Innewohnen

Das eine:
groß, transparent
gerüstartig durchlässig
ein Haus andeutend,
mehr Überbau als Umbau
mit Eckpunkten luftigen Freiraum umfassend
eine Trägerkonstruktion mit Flecken
Patina, Zeitspuren

und doch …
geerdete Basis
schützende Behausung
mannshohes Gegenüber
atmender Umraum
das Kostbare im Innern bergend
Zugang gewährend
Aufbau ermöglichend

Das andere:
kleiner, unzugänglich umwandet
golden leuchtend
unangepasst schräg stehend
beinahe aneckend
fremd in vertrautem Raum
getragen in der Tiefe des Seins
ein erratischer Block?

und doch …
einfach da und kostbar
wie ein Schrein
das Heilige bewahrend
zum Himmel weisend
geheimnisvolle Präsenz
verborgene Gegenwart
überzeitliche Vollendung

Haus im Haus
Einhausung im Zeitlichen
Innewohnen des Göttlichen
goldene Mitte im Irdischen
Er hat sich klein gemacht
um uns groß zu machen
Ihn im Innern tragend
meinem Haus zum Segen

In Erwartung

Eine junge Frau steht aufrecht mit verschränkten Händen über ihrem leicht gewölbten Bauch. Ihr Kopf ist leicht nach vorne geneigt, so dass eine zusätzliche Aufmerksamkeit auf ihren Händen und ihrem Bauch liegt. In der ganzen Körperhaltung ist die Frau ganz bei sich und in sich versunken. Es ist eine Innigkeit zu spüren, ein In-sich-Hineinspüren, die neue Schöpfung, das werdende Kind in sich wahrnehmend. Sie ist guter Hoffnung – wie man früher sagte – und diese Hoffnung scheint sie im Gebet vertrauensvoll in die Hände Gottes zu legen, damit alles gut werde.

Die expressive Bearbeitung des Holzes mit den tiefen Einschnitten lässt ahnen, dass eine Schwangerschaft keine Selbstverständlichkeit ist und das werdende Kind stets existenziell bedroht ist. Auch für die Mutter ist eine Schwangerschaft „kein Spaziergang“. Das Kind in ihrem Leib verändert auch ihr Leben durch und durch. Die Zeit der Erwartung ist eine Zeit der Ungewissheit: Was wird aus dem Kind werden? Wird es gesund sein? Wem wird es gleichen? Wie wird sich mein Leben durch das Kind verändern?

Wie eine Heilige steht die Frau auf dem Holzsockel. Sie ist erhöht – ist sie die Heilige der Erwartung? Die Frau, die in Demut ihre Aufgabe annimmt, dem Leben in ihr einen Platz zu geben und ihr Leben dafür hinzugeben in der Zurücknahme von sich selbst, damit das neue Andere in ihr groß werden kann und so eigenständig, dass es nach der Geburt alleine lebensfähig ist?

Auch der Advent ist eine Zeit der Erwartung. Die Adventszeit ist ein Gehen mit Maria und ihrem Kind , damit Jesus auch in uns groß werde, um ihn in der Heiligen Nacht mit Maria zu „gebären”. So wie schwangere Frauen eine ganz eigene Ausstrahlung haben, so möchte Jesus auch durch unser Tun, unsere Lebensweise und Lebenshaltung wahrgenommen werden. Eine stille Zeit der Freude soll uns beseelen. Was für eine Gnade, Gottesträger zu sein. Das himmlische Kind im und unterm Herzen zu tragen, um ihn in den dunkelsten Nächten den Bedürftigen und Armen als Licht der Welt zu schenken mit der Botschaft der Hoffnung und Freude, dass sie nicht allein sind, sondern gesehen werden von Immanuel, vom „Gott mit uns“ (vgl. Jes 7,14 / Mt 1,23).

 

I M M A N U – E L               (Wladimir Solowjow)

Ins Zeitendunkel ist die Nacht entschwunden,
In der ein Stern erstrahlte – klar und hell,
In der sich Erd‘ und Himmel neu verbunden,
In der geboren ward Immanu-El.

Zwar vieles könnte heut‘ nicht mehr geschehen:
Dass Hirten hör‘n der Engel Lobgesang,
Dass heil‘ge Könige zum Himmel sehen
Und folgen dann des neuen Sternes Gang.

Doch in der Flucht der Zeit bleibt unverloren
Das Ewige, das uns erschien in jener Nacht.
Von neuem wird das WORT in dir geboren,
Das einst im Stalle ward zur Welt gebracht.

Ja! Gott mit uns – nicht dort, in Himmelszelten
Und nicht in Sturmeswehn, in Feuer nicht und Streit,
Und nicht in Fernen unerforschter Welten,
Und nicht im Nebel der Vergangenheit.

Nein: hier und jetzt: im eitlen Weltgetriebe,
Im trüben Lebensfluss, im Alltagstrott
Tönt uns die Botschaft von der ew‘gen Liebe:
Besiegt sind Not und Tod – mit uns ist Gott.

Konzilium

Zwei Figurenpaare in langen Gewändern stehen sich auf einem von Einschnitten zerklüfteten Stück Holz gegenüber. Es ist ein Gipfeltreffen auf einer kleinen Insel, vielleicht sogar auf der letzten, wo auch immer treibenden Scholle. Die vier Abgeordneten erscheinen bescheiden als Würdenträger, als Autoritäten mit der Befugnis zu besprechen und zu verhandeln.

Thematisch könnte es – wie es das von Motorsägen zerfurchte Stück Eichenholz, der achtlos zurückgebliebene „Zwischenraum” andeutet – um die letzten Dinge gehen. Es könnte um all das gehen, was voneinander trennt, die tiefen Gräben zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur, aber auch zwischen gegensätzlichen Vorstellungen und Prinzipien, für die die Figuren stehen.

Die Beratung findet an einem außerordentlichen Ort statt. Er zeigt auf, was alles repariert und überwunden werden muss, um den Boden, auf dem sie stehen wieder ganz und begehbar zu machen. Es geht um alles. Es geht um’s Prinzip.

Doch wer sind die vier Persönlichkeiten? Ihre Attribute sind minimal. Die Personen treten paarweise einander gegenüber, so dass zwischen ihnen eine – möglicherweise gegensätzliche – Beziehung entsteht. Sie erinnern an die Jünger, die Jesus zu zweit als Vorboten in die Orte ausgesandt hat, in die er selbst gehen wollte (vgl. Lk 10,1). Die Person mit dem Stab in der Hand hat etwas von einem Wanderer, von einem Hirten, aber auch von einem Herold, der im Namen seines Herrn eine Botschaft zu verkünden hat. Andererseits vermag der Stab auf den Brauch zu verweisen, dass Könige und Richter bei der Rechtsprechung einen Richterstab gehalten haben. Bei einer allegorischen Interpretation könnte der Stabträger deshalb für die Gerechtigkeit stehen. Ausgehend von Psalm 85 Vers 11, in dem grundlegende ethische Prinzipien – früher als „göttliche Tugenden“ bezeichnet – sich paarweise gegenüberstehen, könnte der stille Begleiter zur Linken der Gerechtigkeit die Wahrheit sein, charakterisiert durch die dreieckigen Teilformen, die auf Gott als ihre Quelle verweisen. Ihnen gegenüber die Gnade, Huld oder Barmherzigkeit mit dem Frieden an ihrer Seite. Dabei charakterisiert sich die Barmherzigkeit durch einen Riss, der tief einschneidend von der Brust nach unten führt.

So wie im Psalm Gnade und Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede Zeichen von Gottes Nähe und Heil sind, so künden die vier allegorischen Figuren in ihrem konziliarischen Bemühen von der Überwindung von Meinungsverschiedenheiten und Glaubensgräben als auch von der Versöhnung der Gegensätze und zerstörerischen Verletzungen im Kommen des HERRN, der uns die Zusage gegeben hat: „Seht, ich mache alles neu.“ (Offb 21,5) Diese Zeitenwende ist mit der Geburt Jesu geschichtlich bereits eingetreten, so dass die Menschen durch Jesus Christus erlöst und befreit sind von den Forderungen des Gesetzes, die Gegensätze versöhnt und die Gräben überwunden sind. Zumindest für die, die daran glauben. (vgl. Joh 3,16f)

In dem Sinne wird das weggeworfene Stück Holz zum Symbol für Jesus selbst. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden.” (Mk 12,10) Jesus ist das tragende Fundament und verbindende Element, Er ist das Boot, das die Gläubigen über Abgründe und durch die Stürme trägt. Das zerklüftete Holz vermag selbst auf das Leiden am Kreuz zu verweisen, an dem Jesus aus Liebe zu uns für unsere Sünden gestorben ist.

Psalm 85,9-14
Ich will hören, was Gott redet: Frieden verkündet der HERR seinem Volk und seinen Frommen, sie sollen sich nicht zur Torheit wenden. Fürwahr, sein Heil ist denen nahe, die ihn fürchten, seine Herrlichkeit wohne in unserm Land. Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Treue sprosst aus der Erde hervor; Gerechtigkeit blickt vom Himmel hernieder. Ja, der HERR gibt Gutes und unser Land gibt seinen Ertrag. Gerechtigkeit geht vor ihm her und bahnt den Weg seiner Schritte.

 

Arbeiten von Annette Zappe sind bis zum 14. April 2024 in der Schatzkammer des Museums Kloster Kamp in der Einzelausstellung „SchittWeise” ausgestellt und zu besichtigen.

Die Kathedrale

Vor und in einer terrassenförmigen Landschaft erhebt sich fast unsichtbar ein hochaufragendes, sakrales Bauwerk. Unsichtbar, weil die kleinteilige Struktur der unregelmäßig verteilten und ungleich großen, dunklen Fenster sich über das ganze Relief verteilt. Die Kathedrale hebt sich nur durch ihre vertikale Gliederung von den horizontalen Terrassen des Fundamentes oder des Hintergrundes ab. Ihr Baumaterial besteht aus dem gleichen Rotbuchenholz wie ihr Umfeld, doch ihre Zeichen wachsen transzendent über das Vergängliche hinaus.

Als Relief mit Erhöhungen und Vertiefungen geschnitzt bildet es einen unwirklichen Raum zwischen flachem Bild und dreidimensionalem Architekturmodell, der gleichzeitig vermittelnd die alles übersteigende Wirklichkeit zur Sprache bringt.

Der Einstieg in die Höhe, die zum Höchsten und in die Tiefe, die zum Tiefsten und alles Tragenden führt, beginnt am unteren Reliefrand. Pyramidenförmig sich zuspitzend führen 23 Stufen hinauf zur schmalen kleinen Eingangstür unter einem sich immer weiter verkleinernden Torbogen. Die nach oben weisende Dreiecksform wiederholt sich im Giebel der Eingangshalle, über dem sich die Fassade des fünfschiffigen Langhauses erhebt, dessen Dach wiederum steil nach oben zu den fünf Türmen weist.

Frau Dr. Renftle, die Kuratorin der Ausstellung „Geöffnet – Verschlossen“ in Biberach schreibt dazu treffend: „Das Tor hat ebenso viel räumlich abgestufte Tiefendimension wie die Treppe ein mühsam zu erklimmender, vielstufiger Berg ist. Diese hohen, vielteilig gegliederten und emporgeschichteten Kathedralfassaden können als ein Gleichnis auf die Schöpfung oder das Himmlische Jerusalem angesehen werden – wer hineingelangen möchte, muss sich erst auf dem steilen Stufenberg hinauf quälen – zwar wird er bald von schwingenden Rundbögen beschirmt, das Ziel jedoch erscheint fern und klein wie ein Schlüsselloch. Dieses letzte Tor wirkt im Gesamtgefüge ungeheuer winzig und doch hält es die gesamte, vielfach perforierte, höchst unruhige Komposition im Innersten zusammen, fokussiert das ganze Gewimmel auf das Nadelöhr, durch das ein Jeder hindurch finden muss, will er sich das Reich erschließen, das dieser Kathedralen-Kosmos versinnbildlicht. Die archetypischen Symbole von Treppe und Tor sind hier ebenso dynamisch wie untrennbar verbunden: Das Eine bedingt das Andere, das Aufsteigen ermöglicht erst das Eintreten.“ (Renftle S. 43)

Zwei weitere Beobachtungen kommen dazu: Zum einen führen die Treppe und der Torbogen in die Tiefe. Sie führen über viele Stufen und Abstufungen in die Tiefe des Glaubensgebäudes, weit hinein in die symmetrische Mitte, die vertikal alles im Gleichgewicht hält. Das Eintreten bildet für den Betrachter gleich dem real Eintretenden ein Schlüsselerlebnis, das ihn mittet, ihnen sakramental die verlorene Mitte und damit das seelische Gleichgewicht wiederschenkt. Das erhebt den Menschen weit über sich hinaus in himmlische Sphären, verbindet ihn unsichtbar mit seinem Schöpfer und Herrn, der Mitte und alles in allem ist.

Das vierte archetypische Symbol neben Treppe, Tor und Tiefe ist die Höhe. Die hochaufragende Kathedrale versinnbildlicht mit ihrer feinen Gliederung und edlen Gestaltung den Sitz des Bischofs. In ihrer vertikalen Fächerung bietet sie Schutz, in ihrer horizontalen Gliederung breitet sie empfangend einladend die Arme aus. Im übertragenen Sinn spricht diese Kathedrale die Einladung Jesu aus: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. “ (Mt 11,28) „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen, …“ (Joh 14,2) Jesus selbst ist der Gastgeber in dieser Kathedrale, die mit ihren Fenstern wie eine Stadt, in ihrer weißen Gestalt wie das himmlische Jerusalem, die verheißene Stadt, das neue Paradies wirkt.

„Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein.“ (Offb 21,2-3)

Das Bild ist in der Themenausstellung „Geöffnet – Verschlossen. Tür und Tor in der bildenden Kunst” bis zum 24. November 2023 in der Galerie der Stiftung BC – pro arte in Biberach zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog mit allen Werken und einer umfassenden kunstgeschichtlichen Einführung der Kuratorin Dr. Barbara Renftle erschienen.

Kreisen um die goldene Mitte

Rote Linien oder besser gebogene Holzstäbe sind in der dreidimensionalen Skulptur spielerisch mit der goldenen Mitte im Dialog.

Drei Ovale umkreisen die Mitte und definieren das Kreisen in seiner dreifachen Wiederholung als etwas Bestimmtes, Sicheres, vielleicht sogar als etwas Heiliges. In ihrer Gesamterscheinung geben sie der Skulptur das Aussehen eines Sonnensystems oder auch eines großen Auges.

Sechs zur Mitte hin gebogene Linien sind ein weiterer Ausdruck des Dialogs mit dem Zentrum. Von außen kommend nähern sie sich der Mitte mehr oder weniger und entfernen sich dann wieder. Dabei kreuzen sie die konzentrischen Linien und bilden eine Vielzahl von Berührungspunkten. In der Gesamterscheinung deuten die nach außen offenen Bogenformen eine dynamische Kreuzform an.

Das Zentrum bildet ein runder, gewölbter Körper mit einem goldenen Innenraum, der von einem unsichtbaren Licht warm pulsierend erleuchtet wird. Für den Zürcher Künstler Adrian Bütikofer steht es in seinem skulpturalen Wandobjekt symbolisch für die Bahnhofkirche im Zürcher Hauptbahnhof, einem spirituellen Ort der Konzentration und Stille inmitten der dynamischen Betriebsamkeit des Bahnhofalltags. So gesehen könnte das Objekt ein Ausdruck für unser geschäftiges Leben sein.

Darüber hinaus vermag das pulsierende Licht unsichtbarer Herkunft aber auch das göttliche Licht und seine nicht nur das Herz bewegende Kraft zu symbolisieren. Es steht für Gottes geheimnisvolle Gegenwart in jedem Menschen. Als unsere Lebensquelle brennt er in uns und von ihm strömt das Leben durch uns wellenförmig in die Welt.

Gleichzeitig können die strahlenförmig zur Mitte und wieder nach außen führenden Holzlinien mit Aktion und Kontemplation, dem Suchen und Finden von Gott, dem Verweilen bei Ihm und der Sendung durch Ihn gedeutet werden. Überraschend tauchen Assoziationen zum spätmittelalterlichen Meditationsbild des Niklaus von Flüe auf. Doch in der vorliegenden Arbeit werden keine inhaltlichen Vorgaben gemacht. Die aus einem Holzstück herausgearbeiteten „Holzlinien“ können mit ihrer lebendigen Struktur und dem pulsierenden Rot genauso als Blutbahnen, Lebensadern oder als Transportsysteme gedeutet werden, aber ebenso als vom Heiligen Geist dynamisch durchwehte Lebensbahnen.

In dieser Offenheit lädt die Skulptur zur Betrachtung und Meditation ein: Über die Bedeutung eines Ortes der Stille und der Spiritualität inmitten der ruhelosen Geschäftigkeit eines Bahnhofes, eines Stadtzentrums, eines Menschenlebens. Gegen den Zeitgeist weist sie auch leise darauf hin, dass der Mensch nicht um sich selbst kreisen soll oder er selbst im Mittelpunkt steht, sondern die goldene Mitte Gott ist. Die mit Abstand von der Wand in der Luft schwebende Skulptur lässt spüren, dass unsere Freiheit und all unsere Bewegungen nur durch den festen Halt in unserer Mitte möglich sind. Diesen innersten Halt gilt es immer wieder zu suchen und erneuernd zu festigen, damit – wie mit den symbolischen zwölf Enden angedeutet – das unendliche Neuland des Lebens zuversichtlich beschritten werden kann.

 

Die Wandskulptur war bis zum 25. August 2023 in der Bahnhofskirche Zürich ausgestellt. Auf der Website finden sich zudem Fotos zum Entstehungsprozess. Ganz unten einige Links zum Flyer der Kunstintervention und zu “Wegworten” der Seelsorgenden:  mittendrin / kreisen kurven kreuzen / ein Gott der mich ansieht.

GottesBegegnung

Im oberen Drittel öffnet sich der dünne Bronzestab und gibt zwei Menschen frei, die sich mit ausgebreiteten Armen Stirn an Stirn gegenüberstehen.

Ohne diese Öffnung wäre es nur ein Metallstab, aber durch die beiden Köpfe wird der Stab menschlich und mit den weit ausgebreiteten Armen zum Kreuz. Nicht weil hier jemand gekreuzigt worden wäre, sondern weil sich zwei Menschen „in der Klemme“ beistehen, sich berühren, stützen und halten. Herz an Herz stärken sie sich, Hand in Hand gleichen sie waagrecht die vertikale Spannung aus, die aus der Tiefe in ihre Körper aufsteigt und durch ihre emotionale und körperliche Zuneigung Stirn an Stirn überbrückt wird.

Tief schauen sie sich in die Augen, ergründen gegenseitig die Tiefen und Abgründe des anderen. Es ist ein ungewöhnliches Haltgeben und Aushalten. Es ist ein Hingeben in einer außerordentlichen Nähe. Eine Art Umarmung und sich Schenken in einer Notsituation, in der keine Umarmung mehr möglich ist, aber dennoch ein hilfreiches Da-Sein in existenzieller Einsamkeit. Die geöffneten, sich nicht festhaltenden, in der behutsamen Berührung aber dennoch nahen Hände signalisieren die Achtung und Wertschätzung des anderen als auch die Bereitschaft, jederzeit helfen zu können. Es ist die Erfahrung eines menschlichen Gegenübers auf Augenhöhe und in der vollumfänglichen körperlichen Wahrnehmung von den Zehen bis zum Kopf, emotional mit den Herzen und geistig mit den Gedanken verbunden.

Durch das fast übergangslose Hervortreten der beiden Personen aus dem langen Stab erhält der verzweifelte Hilferuf des Psalmisten „Aus den Tiefen rufe ich, Herr, zu dir!“ (Ps 130,1ff) und seine Bitte um Beachtung und Erhörung neue Aktualität. Die Hoffnung der Seele auf das Kommen des Herrn und sein verzeihendes Wort findet im Gegenüber bereits Erfüllung. Jesus ist in unsere Tiefen hinabgestiegen, um uns in all unseren Schmerzen, Leiden und einsamen Toden beizustehen.

Das außergewöhnliche Vortragekreuz mit zwei einander zugewandten Gekreuzigten ist auch bereits Antwort auf den Ruf Jesu in seiner Todesstunde: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.“ (Ps 22,2-3) Denn da ist ein Gegenüber, das die Einsamkeit erträglicher macht, die Schreie hört, im Mitgefühl und Mitleiden Zuversicht schenkt. In der zweiten Person wird die Caritas sichtbar, die wertschätzende und helfende Liebe gegenüber allen Notleidenden und Benachteiligten.

Der gespiegelte Gekreuzigte macht die Haltung der hingebenden Nächstenliebe sichtbar und verdeutlicht, im eigenen Tun und Handeln gegenüber den Mitmenschen stets Jesu Ruf in die Nachfolge zu hören und letztlich Christus selbst in den Mitmenschen zu begegnen und zu dienen.

Geschenkte Größe

Inmitten des großen Kreisrunds begegnet uns golden hinterlegt die heilige Familie. Maria sitzt und hält das Jesuskind in ihrem Arm, Josef steht zugewandt und beschützend dahinter. Relativ zu der großen und schweren Masse des Steines, der einen beeindruckenden Durchmesser von einem Meter hat, wirkt das Kind klein und zerbrechlich wie ein soeben Neugeborenes.

Der runde Stein steht für die Vollkommenheit, aber es kann auch das Weltenrund darin gesehen werden oder ein Menschen-Leib, in dem Leben heranwächst, oder sogar ein Brot-Laib. Jesus ist als Erdenbürger geboren worden, er ist leib-haftig Mensch geworden. Er will in uns zur Welt kommen und sich als lebendiges Brot verschenken, damit wir in Ewigkeit leben (vgl. Joh 6,51).

Wie aus dem Auge oder dem Herzen der Welt heraus präsentieren Maria und Josef allen auf dem Weltenrund den Gottessohn. Vom unteren Weltenrand schauen die versammelten Völker zum Licht auf, das über ihnen aufstrahlt wie Jesaja vorhergesehen hat: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht.” (Jes 9,1) Endlich ist der Retter da! – und doch ist da noch eine Distanz dazwischen.

An die Menschenmenge und uns Betrachter richten sich drei Zeilen aus dem Gedicht „Das Marien-Leben” von Rainer Maria Rilke (1911/12), die über der Heiligen Familie in den Stein gemeißelt sind:

… SIEH, DER GOTT, DER ÜBER VÖLKERN GROLLTE,
MACHT SICH MILD UND KOMMT IN DIR ZUR WELT.
HAST DU IHN DIR GRÖSSER VORGESTELLT?

Rilke und auch der Künstler weisen damit auf die Barmherzigkeit Gottes hin, auf seine Liebe zu uns Menschen, die mit der Geburt seines Sohnes in die Welt gekommen ist. Das Zentrum ändert sich: Gott ist nicht mehr nur oben im Himmel, sondern auch und vor allem mitten auf der Erde. Gott ist nicht mehr fern, sondern nahe, er ist nicht mehr zornig, sondern gnädig, er trägt nicht mehr nach, sondern verzeiht. Deshalb ist das Erstaunen groß und die Frage berechtigt, welche der Künstler zwischen die Heilige Familie und die erwartungsvollen Völker gestellt hat: WAS IST GRÖSSE?

Was ist Größe? Rilke vergleicht in seinem Gedicht zur Geburt Jesu alle Schätze der Welt und das Ansehen der Könige mit der Geburt des Gottessohnes und kommt zu dem Schluss, dass das alles nichts wert ist gegenüber dem Geschenk, das Gott den Menschen macht: Er schenkt sich selbst. Jedem Menschen, bedingungslos und umsonst, obwohl wir das nicht verdient haben. Er möchte der Mittelpunkt unserer Seele, unseres Herzens, unseres ganzen Lebens sein, damit wir als erlöste und befreite Menschen mit ihm und mit allen Menschen in Frieden leben und die Fülle des Lebens erfahren. Gott macht sich klein und schenkt sich jedem von uns unverdienterweise. Das ist seine wahre Größe. Das größte Geschenk, das weitergeschenkt werden will.

 

Die Skulptur war vom 05.11.2022 bis 22.01.2023 Teil der 82. Telgter Krippenausstellung “Mittendrin” im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte.

GegenMacht

Die Gestalt des Gekreuzigten wächst hoch oben aus der dünnen Senkrechten heraus. Sein Körper ist bis auf den Kopf und die Arme vor allem auf der Vorderseite figürlich als Beine, Lendenschurz, Bauch und Brustbereich gestaltet. Die senkrechte Teilung der Beine setzt sich in einem Spalt im Brustbereich fort und bildet dort mit der Unterseite der Brust ein Kreuz.

Der Kopf ist nach rechts gedreht, der Blick nach unten gerichtet. Seine Arme hat der Erhöhte maximal ausgestreckt, ebenso seine Hände: rechts senkrecht erhoben, links waagrecht nach vorne abgewinkelt. So bildet der Körper als Ganzes ein hochaufragendes Kreuz, gleichzeitig trägt er im Brustbereich das Kreuz in den Körper eingeschrieben.

Er ist nicht als der leidende Jesus dargestellt, auch wenn seine Wundmale deutlich zu sehen sind. Jesus wird nicht als passiv das Leiden Erduldender, sondern als Mitleidender, als sich Erbarmender und Beschützer aller wie er Gekreuzigter dargestellt. Er hat das Unrecht der Missbrauchten durch Spott, Folter und Tod am eigenen Leib erfahren. Nun wehrt er sich und verteidigt alle: Es ist genug! Hört auf! Das ist nicht auszuhalten!

Jesus tritt den Peinigern und Mächtigen als Verteidiger der Missbrauchten und Entwürdigten entgegen: Am Kreuz erhöht stellt er sich mahnend zwischen die Gewalttätigen und die Unterdrückten. Mit seiner aufgerichteten rechten Hand gebietet er Halt und Einhalt, mit seiner waagrecht gehaltenen linken Hand wehrt er eher ab. Jesus hält die Gewalttätigen auf Distanz, er schaut sie nicht an. Er, der Menschenfreund, weist sie ab und will auch nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Er will auch von seinen eigenen Leuten nicht missbraucht oder verzweckt werden.

Missbrauch hat viele Gesichter und durchzieht zu allen Zeiten alle Gesellschaftsbereiche. Er ist uns näher als wir vielleicht denken, wenn wir stärker, reicher, klüger, älter, gesünder oder einflussreicher sind als andere (vgl. Lk 1,48-53). Macht ist schnell missbraucht, wenn Eigeninteressen höher gestellt werden als das Gemeinwohl und insbesondere das Wohlbefinden des Nächsten im biblischen Sinne. Niemand ist vor dieser Versuchung gefeit, auch nicht Priester oder Lehrer, Väter oder Mütter, Geschäftsleute, Arbeitgeber oder Politiker. Jesus ist gegen jede Art der Unterdrückung und Bevormundung. Im Christuslied des Philipperbriefes (2,6-8) wird beschrieben, wie Jesus auf seine unvorstellbare Machtfülle verzichtete, um den Menschen nahe zu sein und ihnen durch Gottes heilende, stärkende und rettende Kraft ihre Menschenwürde zurückzugeben.

Jesu Gegenmacht zum „Missbrauch von gutem Brauch“ ist seine Liebe und Fürsorge, sein Für-andere-da-Sein. Sein Umgang mit den Menschen ist geprägt von Respekt und Toleranz, von Wertschätzung und Vertrauen in deren Fähigkeiten und Kräfte. In seinen Augen sind alle Menschen gleich und in seiner Gerechtigkeit gibt es keine Unterschiede, außer dass den wie auch immer Benachteiligten Hilfe und Unterstützung zusteht.

Dieses Kreuz verkörpert Jesu Haltung über den Tod hinaus. Von „Gott über alle erhöht“ (Phil 2,9) bleibt er für alle Selbstsüchtigen und Peiniger ein Mahner des Unrechts und somit ein Stein des Anstoßes und ein Zeichen des Widerstands. Alle anderen stärkt Jesus als unübersehbares Vorbild im rechten und guten Umgang miteinander.

Gefäß der Menschlichkeit

Das bauchige Gefäß strahlt in seiner schlichten Form viel Menschliches aus. Mit seiner großen Basis steht es geerdet und standfest da. So schnell lässt es sich nicht umwerfen. Durch die nach hinten versetzte Öffnung wölbt sich der vordere Bereich wie eine stolz geschwellte, Selbstbewußtsein ausstrahlende Brust … trotz des großen Risses im Holz.

Der Schwundriss, der bei der Holztrocknung entstand, mutet wie eine Verletzung an, eine äußere Beeinträchtigung, die manche als Makel oder Verlust an Schönheit empfinden und der für sie schnellstens beseitigt und behoben gehört.

„trotz dem“ steht in Goldbuchstaben neben dem Riss. Die zwei Worte sind ein Zeichen des Widerstandes, des Protests. Trotz des Risses kann das Gefäß für die Aufbewahrung von Gegenständen gebraucht werden. Vor allem kann es an das Wesentliche erinnern, das jenseits seiner praktischen Funktion liegt: Das Da-Sein an sich und die Schönheit selbst. Trotz seiner Beeinträchtigung hat es eine Daseinsberechtigung und gerade damit darf es Wertschätzung erfahren.

Das Gefäß ist weitgehend rot bemalt. Wie ein Kleid bedeckt die rote Farbe den weißen Grundton, der an der Basis wie ein Unterkleid noch zu sehen ist. Die rote Farbe leuchtet warm wie ein Mantel der Liebe und der Barmherzigkeit, der über die verletzte Unschuld geworfen wurde, als wollte gesagt werden: Trotzdem bist du geliebt.

So ist das bauchige Gefäß voller Symbolik und Parallelen zu uns Menschen. Niemand von uns ist perfekt. Jeder von uns hat früher oder später irgendwo einen „Sprung“, eine äußere oder innere Beeinträchtigung. Wunden gehören zum Leben ebenso wie die Spuren von Brüchen, Unfällen oder unserem Lebenswandel. Sie sind die „Schwachstellen“, an denen unser Inneres offenbar wird und Licht auf unsere verborgenen oder dunklen Schattenseiten fallen kann.

Sehr schön kommt das im Kintsugi zur Geltung, der japanischen Kunst Tongefäße zu reparieren. Zerbrochene Gefäße werden nicht weggeworfen, sondern in einem aufwändigen Prozess so wieder zusammengefügt, dass sie dauerhaft halten und brauchbar bleiben. Zum Schluss werden die Sprünge und Bruchstellen vergoldet, wodurch dem Gefäß und seiner Geschichte eine besondere Wertschätzung verliehen wird.

So lässt auch das Holzgefäß mit seinem golden geschriebenen „trotz dem“ (an sich wird das Wort trotzdem zusammengeschrieben, doch durch die Trennung wird es sinnhafter!) über den Umgang mit den Widerwärtigkeiten, Unglücken und Brüchen nachdenken, die wesentlich zu unserer Existenz gehören. Wir sind nicht perfekt, es kann nicht alles gelingen, es kann nicht alles heil bleiben, allein schon wegen unserer Schwächen und unserer Vergänglichkeit.

Gerade deswegen besteht das Leben aus vielen unentwegten Trotzdems. Trotzdem leben wir. Trotzdem arrangieren wir uns und versuchen wir das Beste daraus zu machen. Das bauchige Gefäß ist eine Aufforderung, allen widrigen Gegebenheiten zu trotzen und zu widerstehen. Seine Aufschrift motiviert, etwas dennoch zu machen, auch wenn man keine Lust oder keine Motivation dazu hat. Sie ist eine Einladung, trotzdem Werte zu haben und sich für sie einzusetzen, auch wenn andere diese nicht teilen, weil sie ihnen sinnlos oder zu kostspielig erscheinen. Sie ist eine Einladung, trotz der vielen Enttäuschungen an das Gute im Menschen zu glauben, trotzdem zu vertrauen und immer wieder einen neuen Versuch zu wagen.

Mutter Teresa: Trotzdem

Die Leute sind unvernünftig,
unlogisch und selbstbezogen;
LIEBE SIE TROTZDEM
Wenn du Gutes tust, werden sie dir
Egoistische Motive und Hintergedanken vorwerfen,
TUE TROTZDEM GUTES
Wenn du erfolgreich bist,
gewinnst du falsche Freunde und echte Feinde,
SEI TROTZDEM ERFOLGREICH
Das Gute, das du tust, wird morgen vergessen sein,
TUE TROTZDEM GUTES
Ehrlichkeit und Offenheit machen dich verwundbar,
SEI TROTZDEM EHRLICH UND OFFEN
Was du in jahrelanger Arbeit aufgebaut hast,
kann über die Nacht zerstört werden,
BAUE TROTZDEM
Deine Hilfe wird wirklich gebraucht,
aber die Leute greifen dich vielleicht an,
wenn du ihnen hilfst,
HILF IHNEN TROTZDEM
Gib der Welt dein Bestes,
und sie schlagen dir die Zähne aus,
GIB DER WELT TROTZDEM DEIN BESTES.

(Zeilen auf einem Schild an der Wand von Shishu Bhavan, dem Kinderheim in Kalkutta)

 

Von der Arbeit “trotz dem” gibt es auch eine Postkarte (Voransicht), die unter der Bestellnummer 6043 beim Künstler bestellt werden kann.

Zusammenhalt

Haltlos waren die rotbraunen Metallbänder, als sie dem Generationenwechsel im Schienenbau zum Opfer fielen. Ausgerechnet sie, die dazu gefertigt wurden, alten hölzernen  Eisenbahnschwellen Halt zu geben und mit ihnen Stabilität den Schienen und Sicherheit den darüberrollenden Zügen und Fahrgästen.

Aufgeschnitten lagen die Bänder in Haufen als Schrott oder Altmetall herum. Offen für einen neuen Verwendungszweck, der vom Einschmelzen bis zur Weiterverwendung in einem anderen Kontext reichen konnte. Wie hier in einem Kunstwerk.

Verbunden wurden sie vom Künstler durch das Verschweißen an unerwarteten Stellen. Sie bilden in ihrer Verworfenheit nun eine Solidargemeinschaft, in der jedes Band die Spuren seiner ursprünglichen Bestimmung und Aufgabe als auch seine Trennung davon als gestaltgebendes Moment in das neue Zusammen und damit in den neuen Lebensabschnitt einbringt. Die Gemeinschaft ist der Wund-Verband, der hilft die Verletzungen der Vergangenheit zu heilen. Sie werden sichtbar bleiben und damit der neuen Gestalt ein unverwechselbares Gesicht verleihen.

Offen geben sich die Zwischenräume, durchlässig für ganz verschiedene Deutungen. So kann in der Metallskulptur ein Menschen- oder Löwengesicht gesehen werden, das von einem roten Wuschelkopf oder einer roten Mähne umgeben ist. Gleichzeitig atmet in dem Linienverbund die Blätterstruktur einer blühenden Rose. Da ist viel Luft, Freiraum und Toleranz im Innern, aber auch viel Offenheit nach außen. Die freien Enden der Bänder sind bereit, Suchenden Halt und Gemeinschaft anzubieten. Im einen wie im anderen Bild ist Leben und Freude zu spüren, … ein neuer, sinngebender Zusammenhalt.

Doppeltes Zwiegespräch

Ein losgelöstes Gesicht schaut in den Spiegel seiner selbst. Abgeschnitten und gewendet vermag es das Unmögliche zu vollbringen, in sich selbst hineinzuschauen bzw. sich im eigenen Selbst zu spiegeln oder zu erkennen. Doch es bleibt ein Anschauen, ein Außen-vor-Bleiben: denn der Spiegel ist kein Fenster, er ermöglicht keinen Blick ins Innere, er zeigt nur den Betrachter und sein unmittelbares Umfeld.

Die Selbstreflexion wird hier ins Bild und ins Gespräch gebracht. Nicht andere zu spiegeln oder ihnen einen Spiegel vorzuhalten, sondern sich selbst ins Gesicht zu schauen und in sich zu gehen. Das hintergründige Werk fordert auf, in die Tiefe zu gehen, sein Denken und Tun zu ergründen und auf den Prüfstand zu stellen. Einsichtig und demütig zu versuchen, Einsicht in die eigenen innersten Beweggründe zu erhalten. Nicht umsonst sagt Jesus zu seinen Zuhörern: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Mt 7,3)

Selbsterkenntnis ist nicht so leicht wie es aussieht. Das zeigt auch die verwendete Büste der Allegorie des Sommers. Sie steht wie ihre drei Kolleginnen Frühjahr, Herbst und Winter für eine zeitlich begrenzte Zeitspanne, die wiederkehrend von natürlichen Rhythmen geprägt ist. So stellt die Allegorie zum einen ein Vanitas-Symbol dar, zum andern steht sie für die frühe Blütezeit des Lebens. Die Selbstbetrachtung ist also eine Standortbestimmung auf der Reise durch das Leben. Kein Selfie, kein äußeres Ablichten vor einem bedeutenden Hintergrund, sondern vielmehr ein Röntgenbild, welches das ganze Sein final durchleuchtet.

Der Betrachter ist eingeladen, mit in den Spiegel zu schauen – er kann sich neben der Allegorie selbst sehen. Doppelt wird er gespiegelt, da auch die Rückseite des Gesichts verspiegelt ist. Hinter dem  Antlitz der Allegorie des Sommers sieht der Betrachter sein eigenes Gesicht. Das Kopfsegment wird gleichsam zu einer Maske und er sieht sich in ihr. Mit ihr und in ihr kann sich der nun Maskierte nur allegorisch betrachten, wie in einer verschleierten, anderen Sprache. Die Wahrheit ist nicht so nah wie gedacht. Vielmehr scheint sie durch viele Fragen in die Ferne zu rücken: Bin ich ganz die Person, die ich bin? Zeige ich mein wahres Gesicht? Bin ich authentisch die Persönlichkeit, die Gott in die Welt und seine Nachfolge gerufen hat? Oder spiele ich wie in einem Theaterstück eine Rolle, um jemand zu sein und anderen zu gefallen? So gleicht der Blick in den Spiegel einem Blick in die Seele, der die tiefsten Wahrheiten zu offenbaren und zu enthüllen vermag.

Die Allegorien der vier Jahreszeiten erinnern an die Vergänglichkeit des blühenden Lebens und mahnen die Zeit zu nutzen und zu schätzen, die einem bleibt. „Carpe diem – pflücke den Tag“- pflegten die Römer zu sagen. Jeder Tag ist ein Geschenk, etwas aus ihm bzw. aus mir zu machen. An meinem Profil zu arbeiten, meine Fähigkeiten zu schulen und mich konstruktiv in die Gemeinschaft einzubringen. Jeder hat eine Berufung, eine Aufgabe in dieser Welt. Meine Fähigkeiten sind gefragt, ich bin aufgefordert, authentisch die Herausforderungen dieser Zeit mitzugestalten und mitzubestimmen. Die EIN-Sicht stärkt mein Selbstbewusstsein und ermöglicht Selbsterkenntnis. Aber sie eröffnet mir auch Perspektiven, eine AUS-Sicht, die ermutigt zu leben und wo und wie auch immer Leben zu schützen und zu fördern.

Schlüssel zum Leben

Sehr schlicht präsentiert sich dieses Kunstwerk ganz besonderer Art. Auf einer Grundplatte steht hochkant ein Stück Holz mit einem abgenutzten Türbeschlag, der oben keinen Griff oder Knauf, aber unten ein intaktes Schlüsselloch hat. Nichts weist auf eine außergewöhnliche Situation hin. Allein ein Klingelknopf lädt zum Drücken und Hoffen ein, dass dieser eine Reaktion auslöst, durch die sich die eigenartige Aufmachung erklärt.

Doch auf Knopfdruck ereignet sich nicht allzu viel. Allein das Schlüsselloch wird beleuchtet, was allerdings die Aufmerksamkeit auf sich zieht und genauer hinschauen lässt. Denn im Schlüsselloch wird ein Kleinkind mit nacktem Oberkörper und lockigem, goldenem Haar sichtbar: Jesus! Die karge Tür ist gleichsam der Stall, in dem er geboren, die Krippe, in die er gelegt wurde. Er erstrahlt als Licht in der Dunkelheit des Schlüssellochs. Er nimmt den Platz des Schlüssels ein und verweist damit auf die vorweihnachtliche O-Antiphon des 20. Dezembers, in der die Schlüsselgewalt des Gottessohnes verkündet und ersehnt wird:

O Schlüssel Davids, Zepter des Hauses Israel  –
du öffnest, und niemand kann schließen,
du schließt, und keine Macht vermag zu öffnen:
o komm und öffne den Kerker der Finsternis.“
(vgl. Jes 22,22; Offb 3,7; Mt 16,19)

Jesus ist der Schlüssel zum Reich Gottes. Sein Leben, seine Worte der Liebe öffnen neue Lebensräume und führen aus der Gebundenheit und Gefangenschaft dunkler Abhängigkeiten in die Freiheit des wahren Lebens. Die Geburt Jesu ist der geschichtliche Wendepunkt. Seine Geburt lässt sich leicht übersehen, seine universelle Bedeutung in seiner Zeit weder erahnen noch verstehen.

Heute feiern wir mit Millionen von Lichtern Jesu Geburt. Aber haben wir verstanden, was es bedeutet, die Liebe selbst zu sein? Bei Jesus und in unserem Leben für den Nächsten?  Die Liebe allein vermag die Türen der Herzen zu öffnen und diese mit Licht und Leben, mit Glückseligkeit und Freude zu erfüllen. Keine andere Kraft hat eine solche Macht.

Komm Herr Jesus, kehr bei uns ein. Sei unser Gast und erfülle uns mit deinem Licht und deiner Liebe, auf dass wir heil werden und selbst zu befreienden Schlüsseln der Liebe werden.

Diese Krippe ist bis zum 13. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Warten auf Jesus

Ein junges Paar steht am Ausgang eines Bahnhofs. Die einfach gekleidete junge Frau hält ein Baby in den Armen, ein Bauarbeiter in einfacher, verschmutzter Kleidung steht ihr bei. Ein Mann in weißer Latzhose und einem gelben Koffer schaut zu ihnen hinüber. Hinter ihnen öffnet sich der Blick auf einen Bahnsteig mit Informationstafeln und einem blauen Zug.

Das Paar scheint gerade in der Stadt anzukommen. Vor ihnen liegen erneut Gleise, vielleicht von der Straßenbahn. Sie müssen ja irgendwo eine Herberge finden in der Stadt. Neben ihnen wünschen Esel und Ochs aus einem DB-Informationsschalter heraus (auf die verkehrte Welt weist das von hinten spiegelverkehrt abgebildete DB-Symbol hin) den traditionellen Bergmannsgruß „GLÜCK AUF“. Mit dem kurzen Wunsch werden Gesundheit und Erfolg bei der gefährlichen Arbeit in den Bergwerksstollen zusammengefasst, das Finden des Gesuchten und auch die gesunde Rückkehr des Kumpels. Der als Graffiti auf die Wand gesprühte Spruch zu ihrer Rechten verortet das Glück einzig und allein im Glauben an Jesus: „Ohne Jesus ist Schicht im Schacht“.

Mit dem Rücken zur Wand sieht der telefonierende Geschäftsmann diesen entscheidenden Hinweis allerdings nicht. Läuft er dem Glück davon?

In den Ecken eines unsichtbaren Dreiecks umgeben drei Personen das junge Paar: links unten ein Mädchen mit einem weißen Lamm, rechts eine alte Frau am Rollator, oben ein geflügelter Mann in Business-Kleidung. Seine dunkle Brille und sein tastender Gang lassen in ihm einen blinden oder lichtscheuen Engel sehen. Was für eine Botschaft er wohl verkünden mag?

Unbeholfen steht er auf dem Dach der Bahnhofshalle. Wem soll er die Botschaft verkünden? Würden die Leute seine Botschaft überhaupt verstehen, wenn der Gottessohn so unauffällig in einer Bergmannsfamilie in die Welt hineingeboren wird? Wer es nicht weiß, wird das göttliche Kind übersehen, seine Ankunft verpassen! So ist es auch beim Mädchen und bei der alten Frau ungewiss, ob sie auf das Kind zugehen oder an ihm vorbeigehen. Die farbliche Verbundenheit mit Maria (rot-rosa Oberteile) lässt ersteres vermuten. Biblisch gesehen könnte das Mädchen symbolisch für die Hirten, die zum Stall geeilt sind, als auch für Johannes den Täufer stehen, der mit den Worten auf Jesus hinwies: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh 1,29). Die alte Frau hingegen könnte die biblische Witwe Hanna andeuten, die Gott im Tempel erwartete und sich über seine Ankunft derart freute, dass sie es allen erzählte, „die auf die Erlösung Jerusalems warteten.“ (Lk 2,38)

Johannes wie Hanna haben Jesus erwartet. Sie haben sehnsüchtig auf ihn gewartet. Sie haben gehofft und gebetet, dass ihnen die Gnade zuteilwerde, Jesus zu erkennen und ihn schauen (vgl. auch Simeon; Lk 2,25.26) und anbeten zu können: als Heiland der Menschen, als Retter der Welt. Weist nicht das Holzkreuz der Bahnhofshalle, unter dem die Mutter mit dem Kind steht, auf Jesu Berufung hin, die Menschen durch sein eigenes Blut zu erlösen? Und verweisen die Orientierungstafeln, welche Bahn wann in welche Richtung abfährt, nicht auch auf seine Heimkehr zum Vater?

Die Skulptur lädt uns ein, Jesus zu erwarten – „Komm Herr Jesus!“ (Offb 22,20) – auf dass wir ihn in Menschengestalt auch erkennen und schauen können. Hier und jetzt.

 

Die Arbeit von Rudi Bannwarth ist in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Monumentale Leichtigkeit

Weit ausladend queren die breiten Stahlbänder mit ihrer geschwungenen Form die große Halle. Mit hoher Hitze und extremen Kräften wurden die Platten aus massivem Stahl sowohl in der Vertikalen als auch in der Horizontalen verformt, so dass sie sanfte Bögen bilden und damit zu Kreissegmenten und Teilen von etwas Größerem werden.

Die drei lose aufeinander liegenden Stahlplatten vermitteln durch die verdichtete Mitte Bodenhaftung, Halt und Zusammenhalt im Balanceakt des Seins. Doch sie liegen versetzt aufeinander, wie zufällig verschoben, oft sich kaum berührend, Freiräume lassend. Durch diese freie Anordnung und die weit auskragenden Teile erhält die Skulptur eine luftige Dynamik und eine weltumarmende Offenheit. Mit den sanften, perfekt gerundeten Bögen hat Thomas Röthel den tonnenschweren Stahl gleichsam entmaterialisiert (weitere Ansicht 1, Ansicht 2).

Gleichzeitig lädt die Skulptur ein, sich gedanklich in ihre Mitte zu stellen oder hineinzusetzen, sich vom Schwung der Skulptur mitnehmen und erheben zu lassen.  Ihre abgesenkte, geerdete Mitte regt zur Sammlung an, während die abhebenden freien Enden begeistern, die erhebende Bewegung der Skulptur aufzunehmen und, ihr gleich, die Arme so weit als möglich auszubreiten, um sich für das unfassbar Größere zu öffnen: Aus einem stabilen, zentrierten Sein heraus sich bis in die Fingerspitzen dem Licht zuzuwenden und zu öffnen. Sich Gott öffnend, um von Ihm gesehen, von seinem Licht gehalten und erfüllt zu werden.

Unendlich zart und doch kraftvoll stark ziehen die gleichmäßigen Bögen in den Aufschwung hinein, den Aufbruch in eine neue, unbekannte Welt, die wir in uns spüren und die immer wieder den äußeren Ansporn braucht, um sich zu öffnen und aufzubrechen, licht und Licht zu werden.

Steh auf, werde licht,
denn es kommt dein Licht
und die Herrlichkeit des Herrn
geht strahlend auf über dir.
(Jes 60,1)

Schätze im Himmel

Der kompakte, aufgerichtete Figurenblock gibt sich in seiner menschenartig abstrahierten Gestalt verschlossen und unnahbar. Mit geöffneter Front jedoch stellt er sein reiches und feingliedriges Innenleben zur Schau. Die Mitte bildet ein hoher, spitzer Turm, der an die immer höher werdenden Wolkenkratzer dieser Welt erinnert. In den seitlichen Nischen befinden sich vier stilisierte „Heiligen“-Figuren in Turm-Kleidern und mit aufgetürmtem Kopfschmuck. Ihre phantasievollen Gewänder greifen die Formensprache des Turmes auf als wäre er das große Idol ihres Daseins.

„Hack nimmt hier deutlich Bezug auf die mittelalterliche Tradition der Wandelaltäre, die an Festtagen geöffnet wurden und den Blick auf das Heilsgeschehen frei gaben, also durch einen Wechsel von Verbergen und Erscheinung das religiöse Staunen steigerten. Mit dem Unterschied, dass hier nun anstelle des christlichen Heilsgeschehens der Turm zu Babel als Menetekel menschlicher Vermessenheit, als Sinnbild der Selbstvergötterung erscheint. Der autonome Mensch wird selbst zum Schrein, in dessen Innerem verborgen er sein Babel trägt. Von Zeit zu Zeit stellt er es Ehrfurcht gebietend zur Schau. „ (Dr. Barbara Renftle in: getürmt, 2021, Stiftung bc – pro arte, S.41)

So stellt die geöffnete, stehende Altarfigur jedem Betrachter die Frage, was er im Verborgenen gesammelt oder aufgetürmt hat und welche Referenzpersonen ihm zur Seite stehen bzw. ihn auf dem Weg durch das Leben begleiten. Auf die Frage, was uns im Leben wichtig sein soll, gibt Jesus eine ganz klare Antwort: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde …, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen! Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. … Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. … Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie … sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? (Mt 6,19-21.24c.26)

Sinnbildlich weist der innere Turm auf Größenwahn, Hochmut und Überheblichkeit hin. Noch stehen er und seine Getreuen stark und sicher. Doch Jesus weist darauf hin, dass gesammelte Schätze (siehe auch Lk 12,15-21) und selbstgemachte Heiligtümer uns nicht retten können. Wir sollen immaterielle Schätze im Himmel (nicht in der Cloud …) sammeln, mit unseren Herzen auf Gottes Barmherzigkeit und Fürsorge vertrauen. Paradoxerweise bringt gerade das schlichte Äußere der Skulptur diese innere Haltung der Demut  zum Ausdruck: unauffälliges und unspektakuläres, aber hilfsbereites und haltgebendes Da-Sein für andere. Heilige Schätze zu sammeln bedeutet Haltungen und Werte leben, die von Achtung und Wohlwollen für alle Menschen, Lebewesen und die ganze Erde geprägt sind. Weil eine solche Haltung und solches Handeln von Umsicht, Fürsorge und Liebe beseelt Gutes bewirken wollen, sind sie heilig, überzeitlich und gehen in die Ewigkeit ein. Sie lösen jetzt schon ein interaktives Heilsgeschehen aus und werden deshalb zu einem Schatz im Himmel.

Skulpturen von Klaus Hack und Arbeiten weiterer Künstler*innen sind bis zum 26. November 2021 in der Themenausstellung “Getürmt. Turmmotive in der Gegenwartskunst” in der Galerie der Stiftung S BC – pro arte in Biberach im Original zu sehen. Dort kann auch der sehr informative Ausstellungskatalog bezogen  werden.

Spannung des Lebens

Zwei längliche Schalenkörper, der eine am Boden liegend, der andere darüber hängend und schwebend, bilden im Raum eine tonale Klammer. Beide Objekte haben ähnliche Dimensionen und weisen in der Länge eine ähnliche Symmetrie auf. Farblich setzen sie sich durch die gewählten Materialien voneinander ab: Die untere Form ist aus dünn gearbeitetem Gips, die obere Form besteht aus weichem Bienenwachs. Durch die formale Ähnlichkeit und die räumliche Zuordnung entsteht ein Spannungsverhältnis.

Grundlage der Skulptur sind die vergrößerten Abformungen einer menschlichen Schulterpartie, die durch die Verwendung der Materialien Bienenwachs und Gips in ein dialogisches Verhältnis gesetzt wurden. Dabei ist die Bienenwachsform als innere Abformung der Gipsform entstanden. In der Skulptur schwebt sie von ihrer Urform gelöst im Raum, als Bezugspunkt senkrecht über ihr verbleibend, doch in der Position um 180 Grad gedreht. Dadurch bildet sie mit der Wölbung nach oben weisend mit der Form aus Gips auf dem Boden gleichsam eine himmlische Klammer. Die Schwebeform ist ein Gegenüber, die im Gegensatz zur Bodenform eine Wendung und eine Wandlung vollzogen hat. Während die Bodenform durch die Einbuchtung dem Chor mit dem Altar und damit sinnbildlich Gott zugewandt ist, öffnet sich die obere Form den Gläubigen, den Besuchern und ist damit den Menschen zugewandt.

Ruhend sind die Schalenformen miteinander im Austausch. Ihre Materialien und Positionen wirken gleichnishaft. So verbindet sich der Gips in seiner Materialität mit der Erde und steht als Abformung der menschlichen Schulterpartie für den Menschen und alles von ihm Geschaffene, Erdverhaftete. Das Bienenwachs hingegen vermag von seiner Herkunft her und durch die schwebende Leichtigkeit eine geistige, spirituelle und gewandelte Dimension des Daseins anzusprechen. Da die obere Schale eine Entäußerung der unteren Schale ist, eine geistige Form, die aus der unteren Schale entstanden und entschwebt ist, haftet ihr auch etwas von der Auferstehung an, vom Unvergänglichen, und vermag nun wie ein Schirm, wie ein guter Geist beschützend über der unteren Schale zu wachen. Beide sind auf ihre Weise fragil, doch miteinander bewirken sie eine starke, lebendige Spannung.

Der große Abstand zwischen den Elementen bietet viel Frei- und Spielraum für weiterführende Gedanken: Die beiden leicht zueinander gebogenen Formen lassen sich aus dieser Perspektive gesehen zu einem unsichtbaren Kreis ergänzen und deuten damit sowohl Zusammengehörigkeit als auch Offenheit an. Die beiden Abformungen lassen an die Spannung und Stärke der Schultern denken, die große körperliche und verantwortungsvolle Lasten zu tragen vermögen, aber auch an ihre notwendige Entspannung und Erholung, um nicht in einer schmerzvollen Verspannung oder Lähmung zu enden, welche den Körper zu Boden zwingen.

Die Installation der beiden Schulterelemente eröffnet einen gedanklichen Freiraum, der die Worte Jesu in Erinnerung zu rufen vermag, damit die lebensnotwendige richtige Spannung wieder hergestellt und beibehalten werden kann: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,28-30)

Der Blick auf Jesus, die Verbindung mit dem Logos Gottes, seiner alles überragenden und durchdringenden Weisheit, ermöglicht richtiges und weitsichtiges Denken und Handeln. Die „himmlische Klammer“ des Kunstwerks macht diesen Spannungsbogen als auch den inneren Freiraum zur Gestaltung des Lebens gut sichtbar. Es ist eine hohe Kunst, alles – also nicht nur uns zu Lasten der Mitmenschen und Umwelt –, sondern alles zusammen maßvoll am Leben zu erhalten: beweglich, entwicklungsfähig, formbar, veränderbar.

Die Installation bringt diesen Spannungsbogen des Lebens insbesondere durch das obere Element zum Ausdruck. Das Leben existiert nur in einem schwebenden, stets vom „Absturz“ bedrohten Zustand. Damit die Lebenskräfte weiterhin das Unmögliche vollbringen können, die ganze Schöpfung – und nicht nur sich selbst – im Gleichgewicht zu halten, braucht es die Verbundenheit mit Gottes Genialität und des aus ihm heraus denkenden und handelnden Geistes.

Zwischen Himmel und Erde musst du stehen als aufrechtes Wesen, dessen Füße den Bezug nach „unten“ nicht verlieren, und dessen Stirn sich emporreckt im Bezug nach „oben“. (Elisabeth Lukas)

Freiraum für die Liebe

Drei geometrische Formen bilden in dieser Monumentalskulptur eine Einheit: Quadrat, Dreieck und Kreis. Während erstere einander „nach hinten“ zugeneigt sind und auf dem unteren Teil der Kreisform aufliegen, erhebt sich der Kreisring sie stützend in die Gegenrichtung. So aneinandergelehnt und einander durchdringend erheben sie sich im öffentlichen Raum, diesen im wechselnden Licht und in sich ständig verändernden Schattenmustern auf dem glatten Stahlblech reflektierend. Die geometrischen Elemente wirken vertraut – und doch erscheint das Kunstwerk in dieser Dimension, seinen klaren Linien, der hellen Erscheinung und den multiplen Spiegelungen wie etwas Außerirdisches. Man könnte die weißen Ringformen als monumentale künstlerische Spielerei zur Kenntnis nehmen, doch sie sind mehr.

Dreieck, Quadrat und Kreis sind geometrische Grundformen. Sie verkörpern in ihrer Unterschiedlichkeit Urprinzipien unserer menschlichen Existenz: So steht das Viereck für die Materie, die Welt, den irdischen Lebensbereich und damit auch für den Menschen. Das Dreieck ist ein Symbol für das geistig Dynamische, den Himmel, die Dreifaltigkeit und damit auch für Gott. Der Kreis symbolisiert Einheit, Vollkommenheit und Unendlichkeit, weil er in sich selbst zurückführt. Der Kreis verbindet Quadrat und Dreieck und symbolisiert damit auch die Liebe und die Überbrückung des Gegensätzlichen.

Im Kunstwerk erhalten die Formen durch eine dritte Dimension räumliche Tiefe. Diese Tiefendimension und der Stahl als Material verbinden das Gegensätzliche ebenso miteinander wie die freie Mitte, die das „Umfangende“ zu Ringen gestaltet und den voluminösen Elementen Leichtigkeit verleiht. Die Freiräume in ihrer Mitte, die sie umschließen und die zwischen ihnen übrig geblieben sind, wirken wie eine Seele. Sie sind da und wichtig, doch nicht wirklich greifbar. Sie erschließen sich in immer neuen Zusammenhängen im Umschreiten der Skulptur oder durch Abbildungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Sie sind wichtig, ohne sie ginge es nicht, denn sie geben den drei Elementen Freiraum für Durchblicke, die Gelegenheit zum Ineinandergreifen und sich gegenseitig Festhalten.

So könnten Quadrat und Dreieck einander zugeordnet sein, doch ohne die freie Mitte, die sie zu Ringformen und Symbolen für die Unendlichkeit macht, ohne das Kreiselement, das sie stützend durchdringt und verbindet, wären sie nichts. (vgl. 1Kor 13,2) Dreieck und Quadrat wären leere Raumköper ohne tragenden Grund, ohne vereinendes Band, ohne erfüllende Mitte. So kann der Ring, der das Quadrat und das Dreieck verbindet, in seinem vollkommenen Rund auch als ein Symbol für Gott oder die Liebe gesehen werden.

Es ist die Liebe, die das Gegensätzliche und einander Ausschließende verbinden kann, ohne die Einzigartigkeit des Verschiedenen zu zerstören. So geht es – übertragen gesehen – nicht um eine linear hintereinander gedachte, das Vorherige aufhebende Abfolge von These, Antithese und Synthese. Vielmehr geht es um einen lebendigen Prozess, in dem die Gegensätze in einer immer wieder zu suchenden Synthese affirmiert – also einander bejahend – enthalten sind, und – wie im vorliegenden Kunstwerk mehrdimensional räumlich und einander durchdringend sich auf einer höheren Ebene zu einem neuen Ganzen verbinden. Ganz so wie Paulus es im Hohelied der Liebe ausdrückte: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe“ (1Kor 13,13). Eine auf diese Weise durch die Liebe bewirkte Versöhnung der Gegensätze vermag Inseln der Humanität zu schaffen.

Die Skulptur war bis im Sommer 2021 an der großen Skulpturenausstellung Bad RagARTz in Bad Ragaz/Schweiz ausgestellt.

Lebensenergie

Geheimnisvoll steht die Stele im Raum. Über dem Sockel aus Jura-Kalkstein erhebt sich eine tiefblaue rechteckige Fläche mit den Ausmaßen eines großen Menschen. Die Kontur der Stele folgt dem natürlichen Wuchs des Baumstammes, aus dem das Brett geschnitten wurde. So ruht die Stele breit auf dem Sockel, verjüngt sich zur Mitte und weitet sich nach oben wieder.

Die blaue Fläche wie der sie umgebende Goldrand sind unregelmäßig und wirken dadurch lebendig. In der Tradition der Ikonenmalerei hat die Künstlerin die Lindenholztafel mit Marmormehl und Alabaster grundiert und sie dann beidseitig in sechs Schichten mit verschiedenen Lapislazuli-Naturpigmenten bemalt. Der mehrschichtige Aufbau als auch das tiefgründige und leuchtstarke Lapislazuli geben der Fläche eine unvergleichliche Tiefe, so dass die Tafel auch wie eine Türe oder ein Durchgang wirkt. Die natürliche kristalline Struktur des kostbaren Pigmentes lässt die Oberfläche durch hellere und dunklere Bereiche unterschiedlich intensiv in Erscheinung treten. Blattgold umrahmt das ultramarine Spiel mit Licht und Schatten und enthebt es gleichzeitig ins Unergründliche, Immaterielle, Geistige.

Formal verweist das Kunstwerk, das uns in der Lebensgröße eines Menschen gegenübertritt, auf niemanden Konkreten, es hat keine praktische Funktion. Man begegnet dem Werk wie einem großen Unbekannten mit menschenähnlichen Proportionen. Im numinosen Blau und Gold bleibt Gott wie in einem unfassbaren Anders-Sein verborgen. Doch die schlichte Gegenwart, der kostbare Aufbau und die mystische Ausstrahlung ziehen den Betrachter geheimnisvoll in den Bann und laden zum Innehalten und zur Begegnung, zur stillen Einkehr und zum meditativen Verweilen, zur staunenden Auseinandersetzung ein. In dieser Gegenüber-Stellung stellt sich die Frage, wie und wo aus dem geheimnisvollen Ganz-Anderen ein persönlicher Gott für mich wird. Was sich in dieser Begegnung mit Gott konkret erlebbar für mich herauskristallisiert und zu einer kostbaren, individuellen Lebenserfahrung wird.

Das starke Blau kann Ausgangspunkt für Gedanken an den nächtlichen Himmel und die damit verbundene Stille sein, die den Blick in die unergründliche Weite des Weltalls begleitet. Es bringt auch die geheimnisvollen Dimensionen der Meere zur Sprache. So wandelt sich die Stele zu einem Durchgang oder einer Tür, die in die Weite des Nichtdarstellbaren und Unbegreiflichen führt. Die Farbintensität des Lapislazuli lässt eine kosmische Energie erfahren, die unsere Sinne zu ergreifen, zu erheben und in die Transzendenz hineinzunehmen vermag. Eine transzendente Gegenwart, die sich in Dunkelheit hüllt und durch Treue auszeichnet, denn die Farbe Blau steht symbolisch für die Treue. Die blaue Stele vermag deshalb ein höheres Da-Sein für den Menschen darzustellen („Ich bin, der ich bin.“ Ex 3,14), das Halt gibt und als wirkmächtige Kraft eine Energie ausströmt, die wie eine Quelle unerschöpflich fließend Erfrischung, Erneuerung und Leben spendet.

Vom 22. Mai bis 25. August 2021 war LAPIS SOLARIS in der Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich zu erleben. Auf der Website der Bahnhofkirche finden Sie mehrere Videos und Meditationen zum Kunstwerk.

Botschafter gesucht

Groß und fast übermächtig steht das „haarige“ Gebilde an die Wand gelehnt. So, wie die unzähligen Kabelbinder von ihm abstehen, sperrt sich das Objekt einem schnellen Zugang. Aus der Ferne betrachtet sieht es wie ein überdimensionaler Zahn aus, doch in der Nähe sieht man, dass unzählig viele kleine Papierrollen mit Kabelbindern auf der Trägerkonstruktion befestigt wurden, so dass deren lange Enden wie Haare oder Federn abstehen und den beiden Hälften etwas Luftiges verleihen, das an Flügel erinnert.

Weiße Flügel?  – Wieso nicht! – Aber seltsam, so losgelöst von seinem himmlischen Träger, so an die Wand gelehnt, wie zufällig abgestellt.  Aber vielleicht war das der Auftrag des Engels, seine über und über vollgepackten Flügel mit den Spitzen auf den Boden der Erde zu stellen, seine unzähligen Botschaften einfach stehen zu lassen, bis die Menschen neugierig näher treten und nach und nach die eine oder andere Papierrolle von den Flügeln lösen und aufrollen.

Auf manchen Papierrollen können Vornamen gelesen werden, im Bild z.B. „Otto“ und „Doris“. Die meisten aber sind unbeschriftet. Es könnte also Zufall sein, wer welche Papierrolle erhält und mit welcher geheimnisvollen Botschaft. Es könnte aber auch engelsgleiche Fügung und göttliche Vorsehung sein, dass jede Papierrolle zum richtigen Empfänger gelangt.

Das Thema der Verkündigung liegt hier in der Luft, kann aber nicht allein auf die heilsgeschichtlich wichtige Verkündigung des Engels Gabriel an Maria beschränkt werden.  Vielmehr wird das Thema verallgemeinert und jede oder jeder kann zu einem „Engel“ oder zu einer „Maria“ werden. Stehen die Flügel nicht wie zum Auf-die-Schulter-Nehmen bereit da? Bepackt mit Botschaften, die zu den Mitmenschen gebracht werden wollen? Sollen nicht alle Menschen von Gottes Liebe hören und Jesus bei sich aufnehmen können als lieben Gast und guten Ratgeber, als Heiland, Retter, Erlöser, als Gottes Sohn? Ist es nicht unsere Berufung, Sein gutes Wort zu den Mitmenschen zu bringen, angefangen bei unseren Lieben und den Nächsten im Alltag?

Für eine Person allein ist die Last so vieler Botschaften und die Aufgabe, alle zu verteilen, immens. Kein Wunder, dass sich der Engel aus dem Staub gemacht hat. In unserer Zeit geht das doch auch automatisiert und digital. So wie bei den vielen Marketingbriefen, die Tag für Tag um die Aufmerksamkeit der Menschen werben. Aber vermögen diese anonymisierten Worte das Herz zu berühren und zu bewegen? Wir Menschen brauchen persönliche Worte und Antworten für unser Wohlergehen. Menschen, die uns ansprechen, die mit uns sprechen, die wir hören und verstehen können, die auf unsere ganz individuellen Fragen antworten.  Das kann nur durch viele Menschen, viele Botschafter Gottes erfolgen.

Der Evangelist Johannes sagt von Jesus: „Das Wort ist Fleisch geworden“ (1,14).  Aber sollte man das gleiche nicht auch von allen Gläubigen und zu jeder Zeit sagen können?  Dass Gottes Wort in den Menschen, die Jesus nachfolgen, Fleisch geworden ist, mitten unter uns wohnt und in uns lebendig geworden Gestalt annimmt? Wo wir Jesu Wort im wahrsten Sinne des Wortes beherzigen, brauchen wir keine auffälligen Flügel oder vorgegebenen Botschaften. Gottes Geist selbst wird uns beflügeln und uns Worte ins Herz und auf die Zunge legen, die berühren, verlebendigen und bewegen.

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit.“
(Joh 1,14)

Transitus

Langgezogen schwebt das Stück Holz über dem Boden. Braunschwarz hebt es sich von den hellen Steinfliesen ab. Seine unregelmäßigen Ränder erinnern an die Bewegung von Wasser und lassen es wie ein Boot dahinfließen.  Dunkel umgibt es seinen hellen Passagier – eine Hinterlassenschaft wie das Holz selbst. Abgestreift, liegengelassen, liegengeblieben. Im Fluss der Zeit gestrandet und übriggeblieben.

Das Tuch auf der Mooreiche ist hingeworfen wie ein Bettlaken nach dem Aufstehen. Auf der einen Seite hängt es von der Eiche wie auf den Boden herabfließend. Auf der anderen Seite – abgesondert – liegt ein ordentlich zusammengelegtes Tuch als Referenz auf das gefaltete Schweißtuch im Grab Jesu und verweist auf den Morgen seiner Auferstehung (vgl. Joh 20,6-7).

Es überrascht, dass das, was weich und stoffig aussieht, doch fest und fast wie versteinert ist, denn beide Tücher bestehen aus Gips. Aber weil die langgestreckte Draperie die Formen einer liegenden Person aufnimmt, tastet der irritierte Blick immer wieder sich vergewissernd darüber, ob sich nicht doch jemand unter dem Tuch befindet. Auch von der Seite betrachtet wirkt das teilweise herunterhängende Tuch wie ein im Meer Treibender, der sich mit letzter Kraft auf ein sicheres Stück Holz hat retten können und nun wie in Kreuzform zerflossen und ermattet darniederliegt.

Das Holz ist das Fragment einer Eiche, das Jahrhunderte in einem Moor oder einem feuchten Kiesbett lag und dessen Eisengerbstoffe den Stamm von innen heraus dunkel verfärbt und verhärtet haben. Auf diese Weise hat es als eine Art Fossil seinen Verfall überdauert und seine Energie in sich bewahrt. Das Holz wirkt wie eine Kapsel oder Hülle, in der das Tuch überfließendes Licht und Leben andeutet – ein Leben, das der Tod nicht vernichten konnte.

Die Skulptur erinnert an die Vergänglichkeit des Lebens, ans Sterben, den Tod, den Abschied durch das Zurückgeben an die Erde und das Einbetten in sie. Holz und Tuch erinnern an die letzte Liegestätte, in die wir unsere Lieben für ihre letzte Reise betten. Das helle Tuch atmet mit seinen bewegten Falten Licht und Lebendigkeit in der Dunkelheit des Sterbens und des Todes. Als Relikt des Übergangs erzählt es von der Entfaltung des Lebens von der Geburt bis über den Tod hinaus in ein unsichtbares, erneuertes Leben. So wird aus dem Faltenwurf des stofflichen Seins ein gefalteter Entwurf der neuen Wirklichkeit.

In der Ritterkapelle des Heilsbronner Münsters bildet die Skulptur mit ihren vielfältigen inhaltlichen und räumlichen Bezügen einen besonderen Kraftort. Inmitten der schweren rechteckigen Grabsteine der Ritter lässt sie – erst recht im Licht der Sonne leuchtend – leicht und bewegt, kraftvoll und lebendig die österliche Auferstehung spürbar gegenwärtig werden.

 

Das besprochene Kunstwerk war 2020 Teil der Ausstellung “bewegt – beflügelt – bewahrt” im Münster Heilsbronn und dem Religionspädagogischen Zentrum Heilsbronn.