung Jerusalems warteten.“ (Lk 2,38)

Johannes wie Hanna haben Jesus erwartet. Sie haben sehnsüchtig auf ihn gewartet. Sie haben gehofft und gebetet, dass ihnen die Gnade zuteilwerde, Jesus zu erkennen und ihn schauen (vgl. auch Simeon; Lk 2,25.26) und anbeten zu können: als Heiland der Menschen, als Retter der Welt. Weist nicht das Holzkreuz der Bahnhofshalle, unter dem die Mutter mit dem Kind steht, auf Jesu Berufung hin, die Menschen durch sein eigenes Blut zu erlösen? Und verweisen die Orientierungstafeln, welche Bahn wann in welche Richtung abfährt, nicht auch auf seine Heimkehr zum Vater?

Die Skulptur lädt uns ein, Jesus zu erwarten – „Komm Herr Jesus!“ (Offb 22,20) – auf dass wir ihn in Menschengestalt auch erkennen und schauen können. Hier und jetzt.

 

Die Arbeit von Rudi Bannwarth ist in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Spannung des Lebens

Zwei längliche Schalenkörper, der eine am Boden liegend, der andere darüber hängend und schwebend, bilden im Raum eine tonale Klammer. Beide Objekte haben ähnliche Dimensionen und weisen in der Länge eine ähnliche Symmetrie auf. Farblich setzen sie sich durch die gewählten Materialien voneinander ab: Die untere Form ist aus dünn gearbeitetem Gips, die obere Form besteht aus weichem Bienenwachs. Durch die formale Ähnlichkeit und die räumliche Zuordnung entsteht ein Spannungsverhältnis.

Grundlage der Skulptur sind die vergrößerten Abformungen einer menschlichen Schulterpartie, die durch die Verwendung der Materialien Bienenwachs und Gips in ein dialogisches Verhältnis gesetzt wurden. Dabei ist die Bienenwachsform als innere Abformung der Gipsform entstanden. In der Skulptur schwebt sie von ihrer Urform gelöst im Raum, als Bezugspunkt senkrecht über ihr verbleibend, doch in der Position um 180 Grad gedreht. Dadurch bildet sie mit der Wölbung nach oben weisend mit der Form aus Gips auf dem Boden gleichsam eine himmlische Klammer. Die Schwebeform ist ein Gegenüber, die im Gegensatz zur Bodenform eine Wendung und eine Wandlung vollzogen hat. Während die Bodenform durch die Einbuchtung dem Chor mit dem Altar und damit sinnbildlich Gott zugewandt ist, öffnet sich die obere Form den Gläubigen, den Besuchern und ist damit den Menschen zugewandt.

Ruhend sind die Schalenformen miteinander im Austausch. Ihre Materialien und Positionen wirken gleichnishaft. So verbindet sich der Gips in seiner Materialität mit der Erde und steht als Abformung der menschlichen Schulterpartie für den Menschen und alles von ihm Geschaffene, Erdverhaftete. Das Bienenwachs hingegen vermag von seiner Herkunft her und durch die schwebende Leichtigkeit eine geistige, spirituelle und gewandelte Dimension des Daseins anzusprechen. Da die obere Schale eine Entäußerung der unteren Schale ist, eine geistige Form, die aus der unteren Schale entstanden und entschwebt ist, haftet ihr auch etwas von der Auferstehung an, vom Unvergänglichen, und vermag nun wie ein Schirm, wie ein guter Geist beschützend über der unteren Schale zu wachen. Beide sind auf ihre Weise fragil, doch miteinander bewirken sie eine starke, lebendige Spannung.

Der große Abstand zwischen den Elementen bietet viel Frei- und Spielraum für weiterführende Gedanken: Die beiden leicht zueinander gebogenen Formen lassen sich aus dieser Perspektive gesehen zu einem unsichtbaren Kreis ergänzen und deuten damit sowohl Zusammengehörigkeit als auch Offenheit an. Die beiden Abformungen lassen an die Spannung und Stärke der Schultern denken, die große körperliche und verantwortungsvolle Lasten zu tragen vermögen, aber auch an ihre notwendige Entspannung und Erholung, um nicht in einer schmerzvollen Verspannung oder Lähmung zu enden, welche den Körper zu Boden zwingen.

Die Installation der beiden Schulterelemente eröffnet einen gedanklichen Freiraum, der die Worte Jesu in Erinnerung zu rufen vermag, damit die lebensnotwendige richtige Spannung wieder hergestellt und beibehalten werden kann: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,28-30)

Der Blick auf Jesus, die Verbindung mit dem Logos Gottes, seiner alles überragenden und durchdringenden Weisheit, ermöglicht richtiges und weitsichtiges Denken und Handeln. Die „himmlische Klammer“ des Kunstwerks macht diesen Spannungsbogen als auch den inneren Freiraum zur Gestaltung des Lebens gut sichtbar. Es ist eine hohe Kunst, alles – also nicht nur uns zu Lasten der Mitmenschen und Umwelt –, sondern alles zusammen maßvoll am Leben zu erhalten: beweglich, entwicklungsfähig, formbar, veränderbar.

Die Installation bringt diesen Spannungsbogen des Lebens insbesondere durch das obere Element zum Ausdruck. Das Leben existiert nur in einem schwebenden, stets vom „Absturz“ bedrohten Zustand. Damit die Lebenskräfte weiterhin das Unmögliche vollbringen können, die ganze Schöpfung – und nicht nur sich selbst – im Gleichgewicht zu halten, braucht es die Verbundenheit mit Gottes Genialität und des aus ihm heraus denkenden und handelnden Geistes.

Zwischen Himmel und Erde musst du stehen als aufrechtes Wesen, dessen Füße den Bezug nach „unten“ nicht verlieren, und dessen Stirn sich emporreckt im Bezug nach „oben“. (Elisabeth Lukas)

Netzwerk der Liebe

Raumhoch erhebt sich hinter dem überlebensgroßen barocken Kruzifixus eine goldfarbene Gitterskulptur. Transparent steigt das moderne Retabel im Chorraum der katholischen Pfarrkirche St. Laurentius im oberbayerischen Mühldorf am Inn vom halbrunden Altar auf und verbindet so das in der Eucharistie gefeierte Sakrament mit dem darüber hängenden Kreuz. Dabei nimmt die Skulptur die halbrunden Formen ihrer Umgebung auf und verbindet so den sich im Halbkreis vom Boden erhebenden Altar mit dem sich vom Himmel senkenden Chorbogen und den dahinterliegenden Wiederholungen im Deckengemälde und im Stuckbogen.

Die Gitterskulptur besteht aus einem unregelmäßigen Netz von Verbindungen, so dass das Licht des barocken Chorfensters es dennoch durchdringen und einen lichten Heiligenschein für den Gekreuzigten bilden kann. Das goldfarbene Netz bildet einen anders leuchtenden Bereich der Ausstrahlung Jesu, der viele Möglichkeiten der Betrachtung und der Deutung offen lässt.

Spontan mag die großflächige Netzskulptur in Verbindung mit Jesus an ein Fischernetz erinnern und an die Berufung der ersten Jünger, die Fischer waren und ihre Netze auswarfen: “Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. ” (Mk 1,17). Oder es erinnert an die Erzählungen von den wunderbaren Fischfängen, in denen die Jünger der Auffordung Jesu geglaubt hatten, ihre Netze trotz vieler vergeblicher Versuche nochmals auszuwerfen und dann einen übergroßen Fang ins Boot ziehen konnten (Lk 5,1-11; Joh 21,1-14). Das Retabel stellt damit eine andauernde Einladung zur Nachfolge Jesu dar. Es visualisiert den Auftrag an alle Gläubigen, Menschenfischer zu sein, uns für das Wohl der Menschen einzusetzen und sie dadurch für Gott zu begeistern.

Formal knüpft das Netzgebilde an die Faltenstruktur des Lendentuchs Jesu an. Darüber hinaus bildet es einen von Jesus  ausgehenden heiligen Bereich, der sich aus dem ihn umflutenden Licht heraus in den Verknüpfungen konkretisiert und materialisiert. Es bildet eine Art “Heiligen Schein”, der uns den Weg von der Erleuchtung oder Begeisterung zur aktiven Handlung aufweist. Es ist ein transparenter Prozess, bei dem Begegnungen und Verknüpfungen eine wesentliche Rolle spielen. Das Netzgebilde verdeutlicht Jesu Auftrag (wie er damals) in unserer Zeit “Networker” zu sein, soziale Netzknüpfer. Netzwerker der Liebe zu sein, die an einer haltgebenden und stabilen Struktur für alle Menschen arbeiten.

In dem Sinne bietet die große Netzskulptur unendlich viele Anknüpfungspunkte für alle Sinn- und Haltsuchenden. Gerade die Verbindungen zwischen den einzelnen “Knoten” bieten von unten bis oben perfekte Griffe, um sich in der Not festzuhalten und im Verlaufe des geistlichen Lebens vielleicht auch hochzuziehen. So kann sie als Rettungsinsel für alle Verlorenen und Hilfesuchenden gesehen werden wie auch als geistliche Kletterwand, bei der die Gnade wie die Liebe gleichermaßen wichtig sind.

In der Mitte ist das Retabel dünn ausgebildet. Zu beiden Seiten hin vervielfachen und verdichten sich die Verknüpfungen und verstärken so den konkaven Effekt. So kann die Netzskulptur auch als große geöffnete Schriftrolle gesehen werden, die den Gekreuzigten als das Licht der Welt offenbart, als das Lamm Gottes, das die Schuld der Welt hinwegnimmt (Joh 1,29). Beide Metaphern reihen sich nahtlos in das bereits Erarbeitete ein. Denn an das Lichtwort “Ich bin das Licht der Welt.” in Joh 8,12 fügt Jesus hinzu: “Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.” Und wer wie Jesus in Liebe gerade den Menschen in Not und Elend begegnet, ihnen hilft, die Not zu wenden und sie für ein Leben danach aufbaut, der handelt barmherzig wie Gott (vgl. Lk 6,36) und beteiligt sich auf seine Weise, die Schuld der Welt zu reduzieren.

Zusammenfassend kann der das Kreuz hinterfangende Netzkörper als Symbol für das Wirken Jesu gesehen werden, als eine Visualisierung der von ihm ausgehenden Liebe für alle Menschen. Die einzelnen Netzstäbe sind wie Arme, die einander halten und so ein Netzwerk bilden, das andere aufzufangen und einzubinden vermag. Es bildet ein Netzwerk der Liebe, dessen Mittelpunkt und Ausgangspunkt Jesus ist. Es bildet ein Netzwerk der Liebe, das uns stets Vorbild, Ermutigung und Erinnerung ist.

Da ist es gut, dass die verbindende Netzstruktur der Liebe sich in der Kirche und über das Gebäude hinaus  fortsetzt: Geometrischer geprägt auf den Türen des Tabernakels im rechten Seitenschiff, amorpher zu finden in der unregelmäßigen Putzstruktur der Säulen und in dem durch das Südfenster (das sich über dem im rechten Seitenschiff freistehenden Tabernakel befindet) gerade in der Nacht nach außen leuchtenden ewigen Licht, das nonverbal die Botschaft Jesu und der Kirche verkündet: Du bist nicht allein. Ich bin auch wach. Du kannst jederzeit zu mir kommen. Ich bin gerne für Dich da!

Vergiss die Liebe nicht

 

Exemplarisch für alle durch das Corona-Virus bedrohten Menschen trägt dieser bärtige Männerkopf aus Gips einen Mund- und Nasenschutz. Dieser ist mit acht roten Lippenpaaren bedruckt. Jemand hat hier mit seiner Nähe und seiner Liebesbezeugung deutlich sichtbare Spuren hinterlassen.
Obwohl er sich zu Hause zurückziehen musste, wurde er besucht. Obwohl er sich vor den unsichtbaren Viren schützen muss, wurde ihm Zuneigung zuteil. Obwohl er durch den schützenden Rückzug hinter die Maske und in die eigenen vier Wänden oder durch die persönliche Betroffenheit durch das Virus im Reden eingeschränkt wurde, hat er Ansprache erhalten. Was er nicht zeigen oder sagen kann, zeigen und erzählen die roten Abdrücke auf seinem Mundschutz: Wir vergessen dich nicht, wir lieben dich, wir sind bei dir und gehen mit dir in dieser schweren Zeit. Es gibt tausend Möglichkeiten, die Betroffenen dies spüren und erleben zu lassen!

 

“Lockdown” von Fr. Richard Hendrick, OFM
(Übersetzung: Google / P. Scherrer)

Ja, da ist Angst.
Ja, es gibt Isolation.
Ja, es gibt Panikkäufe.
Ja, es gibt Krankheit.
Ja, es gibt sogar den Tod.
Aber,
Sie sagen, dass sie in Wuhan nach so vielen Jahren des Lärms
die Vögel wieder singen hören.
Das sagen sie schon nach wenigen Wochen der Ruhe
Der Himmel ist nicht mehr dicht mit Dämpfen
Aber blau und grau und klar.
Das sagen sie in den Straßen von Assisi
Die Leute singen miteinander über die leeren Plätze,
ihre Fenster halten sie offen,
so dass diejenigen, die allein sind,
die Geräusche der Familie um sie herum hören können.
Sie sagen, dass ein Hotel im Westen Irlands
kostenlose Mahlzeiten und Lieferung an das Haus anbietet.
Heute ist eine junge Frau, die ich kenne
damit beschäftigt, Flugblätter mit ihrer Nummer in der Nachbarschaft zu verbreiten,
damit die Ältesten jemanden haben, den sie anrufen können.
Heute bereiten sich Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel vor
den Obdachlosen, Kranken und Müden Schutz und Unterschlupf zu gewähren.
Überall auf der Welt werden die Menschen langsamer und reflektieren.
Überall auf der Welt betrachten Menschen ihre Nachbarn auf eine neue Art und Weise.
Überall auf der Welt erwachen Menschen zu einer neuen Realität.
Sie werden sich bewusst, wie groß wir wirklich sind,
wie wenig Kontrolle wir wirklich haben,
worauf es wirklich ankommt: Auf die Liebe.
Also beten wir und erinnern uns:
Ja, da ist Angst,
aber es muss keinen Hass geben.
Ja, es gibt Isolation,
aber es muss keine Einsamkeit geben.
Ja, es gibt Panikkäufe,
aber es muss keine Gemeinheit geben.
Ja, es gibt Krankheit,
aber es muss keine Seelenkrankheit geben
Ja, es gibt sogar den Tod,
aber es kann immer eine Wiedergeburt der Liebe geben.
Wach auf, entscheide dich, wie du jetzt leben willst.
Atme heute.
Höre hinter den Fabrikgeräuschen Ihrer Panik:
die Vögel singen wieder,
der Himmel klärt sich auf,
der Frühling steht vor der Tür,
und wir sind immer von Liebe umgeben.
Öffne die Fenster deiner Seele
Und obwohl du vielleicht nicht in der Lage bist
über den leeren Platz hinweg andere zu berühren,
Sing!

Quelle

Kein Platz für Gottes Sohn

Zwei geflügelte Männer in weißen Latzhosen stehen etwas verloren bzw. verwundert auf einem Fernsehgehäuse, das ein Stern mit Schweif gerade durchschlagen hat.

Auf der Innenseite des Gehäuses weist er nicht auf eine idyllische Krippenszene, sondern auf eine Dreierfamilie, die mit vielen Geschenken vor einem kleinen, mit Kugeln geschmückten Tannenbaum sitzt. Vater und Mutter hocken gelangweilt oder erschöpft in ihren Sesseln, ihr Sohn fotografiert das Ereignis des hereinbrechenden Sterns.  Erstaunlicherweise stehen auf ihrer Seite im Hintergrund ein verschmitzt schauender Ochse und ein lachender Esel. Die Wände ihrer Behausung sind mit Schlagworten wie BILDUNG IST KINDERSACHE, SKY, MY PERSON FIRST und in einem Stern SALE über den roten Buchstaben von XMAS bedeckt. Hier wird ein soziales Milieu auf dem Niveau einer Bild am Sonntag in Szene gesetzt, das den tieferen Sinn und Zugang zu Weihnachten verloren hat.

Wahrscheinlich aus diesem Grund stehen Maria in Gestalt einer einfach gekleideten Frau mit einem Neugeborenen auf dem Arm, und Josef auf der anderen Seite der Trennwand in der dunklen und kalten Nacht. Das Lämmchen verweist auf Jesus als dem Lamm Gottes, es scheint aber genauso zu frieren wie die kleine Familie.

Sozialkritisch formuliert der Künstler in dieser Krippe Missstände in unserer Gesellschaft. Weihnachten hat sich immer mehr zu einem Konsumfest entwickelt, bei dem es zentral um Erfüllung persönlicher Wünsche und um mehr oder weniger kostspielige Geschenke geht. Fast wie im Fernsehen (oder gar nach dessen Vorbild?) ist das Fest in vielen Familien zu einer großen Show verkommen, bei denen Christbaum und Geschenke zu netten Attributen eines profanisierten Weihnachtsfestes gehören. Alles dreht sich um die Familie, das Essen, die Dekoration und natürlich die Geschenke. Aber nicht mehr um die Geburt des Gottessohnes in unser Welt. Gnädigerweise erhält er vielleicht einen Platz in einer Krippe, vielleicht geht man auch zur Kirche – weil es sich so gehört. Aber die Heilige Familie und das Jesuskind haben viele vor die Türe gestellt. Sie finden keine Herberge, keinen Eingang und keinen Platz in den Herzen dieser Konsumfamilien.

Es ist Zeit umzukehren. Es ist Zeit, Gott wieder einen Platz in unserer Mitte zu geben, in unserem Leben. Die sonderbare Krippe zeigt, wie wir unser Leben von Konsumgütern bestimmen lassen. Es ist Zeit umzukehren. Es ist Zeit, Gott wieder einen Platz in unserer Mitte zu geben, einen festen Ort in unserem Leben. Die Konsumkrippe als kritisches Selbstbildnis möchte uns aufrütteln, uns wieder auf wesentliche Werte zu besinnen, damit wir unser Leben Tag für Tag mit Gottes Geist gestalten und es auf IHN ausrichten. Denn wenn wir anfangen, uns selbst zu verschenken, dann wird Weihnachten nicht nur an einem Tag, sondern das ganze Jahr gefeiert werden können.

Die Arbeit von Rudi Bannwarth war in der 79. Telgter Krippenausstellung “Auf der Suche nach dem Licht der Welt” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Fußabdruck

Am Boden einer scheinbar mit Wasser gefüllten Emaille-Schüssel sind zwei Fußabdrücke zu sehen. Es ist, als hätte jemand beim Waschen der Füße einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Als wolle er für alle Zeiten sagen: Tretet in meine Fußstapfen, macht es genauso. Doch haltet euch nicht nur selbst rein, sondern wascht einander die Füße! So hat Jesus seinen Jüngern nach dem letzten Abendmahl die Füße gewaschen und Ihnen gesagt: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ (Joh 13,15)

Außer der Fußwaschung erinnert der Fußabdruck in der Schüssel an Jesu Gang über das Wasser. Er hat damals keine materiellen Fußspuren hinterlassen,  aber Spuren allemal. Manch einer mag vielleicht auch an Darstellungen der Fußabdrücke bei Christi Himmelfahrt denken, die zum Ausdruck brachten, dass er als Mensch auf der Erde lebte, doch nach seiner Auferstehung von den Toten zu seinem himmlischen Vater zurückkehrte.

Doch so wenig wie beim Gang über das Wasser oder bei der Himmelfahrt entsteht beim Waschen von Füßen ein Fußabdruck. Wäre dem so, würde es an ein Wunder grenzen. Ein normaler „Fußabdruck“ im Wasser wäre z. B. von Schmutzpartikeln getrübtes Wasser. Eindrücke wie in der vorliegenden Arbeit entstehen in der Regel nur in weichem, formbarem Material. Hier hat die Künstlerin zwei Füße in kaltgeformte Glaspaste (Pâte de Verre) gedrückt und diese anschließend im Ofen unter starker Hitze zum Schmelzen gebracht, so dass sie transparent wurde.

Letztlich hat das Schmelzen der Glaspaste diese erst transparent und damit die Fußabdrücke wieder sichtbar werden lassen. Wie oft denken wir, dass wir durch unser Tun und Leben kaum Spuren hinterlassen. Am Aschermittwoch werden wir mit einem Aschekreuz daran erinnert, dass wir eines Tages zu Staub zurückkehren werden. Der Fußabdruck in der Waschschüssel erinnert uns auch, dass wir mit allem, was wir tun, einen ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Was wir essen, wie wir wohnen und leben, wohin wir mit welchem Transportmittel fahren, wie viel Infrastruktur wir brauchen. All das bindet Ressourcen und hinterlässt umweltbelastende Spuren und Materialien.

Jesus ruft die Menschen in seinen Predigten immer wieder zur Umkehr und zum Glauben an das Evangelium auf. Er ruft uns auf ganz unterschiedliche Art und Weise in seine Nachfolge, damit  wir „das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Umkehr bedeutet nach der Fußwaschung sich gering achten, den anderen zu sehen und ihm Gutes zu tun. Dazu gehört auch die Bewahrung der Schöpfung, damit dem Nächsten und seinen Nachkommen genügend reine und unverfälschte Ressourcen zum Leben zur Verfügung stehen.

Wenn das Wasser so verschmutzt ist, dass es nicht mehr zum Trinken verwendet werden kann, geschweige denn beim Waschen sauber oder rein macht, dann wird es zu spät für eine Umkehr sein. In abgewandelter Form könnten die Worte aus der Aschermittwochliturgie lauten: Bedenke Mensch, wo du hintrittst und welche Zerstörung du hinterlässt!

Die Arbeit von Ilka Raupach war für den Kunstpreis der Erzdiözese Freiburg 2019 nominiert und im Rahmen der Ausstellung WAS IST WAHR an verschiedenen Orten Deutschlands zu sehen (siehe Ausstellungshinweise). Der Katalog zum Kunstpreis ist beim Mondo Verlag erhältlich.

Verstärkung

Von einem einfachen roten Hocker sind zwei Beine abgesägt worden. Ohne sie ist der Hocker als Sitzgelegenheit unbrauchbar. Doch bei einem Stuhlbein wurde in Form einer Jesusfigur ein Ersatzstück eingefügt, sodass der Stuhl auf drei Beinen doch ganz ordentlich stehen kann.

Die aufgetürmten Betonsteine belegen zudem, dass der Stuhl auch unter großer Belastung zu bestehen vermag.  Es sieht ganz danach aus, als könnte der Stuhl durch den Beistand von Jesus übermenschliche Lasten tragen. Belastungen, die wir gerne als „Kreuz“ bezeichnen, wie es die aufgetürmten Steinplatten andeuten.

Jesus gleicht darin einem Atlant, einer männlichen Figur, die in der Architektur manchmal verwendet wurde, um mit gebeugtem Rücken und erhobenen Armen bauliche Lasten zu stemmen. Da die Jesusfigur die Last jedoch mit aufrechter Körperhaltung und direkt mit dem Kopf abfängt, steht sie dem weiblichen Pendant zum Atlant, der Karyatide, näher.

Jesus hält alles im Gleichgewicht. Er ist der Ausgleichende, Aushaltende, die Stützenhilfe. Vor dem Hintergrund seines Lebens wird klar, dass der rote Hocker ein Symbol für uns Menschen ist. Hat sich Jesus nicht überall dort dazwischen gestellt, wo Menschen und Gesetze unmenschlich geworden sind? Er ist derjenige, der uns aufrichtet, er ist unsere Stütze, damit wir nicht umfallen, der Entlastende und Lastenträger, wo etwas zu schwer wird. Er ist unser Verstärker, damit wir die Belastungen aus- und durchhalten können, der Lückenfüller, wo wir einen Verlust erfahren haben und uns etwas oder jemand fehlt.

Die Jesusfigur hat wie vor Freude die Arme weit ausgebreitet. Doch die ausgebreiteten Arme der Figur stammen vom Kreuz, vom Leid, das ihm widerfahren ist. Da er die unmenschliche Last mit seinen Beinen, dem Oberkörper und dem Kopf trägt, sind seine Arme frei, um die Einladung auszusprechen:  „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken.“ (Mt 11,28) Jesus bleibt der Diener der Menschen, der Unterstützer beim Tragen all unserer Lasten. Er ist in dieser Arbeit der tatkräftige Beistand, der sich dort einbringt, wo Not ist.

„Dazwischen“ nennt der Künstler sein Werk. Damit lädt er ein, aus einer ungewohnten Perspektive die Vermittlerrolle Jesu neu zu betrachten und zu bedenken. Und nicht zuletzt befindet sich auch der Hocker zwischen Boden und Steinblöcken … und braucht Verstärkung, um trotz aller Belastungen, denen er ausgesetzt ist, standzuhalten.

Knotenlöser gesucht

Eine Ansammlung verschiedener Seile bildet ein wirres Durcheinander. Sie sind ineinander verschlungen, haben sich zu diesem großen Knäuel verfangen, sind in diesem gefangen. Ihre unterschiedlichen Durchmesser, Strukturen, Windungen und aufgedrehten Stellen vermitteln zusammen mit dem Drunter und Drüber der Seile einen lebendigen, ja kämpferischen Eindruck. Dr. Barbara Renftle schreibt über sie: „Augustins Verschlingungen und unentwirrbare Stahlseilknäuel bergen eine magische Kraft, die auf ein ungeahntes Potential an Energie schließen lässt, sollten sich diese Verstrickungen entfesseln lassen.“ (geschlängelt, 2017, S, 27)

Doch die Stahlseile, mit denen große Lasten bewegt oder gehalten wurden, sind so ineinander gearbeitet, dass sie ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Sie symbolisieren Verwirrung, Chaos, Durcheinander. Sie bilden eine Art Endstation, weil ein Entwirren oder Ordnen der Seile aussichtslos erscheint. Sie haben sich zu stark ineinander verfangen und verknotet. Äußere Faktoren wie Wärme und Druck mögen ihren Teil dazu beigetragen haben.

Die Seile mögen an den gordischen Knoten erinnern, der nach der griechischen Sage am Streitwagen des phrygischen Königs Gordios die Deichsel des Wagens untrennbar mit dem Zugjoch verband, bis er von Alexander dem Großen mit dem Schwert durchschlagen wurde. Doch während der gordische Knoten aus ordentlich miteinander verknüpften Seilen entstand und eine Aufgabe erfüllte, erinnert der vorliegende, ebenfalls kunstvolle Knoten aus wirr ineinander gearbeiteten Seilen eher an das Drunter und Drüber in einem Schlangennest. Der Titel der Plastik verweist auch auf die berühmte hellenistische Laokoongruppe in den Vatikanischen Museen in Rom, welche den Todeskampf des trojanischen Priesters Laokoon und seiner Söhne mit zwei Schlangen zeigt.

Dieses ineinander Verschlungene, diese Verknotungen mögen für sich schön sein. Doch Knoten, die sich von allein und an falschen Stellen bilden, bereiten uns Schwierigkeiten und Probleme. Allein schon eine Schnur oder ein Kabel zu entwirren fordert von uns viel Geduld, Zeit und Geschicklichkeit. Sehr schnell gelangen wir bei Knoten aller Art an unsere Grenzen und sind auf Fachkräfte angewiesen, die sich darauf spezialisiert haben, die Knotenbildungen in unseren verschiedensten Lebensbereichen zu lösen und zu entfernen. Denn schwierige Probleme sind wie ein gordischer Knoten und können nur mit außerordentlichen Mitteln überwunden werden.

Da wir Menschen immer wieder in Situationen geraten, aus denen wir selbst nicht mehr herauskommen oder die wir selbst nicht wieder gut machen können, tut es gut, gerade im spirituellen Bereich einen dreifachen Beistand zu wissen. Ein Beistand, der einem präventiv hilft, Notlagen zu vermeiden und auch in der Not und aus der Not hilft. Gottes Wort ist Weisheit und Leben, es schenkt Klarheit und Orientierung auf allen Wegen. In Jesus hat Gott uns sein wahres Wesen offenbart und uns von den Fesseln der Sünde und der Schuld befreit. Der Heilige Geist führt von innen heraus und warnt geistesgegenwärtig vor Gefahren und führt aus dem Gefahrenbereich heraus. Er ist der Entfesslungskünstler und Knotenlöser par excellence, wie uns der Pfingstbericht (Apg 2,1ff) und auch die Befreiung des Paulus und des Silas aus dem Gefängnis (Apg 16,26) übermitteln. Bitten wir ihn, unsere Knoten und Verstrickungen immer wieder neu zu lösen, damit wir als stets neu Befreite von seiner Gegenwart und Größe Zeugnis ablegen können.

Bittere Wahrheit

Von weitem meint man ein kleines Aquarium vor sich zu haben, Algen, die im Wasser schwimmen, sich an festem Gestein festhalten. Doch was wie ein Stück heile Unterwasserwelt präsentiert wird, entpuppt sich beim Erkennen aller Details als eine Ansammlung von Abfall, als ein buntes Arrangement unterschiedlichster Plastikteile.

Sie entstammen einer zufälligen „Müllsammlung“ zwischen zwitschernden Vögeln, die der Künstler letztes Jahr im Naturschutzgebiet „Pegwell Bay“ an der Küste Südost-Englands spontan bei einem Spaziergang gemacht hat. Auf eine naturwissenschaftliche Ausstellungspraxis verweisend nutzt er ein Präparateglas zur Präsentation. Er hat eingeschlossen, was in den Meeren frei herumschwimmt und sich über Jahrzehnte und -hunderte in kleinste Bestandteile zersetzt. Die konservatorische Funktion des Präparateglases spielt auf dieses lange Verweilen im Meer an. Die angedeutete Unterwasserpflanze referiert mit der Verwechslung der Tiere, im Plastik Nahrung zu finden. Die heruntergewürgten Plastikteile bleiben unverdaut in ihren Mägen liegen, verstopfen sie und lassen die Tiere qualvoll an Hunger sterben.

Die Arbeit hinterfragt unsere Verwendung von Plastik als universellem Kunststoff. Als Werkstoff, der fast alle Formen annehmen kann, relativ billig, leicht und langlebig ist. Die Arbeit ist nach Sagert „ein Objekt wissenschaftlicher Evidenz, durch welches dem Zustand der mit Plastik verschmutzen Strände eine Repräsentation im kollektiven Gedächtnis gegeben wird.“ Die Arbeit regt darüber hinaus zum Nachdenken über unseren Umgang mit Kunststoff und Plastik an.

Denn Plastik ist zwischenzeitlich allgegenwärtig. Wir benutzen ihn und entsorgen ihn an allen Ecken und Enden. Die größeren, kleineren und winzigen Plastikteile gelangen dadurch weltweit ins Wasser und den Lebenskreislauf, wo sie großen Schaden verursachen. Plastik ist längst ein globales Problem, bei dem Segen und Fluch sehr nahe beieinander liegen. Es ist so praktisch und anpassungsfähig, dass es nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken ist. Der vielgestaltige plastische Kunststoff hat unser Lebensumfeld in den letzten Jahrzehnten vollständig verändert. Dabei dringt er über die Nahrungsmittelkette und die Luftverschmutzung auch vermehrt in unsere Körper ein und verursacht Krankheiten. Plastik lässt sich in der heutigen Zeit kaum noch wegdenken oder begrenzen. Es hat längst zusammen mit anderen Faktoren eine beherrschende und bedrohliche Position eingenommen. Wir Menschen gehen immer noch zu leichtfertig mit diesem „Alleskönner-Material“ um, obwohl wir bereits wissen, dass die Folgen für alle Lebewesen schwerwiegend sein werden und uns alle teuer zu stehen kommen.

So gesehen ist die vorgestellte Arbeit ästhetisch viel zu schön. Das „Problem“ wurde handlich verpackt, eingesperrt und damit „besiegt“. Das Präparateglas ist fast zu niedlich, um die bittere Wahrheit zu vermitteln, dass der Plastikmüll längst außer Kontrolle geraten ist und wir die durch ihn angerichteten Schäden nicht mehr im Griff haben. Um richtig aufzurütteln, bräuchte es wahrscheinlich raumgreifende Installationen, bei denen die Besucher förmlich im Plastikmüll untergehen müssten, um seine Bedrohung angemessen wahrzunehmen.

Trotzdem wird ein Umdenken und Einsicht angeregt, die hoffentlich in eine Umkehr einmünden, in ein verändertes, verantwortungsvolles Handeln gegenüber unserer Umwelt und unseren Mitmenschen, das letztlich auch uns selbst zu Gute kommt. Dies könnte sich in einem sensibilisierten Umgang mit dem Werkstoff „Plastik“ zeigen, bei dem Plastik wo immer möglich vermieden und wo immer nötig sparsam mit ihm umgegangen und das Material danach ressourcenorientiert einer Wiederverwertung zugeführt wird. Der wegweisende Satz aus dem 3. Buch Mose (Lev 19,18)  „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, der auch von Jesus wiederholt aufgegriffen wurde, erhält dann eine ganz neue Dimension und Aktualität.

Osterkreuz

Das Vortragekreuz von Peter Sandhaus bedient sich einer modernen Herstellungstechnik […]: Das Kreuz ist mit einem 3-D-Drucker hergestellt und besteht aus Kunststoff, der in einem aufwendigen chemischen Verfahren vergoldet wird und dem Kreuz eine weithin sichtbare Ausstrahlung verleiht. Die Zeitgenossenschaft unterstreicht der Künstler noch dadurch, dass sich das Jahr des Wettbewerbs niederschlägt in 2015 individuell verschiedenen kleinen Kreuzen, die zu einem Netzwerk verbunden sind. Das so entstandene kreuzförmige Netz hat anthropomorphe Züge, erinnert an einen abstrakten menschlichen Torso und weckt die Assoziation an ein Kruzifix. In dieser Formgestalt fallen Kruzifix und Kreuz in eins. Die vier Enden des Kreuzes sind dabei offen gestaltet und lassen eine gedankliche Fortsetzung der Kreuzform zu, die ins Unendliche ausgreift. Durch die netzartige Struktur interagiert das Objekt mit dem jeweiligen Hintergrund, der durch das Kreuz hindurchscheint. Damit wird das Kreuz integraler Bestandteil seiner Umgebung. Der Hinweis auf die kleinteilige Zusammensetzung des einen Kreuzes berührt auch die theologische Vorstellung von der Kirche als dem Leib Christi (vgl. Kol 1,18), der wiederum aus vielen Gliedern besteht (vgl. 1 Kor 12,12ff). So wird das Kreuz auch zu einem Symbol der gesamten Gemeinde, für die es gemacht ist. Schließlich ist die Leichtigkeit des Kreuzes, die dem Material geschuldet ist, zu betonen (ca. 1,2 kg): Es lässt sich außerordentlich gut bei Prozessionen verwenden. Damit eröffnet sich auch eine theologische Interpretation, die das Kreuz nicht als drückendes Joch versteht, sondern als leichte Last (vgl. Mt 11,29f).

Der Text stammt mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem Katalog “ars liturgica – Gestaltung eines Vortragekreuzes” (S. 38). Mit dieser Arbeit gewann Peter Sandhaus 2016 den 1. Preis im Wettbewerb. Der Katalog kann beim Liturgischen Institut in Trier zum Preis von 8 Euro zzgl. Versandkosten bezogen werden.

Verbindungsstark

Dieses Kreuz überrascht und irritiert mit seinen schwarzen Kabelsträngen. Verschiedene Strom- und Informationskabel sind mit Kabelbindern zusammengebunden. Die freigelegten Kabelenden spreizen sich wie vor Schreck erstarrte Finger von jemandem, der einen Stromstoß erleidet und dem die Haare zu Berge stehen. Todesnot kommt zum Ausdruck, obwohl kein Mensch zu sehen ist. Das durch Kabel geformte Kreuz mag befremden. Was hat das Kreuz mit diesen Kabeln und was haben die Kabel mit dem Kreuz zu tun? Wie können sie in Verbindung zueinander gebracht werden? Was vermag es über Jesus auszusagen?

Grundsätzlich können die Kabel für alle unsere Beziehungen und Verbindungen stehen, sei es mit Menschen, Tieren, der Natur oder Gegenständen. Da erzählen sie von der Energie, die wir in etwas hineinstecken, von elektrisierenden Begegnungen, bei denen Funken überspringen oder von spannenden Beziehungen. Auf der anderen Seite begegnen wir vielen Menschen, die durch die vielen Anforderungen oder die fehlende Möglichkeit, mal abzuschalten, permanent unter Strom stehen. Die ständige Belastung kann zu einer Überlastung führen, bei der die Leitungen irgendwann schmelzen und durchbrennen. Ein Kurzschluss ereignet sich, die Sicherungen brennen durch, Menschen erleiden einen Burnout und können nicht mehr weiterarbeiten.

Strom- und EDV-Kabel stehen für die Übermittlung von Energie und Informationen. Ohne sie können wir uns unser Leben kaum mehr vorstellen, denn sie sind zum Standard unserer Informationsgesellschaft geworden. Besonders der elektrische Strom bildet die Grundlage für den Austausch vieler Informationen, die wir für unser Leben und Arbeiten brauchen. Ohne ihn würden große Teile unserer Infrastruktur zusammenbrechen und das heutige Leben über kurz oder lang aufhören zu existieren. Das Kreuz wird aus dieser Sicht zum Sinnbild einer aus unzähligen Kreuzungspunkten und Schnittstellen vernetzten Informationsgesellschaft, die von dieser Vernetzung abhängig ist. Das Kreuz regt an, unsere kulturellen und technischen, unsere gesellschaftlichen als auch religiösen Abhängigkeiten zu hinterfragen, damit sie sich nicht zwischen Gott und uns stellen.

Die gekreuzten Kabel deuten an, dass die Energie und die Informationen in alle Richtungen fließen. In der Kreuzform sind sie sichtbarer Ausdruck für die Vermittlungs- und Verbindungsfunktion von Jesus. Er hat Gottes Wort zu den Menschen gebracht, der Menschen Nöte gesehen und gehört und sie dann verstärkt an den Vater weitergeleitet. Jesus hat nicht nur Gott und die Menschen durch seinen Tod miteinander versöhnt, er hat mit seinen ethischen Grundsätzen auch die Voraussetzungen für einen barmherzigeren und gerechteren Umgang unter uns Menschen und mit der ganzen Schöpfung geschaffen.

Die offenen Kabelenden signalisieren vielfältige Anschluss- und Kontaktbereitschaft. Mit isolierten Enden wäre das nicht möglich. Doch so bildet jeder Kreuzesarm ein breit gefächertes Angebot an Anknüpfungspunkten, als sollten damit möglichst viele angesprochen werden können. Und gerade weil jeglicher Schutz weg ist und die Verletzungsgefahr so am größten ist, kann, auf der Basis von Vertrauen und Hoffnung auf das Gute, Berührung mit dem Wesentlichen stattfinden, kann Energie von Herz zu Herz fließen.

Das Geheimnis verhüllt andeuten

Fastentücher verhüllen in den Kirchen von alters her die Hochaltäre und damit das Allerheiligste. Im übertragenen Sinn nehmen sie die Sicht auf Gott und machen den Gläubigen zunächst mal haltlos, weil ihm die vertrauten Anhaltspunkte und -bilder genommen worden sind. Damit wird der Gläubige wieder zu einem Suchenden. Zu einem Suchenden nach Anhaltspunkten und Zeichen der Gegenwart Gottes. Durch das Bilderfasten rückt das Gewohnte vorübergehend in den Hintergrund und macht den Blick frei für Neues, für noch nicht da Gewesenes, ja sogar nie da Gewesenes. So trägt das Verhüllen durch Tücher dazu bei, seinen Glauben zu prüfen und Gott als Suchender neu in seinem Leben zu entdecken und zu erfahren.

Das Fastentuch von Lisa Huber beeindruckt durch seine Größe und helle Erscheinung (Gesamtansicht im Dom Klagenfurt). In der Mitte sind in elf Dreierreihen 33 gleich große Rechtecke aufgenäht. Sie beinhalten grafische Zeichnungen, die sich durch ihre abstrakten Linien und Flächen zur freien Interpretation anbieten. Links und rechts werden sie von drei hochformatigen Stofffeldern flankiert, die in ihrer Liniensprache ebenso mehr andeuten als definieren. Und doch verweist das Feld oben links auf König David, der als Psalmendichter oft mit der Harfe dargestellt wird. Unten links wird Abraham als der Stammvater der drei monotheistischen Religionen gezeigt, wie er sich über seinen liegenden Sohn Isaak beugt und ihn Gott opfern will. Im rechten Feld weisen beschwingte Linien auf Jakobs Kampf mit dem Engel hin. Im singulären Rechteck unten rechts sind hingegen Zitate des ersten und letzten Verses von Psalm 90 in der Rosenberg-Buber-Übersetzung zu sehen: „Mein Herr, du bist, du Hag uns gewesen in Geschlecht um Geschlecht. Das Tun unsrer Hände richte auf über uns, das Tun unsrer Hände, richte es auf.“ Diese 37 Applikationen heben sich durch ihre weiße Farbe vom blau-grauen Hintergrund ab, auf dem sich breitere Linien in zartem Rosa abzeichnen. Zwischen den 33 Bildfeldern sind zudem waagrechte und senkrechte rote Fäden zu erkennen, die am unteren Ende auf dem Boden in zwei Häufchen auslaufen.

Mit diesen vielen Andeutungen wird dem gläubigen Betrachter ein Weg zu Gott angeboten, auf dem er immer wieder Neues über Gott entdecken kann. So lässt die Zahl der 33 zentralen Bildelemente an die vermutete Lebenszeit Jesu denken, gleichzeitig steht sie für Vollkommenheit, für die Fülle des Lebens. Die roten Fäden, die zwischen den Feldern hindurch zum Boden führen, wirken wie Blutgerinnsel und erinnern das am Kreuz vergossene Blut Jesu, das sich am Boden sammelt. Als drittes Element verweisen die rosafarbenen Linien, die im Hintergrund durchschimmern, auf Jesus und sagen mit dem Alpha und dem Omega, dass er der Anfang und die Vollendung alles Geschaffenen ist (vgl. Offb 21,6). Das Omega ist mit seinen Rundungen gut erkennbar, das Alpha ist schmaler geformt und im oberen Teil erhöht. Sie werden erst in der österlichen Zeit, wenn das Tuch gedreht wird, zusammen mit den herunterhängenden „Fäden des Lebens“ vollständig sichtbar werden. Auf dem blauen Stoff der Rückseite, der symbolisch das Wasser des Lebens, die Taufe und damit verbundenen Heilszusagen darstellt, bringen die Silberfäden die Anknüpfungspunkte und Verbindungen zum Alpha und Omega zum Ausdruck, die „Re-ligio“ der auf seinen Namen Getauften (Silberfäden).

Mit den Darstellungen zu Abraham, Jakob und David kommt weiter der gelebte Glauben von drei Persönlichkeiten des ersten Testaments zur Sprache. Sie erzählen vom Glauben an die Führung Gottes, vom handfesten Kampf mit Gott und seinen Folgen als auch von der Zwiesprache mit Gott in Psalmen und Gebeten. Die drei glaubensstarken Männer lassen spüren, dass Gott nah ist und überraschend konkret erlebbar sein kann.

Die Darstellungen auf den 33 zentralen Feldern bilden dazu eine Art Kontrastprogramm, obwohl sie vom Psalm 90 inspiriert sind und auf ihn verweisen. In dem Mose zugeschriebenen Psalm bringt der Beter die Vergänglichkeit des Menschen vor Gott zur Sprache. Im ersten Teil macht er dies anklagend (V. 3-10), dann um Zuwendung, Huld und Gnade bittend (V. 13-17), damit wenigstens das Werk der Hände gedeihen möge. Doch die Darstellungen sind so abstrakt, dass sie sich dem Betrachter auf der Suche nach Gott fürs Erste rätselhaft und sperrig in den Weg stellen. Wohl mag man neben Davids Harfe eine Strichliste erkennen, die an das Zählen erinnert, vielleicht an die im Psalm 90 angesprochenen Lebensjahre . Alle anderen Felder erfordern jedoch einen persönlichen Zugang, der durch Parallelen zu Erlebnissen im eigenen Leben entsteht. Durch die leeren Felder mag man so auf Zeiten der Leere oder von Abwesenheiten stoßen. Die verschiedenen Zeichen dagegen können wie verdichtete Sinnbilder Situationen aus unserem Leben in Erinnerung rufen und sie vor Gott bringen. Gegebenheiten und Erlebnisse, die wir in ihrer Komplexität an Eindrücken und Gefühlen vielleicht selbst nicht richtig in Worte zu fassen vermögen.

So lädt das Fastentuch zum Verweilen vor Gott und zum Darbringen unseres eigenen Lebens ein. Inmitten des Betens und Glaubens großer Vorbilder lädt es zur geistigen Schau des Lebens Jesu als auch des eigenen Lebens ein, um in den rätselhaften Erinnerungsfragmenten die geheimnisvolle Gegenwart Gottes und die Fülle seiner Liebe zu entdecken.

Kreuz-Zeichen

Das filigran gestaltete Kreuz von Tobias Eder beeindruckt durch seine starke Reduktion auf eine einzige durchgehende, schmale Linie. Sie ist in ihrer spitz gewinkelten Form der Gestik einer Bekreuzigung nachempfunden: Die Bewegung beginnt von oben nach unten, führt wieder hinauf, um dann nach links abzuknicken und schließlich nach rechts zu führen. Dieses performative Geschehen, das vor allem Anfang und Ende eines katholischen Gottesdienstes rahmt, wird in der fixierten und abstrakten Form des Vortragekreuzes zu einem liturgischen Begleitphänomen während des Gottesdienstes. So kann das Vortragekreuz die Gläubigen an die aktive Teilnahme am Gottesdienstgeschehen erinnern. Gleichzeitig kann diese zur festen Form erstarrte Bewegung verstanden werden als Illustration eines Gedankens des Apostels Paulus, der den Weg Christi beschreibt als Abstieg zur Erde und Aufstieg in den Himmel und deshalb zur umfassenden Verehrung einlädt (vgl. Phil 2,5-11). Das Material, hochpolierte Bronze, steht für Glanz und Herrlichkeit und weckt die Assoziation an Erhabenheit. Dadurch lässt sich das Kreuz als Symbol für die Überwindung des Todes durch die Auferstehung Christi und als Zeichen seiner Wiederkunft interpretieren.

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Der Text stammt mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem Katalog “ars liturgica – Gestaltung eines Vortragekreuzes” (S. 46). Mit dieser Arbeit gewann Tobias Eder 2016 den 3. Preis im Wettbewerb. Der Katalog kann HIER beim Liturgischen Institut in Trier zum Preis von 8 Euro zzgl. Versandkosten bezogen werden.

Auferweckt von den Toten

Jesus wird hier in der Haltung des Gekreuzigten wiedergegeben. Doch das Kreuz kann ihn nicht mehr halten, die Nacht umgibt ihn nicht mehr. Stattdessen schwebt Jesus als Befreiter im Raum. Der Schatten hinter ihm deutet auf ein Licht hin, das ihn beleuchtet. Ob es die Morgensonne war, die ihn geweckt hat? Geweckt aus dem Schlaf der Toten? Seine ausgestreckten Arme wirken wie das erste Strecken nach dem Schlaf, wie das freudige Erspüren des neuen Tages, einer neuen Lebenswirklichkeit.

Fremd und befremdend sind allerdings die roten Plastikteile zu seinen Füßen. Sie stehen in auffälligem Gegensatz zur natürlichen Wiedergabe des auferstehenden Gekreuzigten und erinnern in ihrer vierteiligen Struktur an Raketenleitwerke. Ihrer Größe nach stammen sie jedoch von Dartpfeilen. Sie dienen dort als Flights der Flugstabilisierung. Hier werden sie ohne die Pfeilspitzen zum Tragwerk Jesu und scheinen ihm Auftrieb zu geben bei seiner Himmelfahrt.

Dabei wird Jesus selber zum Pfeil. Die Darstellung lässt das Ziel offen. Es mag der Himmel sein, in den er aufgenommen wurde. Aber die Auferstehungserzählungen lehren uns, dass sein Ziel unsere Herzen sind – wenn wir es zulassen können. Sagten nicht die Jünger von Emmaus nach der Begegnung mit dem Auferstandenen zueinander: „Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?“ (Lk 24,32)

Zugegeben, die Darstellung ist gewöhnungsbedürftig. Auch stellt sie eine Verkürzung der Ereignisse zwischen dem Tod und der Auferstehung dar. Denn die Verwendung der Figur des Gekreuzigten suggeriert, dass er möglicherweise direkt vom Kreuz weg auferstanden ist und nicht drei Tage Grabesruhe dazwischen lagen. Durch die Verwendung der gleichen Figur wird der Kreuzabnahme, Jesu Grablegung, seinem Hinabsteigen in das Reich der Toten und seiner Erlösung der irdisch-zeitliche Raum der Veränderung oder Verwandlung genommen, die traditionell in die Darstellung des Auferstandenen einfließen.

Andererseits bringt die Plastik die Kernaussagen von Ostern auf den Punkt: „Denn unser Tod ist durch seinen Tod überwunden, in seiner Auferstehung das Leben für alle erstanden“, betet die katholische Kirche in der zweiten Präfation für die Osterzeit. – Wie wir die Sache auch drehen und wenden, wir sind seine Zielscheibe!