Gesucht: Retter und Erlöser

Wäre da nicht der mächtige Stern mit seinem langen Schweif, würde man die Szene in dem tristen Gefängnishof wahrscheinlich nicht mit der Geburt Jesu in Verbindung bringen, denn es ist nirgends ein Neugeborenes zu sehen. Vielmehr muss Jesus gesucht und gefunden werden, wie es das englische Wort WANTED über der Wandzeichnung des erwachsenen Jesus andeutet.

Aus der Sehnsucht nach Jesus ist im Gespräch mit Gefangenen, den Seelsorgern und dem Künstler diese Kontrast-Krippe entstanden. Es war ihnen wichtig, dass Jesus auch zu ihnen kommt, mitten im Gefängnisalltag, fast unbemerkt. So sitzt Jesus denn als junger Gefangener wartend auf der kargen Pritsche – wie viele von ihnen. Doch seine überkreuzten Arme und Beine deuten bereits seinen Tod am Kreuz an. Er selbst scheint von oben her gekommen zu sein, da seine Füße als einzige der Figuren keine Bodenhaftung haben. Frontal schaut er uns Betrachter an. Was will er uns wohl sagen?

Drei Frauen und zwei Männer sind heute zu Besuch bei ihm. Sie sind ihm zugewandt und ihre Hände weisen auf ihn als Hauptperson hin. Maria trägt mit ihren Blue-Jeans und der roten Kitteljacke ihre traditionellen Farben. Darunter ein weißes Shirt, das auf ihre Reinheit und Unbeflecktheit deutet. Ihr gegenüber steht nicht Josef, sondern ein älterer Mann. Denn wenn die Eltern fehlen, sind es oft die Großeltern, die weiter zu den Jugendlichen halten und nicht selten die Elternrolle übernehmen. Auch die anderen drei Besucher sind anders als die drei Könige besetzt, auch wenn die Frau im knallgrünen Mantel eine Königskrone trägt. Sie verkörpert die Hoffnung und den Sieg über die gegenwärtigen Leiden. Ihr gegenüber verweist eine aufrecht und streng stehende Anwältin mit dem roten Gesetzbuch auf Rechte und Pflichten, die einzuhalten sind, um wieder in die Freiheit zurückkehren zu können. Der dritte Besucher macht Jesus in der Gestalt eines Wärters seine Aufwartung. Er trägt ein Funkgerät, um jederzeit Hilfe rufen zu können, Verstärkung, wenn Gefahr im Verzug ist. Hinter seiner grau getönten Brille und in der Dienstkleidung verschwindet er in der Anonymität eines Staatsdieners. Er sieht nichts, aber er hört offenbar. Könnte das Funkgerät trotz allem auch für die Kommunikation mit Gott stehen?

Aus dem dunklen Zellentrakt eilt mit großen Schritten ein beflügelter Mann in den lichten Innenhof. Seine beige Latzhose beschreibt ihn als Handwerker, doch seine Flügel weisen ihn als Boten Gottes aus. Die coole, schwarze Sonnenbrille lässt ihn wie einen Blinden daherkommen, der von einer inneren Kraft erfüllt dem Betrachter mit lauter Stimme eine frohe und befreiende Nachricht verkündet. Doch niemand scheint dem hippen Himmelsstürmer Beachtung zu schenken. Nur einer der drei Kartenspieler schaut staunend auf das unglaubliche Geschehen, so dass seine linke Hand herunterhängt und ein Teil seiner Karten für seine beiden Mitspieler sichtbar wird. Trotzdem hängen ihre Blicke gebannt an seinem erstaunten Gesichtsausdruck, der den suchenden Betrachter über den Engel wieder zur Hauptperson zurückführt.

WANTED – gesucht, ersehnt, erwartet wird der Retter und Erlöser, der mit dem Einsatz seines Lebens und seines Blutes – die rot verschmierten Wände deuten es an – alle Schuld sühnt und Gefangene befreit. Könnte es sein, dass der Engel uns zuruft: „Komm! Komm zu uns! Raus aus den immer gleichen Konventionen deines Weihnachtsfestes. Hier, am Rande der Gesellschaft, ganz unten, wo Jesus auch geboren wurde, da kannst Du Weihnachten ganz neu und anders erleben.“

Zum Entstehungsprozess der Gefängniskrippe aus dem Ausstellungskatalog: „Ist das überhaupt eine Krippe? Da gibt es keinen Stall, sondern eine Zelle mit einer schmalen Pritsche, einem vergitterten Fenster und einem Fernseher an der Wand. Auch die Heilige Familie fehlt; stattdessen sitzt ein junger Gefangener zusammengesunken auf dem Bett, daneben stehen eine Mutter und ein Großvater als Besuch. „Auf den ersten Blick war ich erschrocken“, erzählt ein Gefangener. „Aber je mehr ich geschaut habe, desto mehr wurde mir klar: Jou, das sind wir. Das ist mitten im Leben – und nicht die heile Welt.“ „Wir wollten die Lebensrealität der Gefangenen hineinbringen in die Krippe“, erklärt Gefängnisseelsorger Michael King. „Darum haben wir Inhaftierte gefragt: Was hat die Geburt Jesu eigentlich mit uns im Gefängnis zu tun?“ Michael King und sein Kollege Stefan Thünemann waren es, die den Künstler Rudi Bannwarth eingeladen haben, gemeinsam mit Gefangenen eine Knastkrippe zu gestalten. Im Gespräch entstanden ganz spezielle Gedankenverbindungen zum traditionellen Krippenpersonal: Maria? Das ist die Mutter, die sich weiter um ihren Jungen sorgt – ein hochsensibles Thema für die Gefangenen, wie Stefan Thünemann erklärt. Beleidigungen der Mutter gehören denn auch zu den hochexplosiven Situationen im Knast. „Da weiß man, dass es am nächsten Tag richtig Stress gibt“, erklärt W., ein weiterer jugendlicher Gefangener. Was ist mit Josef? Der wird zum Großvater – denn die Väter fehlen oft, und es sind die Großeltern, die weiter zu den Jugendlichen halten und nicht selten die Elternrolle übernehmen. Der Verkündigungsengel? Ein cooler Typ, wie es sie haufenweise gibt im Gefängnis. Und das Jesuskind? Das blieb lange offen. Schließlich wurde es ein jugendlicher Gefangener – ein Mensch an einem dunklen, unangenehmen Ort. Geburt Jesu – das bedeutet, Gott kommt runter vom Himmel, auch dahin, wo es nicht gut ist. Kann ich ihm also auch im Knast begegnen?“ (Michael King in „Heller Stern“ – 84. Telgter Krippenkunst Ausstellung, 2024, S. 21)

 

Die Krippe von Rudi Bannwarth ist bis zum 26. Januar 2025 in der 84. Telgter Krippenkunst Ausstellung “Heller Stern” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Lichtstel(l)e

Dunkel gekleidet ragt die rechteckige Metallplatte in den Raum und gebietet mit ihrer einfachen Gestalt Einhalt und Ruhe. Ihr Verhältnis von Höhe zu Breite erinnert an menschliche Proportionen. Verschlossen stände die Bronzestele da, wäre da nicht die aufgebrochene Oberfläche, die einen Blick in das Innere freigibt. Fein leuchtet Gold hinter der schwarz-grün patinierten Oberfläche dem Betrachter entgegen, geheimnisvoll von einer verborgenen Kraft im Innern der Stele erzählend.

Dieser Aufbruch verändert alles. Das Verschlossene öffnet sich und offenbart Hoffnung, in der Dunkelheit strahlt Licht auf und zeigt, wie verletzlich die vermeintliche Panzerung der Metallplatte ist. Die kreuzförmige Öffnung der Oberfläche nimmt in einem von tief unten aufsteigenden Riss ihren Anfang. Der Aufbruch geschah nicht plötzlich, sondern hatte seinen Vorlauf in der Materie und in der Zeit. Sein Ursprung liegt in der Tiefe. Die feine Bruchlinie ist bereits die Ankündigung eines größeren Geschehens, das sich weiter oben offenbart.

Der Künstler schreibt dazu:
Dort, wo wir die Verzweiflung zulassen,
wo wir die Dunkelheit annehmen,
werden wir mitten in der Verzweiflung einen Funken Hoffnung
und in der Finsternis einen Spalt Licht entdecken.

Kreuzförmig bricht das Metall von innen oder von hinten her auf und verweist auf das Kreuz Jesu. In der größten menschlichen Dunkelheit, in der Gottes Sohn hingerichtet wurde, offenbarte Gott lichtvoll sein Innerstes. Das Kreuz bleibt nicht als dunkles Ereignis stehen, sondern wird von der Liebe Gottes hell erleuchtet. Statt Dunkelheit und Tod erfolgt der Durchbruch zum Licht und ewigen Leben.

In der Verletzung der Oberfläche an der Bruchstelle wird der Lichtblick sichtbar und lässt uns spüren, dass hinter jeder Dunkelheit ein Licht leuchtet. Verletzungen und Wunden, welche den wahren Kern erkennen lassen, beinhalten die Chance eines Aufbruchs. Sie sind eine schmerzhafte Öffnung in eine neue Lebenswirklichkeit mit Parallelen zu einer Geburt oder der Entwicklung einer Knospe zu einer Blüte. Die Wahrheit kann nicht unendlich lange unterdrückt oder verborgen werden. Irgendwann durchbricht ihr Licht jede noch so harte Schale – wie eine Pflanze den Asphalt – und zeugt von der wahren Kraft des Lebens. Unendlich zart und verletzlich – und doch stärker als jede Dunkelheit.

„Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,5)

Heiliger Berg

Mächtig erhebt sich die zweieinhalb Meter hohe Bildskulptur, bei der sich faltenreicher Stoff zu einem dreieckigen Berg auftürmt. Ein weiteres Tuch liegt oben auf, so dass der Ursprung der sich strahlenförmig nach unten weitenden Falten nicht sichtbar ist. Vor dem großen Faltenwurf liegt ein drittes Tuch am Boden.

Die üppigen Falten scheinen etwas zu verbergen, ebenso wie das textile Gewebe selbst oder das angehäufte Material. Schillernd wird ein Geheimnis angedeutet, die nackte Wahrheit mit einem Kleid bedeckt, es umhüllend und ihm eine äußere Gestalt gebend, ohne etwas von seinem inneren Wesen preiszugeben.

Und dennoch: Etwas Banales wird nicht verhüllt, geschützt oder mit kostbaren Materialien umgeben. Aber für die Auf-Bewahrung des Heiligen werden keine Kosten gescheut, um ihm eine angemessene Wohnstatt zu geben, einen Aufenthaltsort, der von seiner Größe und Herrlichkeit erzählt. Übermenschlich groß wirkt das in einem Dreieck herabfallende Tuch, das trotz seiner Abstraktheit fast menschlich gegenübertritt. Es verbirgt etwas Größeres als wir Menschen sind und die dreieckige Silhouette steht für das Geistige überhaupt. Kostbare Materialien wie Blattgold, Weißsilber und Platin auf einer Marmor- und Alabastergrundierung veredeln die Bildskulptur äußerlich zu einem Tabernakel des Heiligen und Göttlichen.

Der dreieckige Faltenwurf erinnert auch an weite, stark gefaltete Röcke von Frauen und lässt daher zusammen mit dem aufliegenden Tuch an Pietàdarstellungen denken, bei denen der Leichnam Jesu auf dem Schoß Mariens liegt. Die roten Farbstellen im unteren Bereich vermögen seine Passion anzudeuten, sein Leiden, seinen Schmerz, sein vergossenes Blut. Gleichzeitig erzählt die Skulptur unter diesem Aspekt betrachtet von der Größe Mariens, von ihrer Stärke. Der Faltenwurf wirkt wie ein Zelt, in dem der Ewige temporär auf Erden wohnt (vgl. Offenbarungszelt, Ex 33,7-20; Num 12,4-6), ein vorübergehender Schutzraum, wie nur Frauen ihn während der Schwangerschaft zu geben vermögen.

Insofern öffnet die Skulptur einen weiten Assoziationsraum, in dem das Transzendente und Heilige in einer kostbaren, aber dennoch vergänglichen irdischen Wohnung Platz nimmt als auch Jesus andeutet von seiner Empfängnis bis zu seinem letzten Ruhen im Schosse Mariens. Das Velum, wie die Künstlerin die Skulptur nennt, ist so nicht nur verbergender Schleier oder prachtvolle Draperie, sondern auch ein offenbarendes Kommunikationsobjekt, durch das der interessierte Betrachter viel über den Unsichtbaren erfahren und mit ihm ins Gespräch kommen kann. Eine spirituelle Perspektive, die auch das vor der Skulptur liegende Stück Tuch, das unsere Einsamkeit, Verlorenheit und Bedürftigkeit verkörpern mag, in die Skulptur aufnimmt und uns das Erhabene als auch das Erhebende des Heiligen erleben lässt.

Mein Auge schaut den Berg hinan, dort kommt mir Hilfe her;
von Gott wird mir die Hilfe nahn, der Land erschuf und Meer.
Getrost! dein Fuß geht nimmer fehl, dein Hüter kennt nicht Ruh;
nicht schließt dein Wächter, Israel, sein Aug im Schlafe zu.
Der Herr, dein Schutz und Schatten, hält an deiner Rechten Wacht,
dass tags die Sonne dich nicht quält und nicht der Mond bei Nacht.
Gott lässt kein Übel dir geschehn, dein Leben ist geweiht.
Er schützt dein Kommen und dein Gehn jetzt und in Ewigkeit.

(Franz A. Herzog nach Ps 121; Kath. Gesangsbuch der Schweiz Nr. 550)

 

Die Skulptur wird vom 23. März bis 22. April 2025 in der reformierten Kirche Therwil (BL/Schweiz) ausgestellt sein.

Kraftquelle

Ein Mensch wird bis zur Brust von einem voluminös quellenden Gebilde aus Gold umhüllt. Wer einen solchen Wolkenberg zu tragen vermag, muss wie Herkules ein gutes Stehvermögen haben und mit Belastungen umgehen können.

Zwar lässt sich in einer Wolke nichts sehen und sie verhüllt die obere Hälfte bis zur Unsichtbarkeit, aber wenn sich eine Wolke auf einem Menschen niederlässt, ist das zweifellos eine besondere Begegnung und ein auf ein heiliges Geschehen deutendes Zeichen. Denn in Wolke und Mensch berühren und durchdringen sich Vertreter von Himmel und Erde: Die von Gottes Herrlichkeit leuchtende Wolke und der in der Farbe des Himmels gewandete, aufrecht stehende Mensch. Eine mystische Verbindung.

In heilige Sphären wagt sich der nach Gott suchende Mensch, in denen er selbst nichts mehr zu sehen oder zu ergreifen vermag, aber in seinem Vertrauen von Gott gesehen und ergriffen wird. So ist die goldene Wolke ein ursprüngliches Symbol, in der sich Gott dem Menschen nah und erfahrbar macht, aber zugleich un(be)greifbar bleibt (vgl. Ex 40,34).

Dieses Symbolverständnis lässt das Wunderbare erahnen, das in dieser Skulptur angedeutet wird: Gott erniedrigt sich und lässt sich auf und im Menschen nieder, um ihn das ungleich Größere, das ihn erwartet, ansatzweise und spurenhaft erfahren zu lassen. Ein Mensch, der sich in göttliche Sphären hineinwagt, lässt sich von Gott ergreifen, umarmen, wärmen und verwandeln. Der Mensch lässt durch das Wolkenbad Wandlung zu, die äußerlich aufsehenerregend, aber innerlich wirksam ist. So wie die Sakramente, z.B. die Taufe, Kommunion oder Konfirmation und die Firmung, äußere Zeichen sind, die aber Innerliches bewirken. Ähnlich wurden Mose auf dem Berg Sinai, Jesus bei der Verklärung oder Christus nach seiner Auferstehung bei der Aufnahme in den Himmel geführt, erleuchtet und verwandelt. Menschen suchen Zuflucht – Gott schenkt Geborgenheit, indem er Menschen in sich birgt, in seinen Wolken-Berg aufnimmt, (ver-Berg-t) und sie die Tiefen und gleichzeitig auch die Höhen wahrnehmen lässt.

Die innige Begegnung mit Gott, wie sie im Eintauchen in das Gebet, in der Meditation oder Kontemplation geschieht, wird zur Kraftquelle, die befähigt, den Kopf angesichts des Leides in der Welt nicht in den Sand zu stecken, sondern ihn weltoffen für den Nächsten einzusetzen.

Gottesbo(o)te

Sieben Boote ankern unter einem luftigen Überbau. Die Boote leuchten innen golden, den Überbau krönt die Konstruktion eines Kreuzdaches, das zum Himmel hin genau so offen ist wie seitlich in alle Richtungen.

Damit bildet der Überbau einen besonderen und geradezu sakralen Versammlungsort. In aller Offenheit wird unter dem Zeichen des Kreuzes lebendige Gemeinschaft untereinander und mit Gott gefeiert. Die Zahl sieben deutet die Vollkommenheit und Heiligkeit der kleinen Gruppe an, die sich hier zusammengefunden hat.

Die Boote sind nicht mehr befüllt mit allem möglichen Ballast, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hat, sondern leer und frei, um etwas Immaterielles oder Heiliges in sich aufzunehmen. Ihr innerer goldener Glanz lässt darauf schließen, dass sich bereits Segen auf sie ergossen hat und sie mit Kraft und Stärke erfüllt wurden. Beladen mit ihrer kostbaren Fracht, dem göttlichen Abglanz, seinem Heiligen Geist oder Gottes Wort können sie von diesem Landungsplatz gestärkt in alle Richtungen aufbrechen, um die Botschaft von ihrer goldenen Mitte, Jesus Christus, all denen zu verkünden, die interessiert sind.

Die Sonnenboote voller Licht und Leben künden von einer österlichen Verwandlung in neue Menschen, die in dieser Welt leben und doch auch ganz aus Gott und für Gott, so wie es der Apostel Paulus den Gläubigen in Rom empfiehlt: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene!“ (Röm 12,2)

Die Skulptur lädt ein, selbst zu einem von innen her leuchtenden Sonnen- oder Gottesboot bzw. Gottesboten zu werden: Am Anfang im Unterstellen unter seinen Segen und zum Beladen der geistigen Botschaft. Dann im mutigen Aufbruch zur Reise nach draußen. Dennoch auch immer wieder einkehrend zur inneren Sammlung, um das Denken erneuern zu lassen, weiterhin Gottes Willen zu erkennen und sein Bote zu bleiben. Und schließlich, am Lebensende, durch die Rückkehr, um bei Ihm einen ewigen Ankerplatz, eine schützende Heimat zu finden.

Aktuelle Ausstellung bis 1. Juni 2024 in der Galerie Kunststücke in München

Innewohnen

Das eine:
groß, transparent
gerüstartig durchlässig
ein Haus andeutend,
mehr Überbau als Umbau
mit Eckpunkten luftigen Freiraum umfassend
eine Trägerkonstruktion mit Flecken
Patina, Zeitspuren

und doch …
geerdete Basis
schützende Behausung
mannshohes Gegenüber
atmender Umraum
das Kostbare im Innern bergend
Zugang gewährend
Aufbau ermöglichend

Das andere:
kleiner, unzugänglich umwandet
golden leuchtend
unangepasst schräg stehend
beinahe aneckend
fremd in vertrautem Raum
getragen in der Tiefe des Seins
ein erratischer Block?

und doch …
einfach da und kostbar
wie ein Schrein
das Heilige bewahrend
zum Himmel weisend
geheimnisvolle Präsenz
verborgene Gegenwart
überzeitliche Vollendung

Haus im Haus
Einhausung im Zeitlichen
Innewohnen des Göttlichen
goldene Mitte im Irdischen
Er hat sich klein gemacht
um uns groß zu machen
Ihn im Innern tragend
meinem Haus zum Segen

In Erwartung

Eine junge Frau steht aufrecht mit verschränkten Händen über ihrem leicht gewölbten Bauch. Ihr Kopf ist leicht nach vorne geneigt, so dass eine zusätzliche Aufmerksamkeit auf ihren Händen und ihrem Bauch liegt. In der ganzen Körperhaltung ist die Frau ganz bei sich und in sich versunken. Es ist eine Innigkeit zu spüren, ein In-sich-Hineinspüren, die neue Schöpfung, das werdende Kind in sich wahrnehmend. Sie ist guter Hoffnung – wie man früher sagte – und diese Hoffnung scheint sie im Gebet vertrauensvoll in die Hände Gottes zu legen, damit alles gut werde.

Die expressive Bearbeitung des Holzes mit den tiefen Einschnitten lässt ahnen, dass eine Schwangerschaft keine Selbstverständlichkeit ist und das werdende Kind stets existenziell bedroht ist. Auch für die Mutter ist eine Schwangerschaft „kein Spaziergang“. Das Kind in ihrem Leib verändert auch ihr Leben durch und durch. Die Zeit der Erwartung ist eine Zeit der Ungewissheit: Was wird aus dem Kind werden? Wird es gesund sein? Wem wird es gleichen? Wie wird sich mein Leben durch das Kind verändern?

Wie eine Heilige steht die Frau auf dem Holzsockel. Sie ist erhöht – ist sie die Heilige der Erwartung? Die Frau, die in Demut ihre Aufgabe annimmt, dem Leben in ihr einen Platz zu geben und ihr Leben dafür hinzugeben in der Zurücknahme von sich selbst, damit das neue Andere in ihr groß werden kann und so eigenständig, dass es nach der Geburt alleine lebensfähig ist?

Auch der Advent ist eine Zeit der Erwartung. Die Adventszeit ist ein Gehen mit Maria und ihrem Kind , damit Jesus auch in uns groß werde, um ihn in der Heiligen Nacht mit Maria zu „gebären“. So wie schwangere Frauen eine ganz eigene Ausstrahlung haben, so möchte Jesus auch durch unser Tun, unsere Lebensweise und Lebenshaltung wahrgenommen werden. Eine stille Zeit der Freude soll uns beseelen. Was für eine Gnade, Gottesträger zu sein. Das himmlische Kind im und unterm Herzen zu tragen, um ihn in den dunkelsten Nächten den Bedürftigen und Armen als Licht der Welt zu schenken mit der Botschaft der Hoffnung und Freude, dass sie nicht allein sind, sondern gesehen werden von Immanuel, vom „Gott mit uns“ (vgl. Jes 7,14 / Mt 1,23).

 

I M M A N U – E L               (Wladimir Solowjow)

Ins Zeitendunkel ist die Nacht entschwunden,
In der ein Stern erstrahlte – klar und hell,
In der sich Erd‘ und Himmel neu verbunden,
In der geboren ward Immanu-El.

Zwar vieles könnte heut‘ nicht mehr geschehen:
Dass Hirten hör‘n der Engel Lobgesang,
Dass heil‘ge Könige zum Himmel sehen
Und folgen dann des neuen Sternes Gang.

Doch in der Flucht der Zeit bleibt unverloren
Das Ewige, das uns erschien in jener Nacht.
Von neuem wird das WORT in dir geboren,
Das einst im Stalle ward zur Welt gebracht.

Ja! Gott mit uns – nicht dort, in Himmelszelten
Und nicht in Sturmeswehn, in Feuer nicht und Streit,
Und nicht in Fernen unerforschter Welten,
Und nicht im Nebel der Vergangenheit.

Nein: hier und jetzt: im eitlen Weltgetriebe,
Im trüben Lebensfluss, im Alltagstrott
Tönt uns die Botschaft von der ew‘gen Liebe:
Besiegt sind Not und Tod – mit uns ist Gott.

Konzilium

Zwei Figurenpaare in langen Gewändern stehen sich auf einem von Einschnitten zerklüfteten Stück Holz gegenüber. Es ist ein Gipfeltreffen auf einer kleinen Insel, vielleicht sogar auf der letzten, wo auch immer treibenden Scholle. Die vier Abgeordneten erscheinen bescheiden als Würdenträger, als Autoritäten mit der Befugnis zu besprechen und zu verhandeln.

Thematisch könnte es – wie es das von Motorsägen zerfurchte Stück Eichenholz, der achtlos zurückgebliebene „Zwischenraum“ andeutet – um die letzten Dinge gehen. Es könnte um all das gehen, was voneinander trennt, die tiefen Gräben zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur, aber auch zwischen gegensätzlichen Vorstellungen und Prinzipien, für die die Figuren stehen.

Die Beratung findet an einem außerordentlichen Ort statt. Er zeigt auf, was alles repariert und überwunden werden muss, um den Boden, auf dem sie stehen wieder ganz und begehbar zu machen. Es geht um alles. Es geht um’s Prinzip.

Doch wer sind die vier Persönlichkeiten? Ihre Attribute sind minimal. Die Personen treten paarweise einander gegenüber, so dass zwischen ihnen eine – möglicherweise gegensätzliche – Beziehung entsteht. Sie erinnern an die Jünger, die Jesus zu zweit als Vorboten in die Orte ausgesandt hat, in die er selbst gehen wollte (vgl. Lk 10,1). Die Person mit dem Stab in der Hand hat etwas von einem Wanderer, von einem Hirten, aber auch von einem Herold, der im Namen seines Herrn eine Botschaft zu verkünden hat. Andererseits vermag der Stab auf den Brauch zu verweisen, dass Könige und Richter bei der Rechtsprechung einen Richterstab gehalten haben. Bei einer allegorischen Interpretation könnte der Stabträger deshalb für die Gerechtigkeit stehen. Ausgehend von Psalm 85 Vers 11, in dem grundlegende ethische Prinzipien – früher als „göttliche Tugenden“ bezeichnet – sich paarweise gegenüberstehen, könnte der stille Begleiter zur Linken der Gerechtigkeit die Wahrheit sein, charakterisiert durch die dreieckigen Teilformen, die auf Gott als ihre Quelle verweisen. Ihnen gegenüber die Gnade, Huld oder Barmherzigkeit mit dem Frieden an ihrer Seite. Dabei charakterisiert sich die Barmherzigkeit durch einen Riss, der tief einschneidend von der Brust nach unten führt.

So wie im Psalm Gnade und Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede Zeichen von Gottes Nähe und Heil sind, so künden die vier allegorischen Figuren in ihrem konziliarischen Bemühen von der Überwindung von Meinungsverschiedenheiten und Glaubensgräben als auch von der Versöhnung der Gegensätze und zerstörerischen Verletzungen im Kommen des HERRN, der uns die Zusage gegeben hat: „Seht, ich mache alles neu.“ (Offb 21,5) Diese Zeitenwende ist mit der Geburt Jesu geschichtlich bereits eingetreten, so dass die Menschen durch Jesus Christus erlöst und befreit sind von den Forderungen des Gesetzes, die Gegensätze versöhnt und die Gräben überwunden sind. Zumindest für die, die daran glauben. (vgl. Joh 3,16f)

In dem Sinne wird das weggeworfene Stück Holz zum Symbol für Jesus selbst. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden.“ (Mk 12,10) Jesus ist das tragende Fundament und verbindende Element, Er ist das Boot, das die Gläubigen über Abgründe und durch die Stürme trägt. Das zerklüftete Holz vermag selbst auf das Leiden am Kreuz zu verweisen, an dem Jesus aus Liebe zu uns für unsere Sünden gestorben ist.

Psalm 85,9-14
Ich will hören, was Gott redet: Frieden verkündet der HERR seinem Volk und seinen Frommen, sie sollen sich nicht zur Torheit wenden. Fürwahr, sein Heil ist denen nahe, die ihn fürchten, seine Herrlichkeit wohne in unserm Land. Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Treue sprosst aus der Erde hervor; Gerechtigkeit blickt vom Himmel hernieder. Ja, der HERR gibt Gutes und unser Land gibt seinen Ertrag. Gerechtigkeit geht vor ihm her und bahnt den Weg seiner Schritte.

 

Arbeiten von Annette Zappe sind bis zum 14. April 2024 in der Schatzkammer des Museums Kloster Kamp in der Einzelausstellung „SchittWeise“ ausgestellt und zu besichtigen.

Die Kathedrale

Vor und in einer terrassenförmigen Landschaft erhebt sich fast unsichtbar ein hochaufragendes, sakrales Bauwerk. Unsichtbar, weil die kleinteilige Struktur der unregelmäßig verteilten und ungleich großen, dunklen Fenster sich über das ganze Relief verteilt. Die Kathedrale hebt sich nur durch ihre vertikale Gliederung von den horizontalen Terrassen des Fundamentes oder des Hintergrundes ab. Ihr Baumaterial besteht aus dem gleichen Rotbuchenholz wie ihr Umfeld, doch ihre Zeichen wachsen transzendent über das Vergängliche hinaus.

Als Relief mit Erhöhungen und Vertiefungen geschnitzt bildet es einen unwirklichen Raum zwischen flachem Bild und dreidimensionalem Architekturmodell, der gleichzeitig vermittelnd die alles übersteigende Wirklichkeit zur Sprache bringt.

Der Einstieg in die Höhe, die zum Höchsten und in die Tiefe, die zum Tiefsten und alles Tragenden führt, beginnt am unteren Reliefrand. Pyramidenförmig sich zuspitzend führen 23 Stufen hinauf zur schmalen kleinen Eingangstür unter einem sich immer weiter verkleinernden Torbogen. Die nach oben weisende Dreiecksform wiederholt sich im Giebel der Eingangshalle, über dem sich die Fassade des fünfschiffigen Langhauses erhebt, dessen Dach wiederum steil nach oben zu den fünf Türmen weist.

Frau Dr. Renftle, die Kuratorin der Ausstellung „Geöffnet – Verschlossen“ in Biberach schreibt dazu treffend: „Das Tor hat ebenso viel räumlich abgestufte Tiefendimension wie die Treppe ein mühsam zu erklimmender, vielstufiger Berg ist. Diese hohen, vielteilig gegliederten und emporgeschichteten Kathedralfassaden können als ein Gleichnis auf die Schöpfung oder das Himmlische Jerusalem angesehen werden – wer hineingelangen möchte, muss sich erst auf dem steilen Stufenberg hinauf quälen – zwar wird er bald von schwingenden Rundbögen beschirmt, das Ziel jedoch erscheint fern und klein wie ein Schlüsselloch. Dieses letzte Tor wirkt im Gesamtgefüge ungeheuer winzig und doch hält es die gesamte, vielfach perforierte, höchst unruhige Komposition im Innersten zusammen, fokussiert das ganze Gewimmel auf das Nadelöhr, durch das ein Jeder hindurch finden muss, will er sich das Reich erschließen, das dieser Kathedralen-Kosmos versinnbildlicht. Die archetypischen Symbole von Treppe und Tor sind hier ebenso dynamisch wie untrennbar verbunden: Das Eine bedingt das Andere, das Aufsteigen ermöglicht erst das Eintreten.“ (Renftle S. 43)

Zwei weitere Beobachtungen kommen dazu: Zum einen führen die Treppe und der Torbogen in die Tiefe. Sie führen über viele Stufen und Abstufungen in die Tiefe des Glaubensgebäudes, weit hinein in die symmetrische Mitte, die vertikal alles im Gleichgewicht hält. Das Eintreten bildet für den Betrachter gleich dem real Eintretenden ein Schlüsselerlebnis, das ihn mittet, ihnen sakramental die verlorene Mitte und damit das seelische Gleichgewicht wiederschenkt. Das erhebt den Menschen weit über sich hinaus in himmlische Sphären, verbindet ihn unsichtbar mit seinem Schöpfer und Herrn, der Mitte und alles in allem ist.

Das vierte archetypische Symbol neben Treppe, Tor und Tiefe ist die Höhe. Die hochaufragende Kathedrale versinnbildlicht mit ihrer feinen Gliederung und edlen Gestaltung den Sitz des Bischofs. In ihrer vertikalen Fächerung bietet sie Schutz, in ihrer horizontalen Gliederung breitet sie empfangend einladend die Arme aus. Im übertragenen Sinn spricht diese Kathedrale die Einladung Jesu aus: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. “ (Mt 11,28) „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen, …“ (Joh 14,2) Jesus selbst ist der Gastgeber in dieser Kathedrale, die mit ihren Fenstern wie eine Stadt, in ihrer weißen Gestalt wie das himmlische Jerusalem, die verheißene Stadt, das neue Paradies wirkt.

„Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein.“ (Offb 21,2-3)

Das Bild ist in der Themenausstellung „Geöffnet – Verschlossen. Tür und Tor in der bildenden Kunst“ bis zum 24. November 2023 in der Galerie der Stiftung BC – pro arte in Biberach zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog mit allen Werken und einer umfassenden kunstgeschichtlichen Einführung der Kuratorin Dr. Barbara Renftle erschienen.

Kreisen um die goldene Mitte

Rote Linien oder besser gebogene Holzstäbe sind in der dreidimensionalen Skulptur spielerisch mit der goldenen Mitte im Dialog.

Drei Ovale umkreisen die Mitte und definieren das Kreisen in seiner dreifachen Wiederholung als etwas Bestimmtes, Sicheres, vielleicht sogar als etwas Heiliges. In ihrer Gesamterscheinung geben sie der Skulptur das Aussehen eines Sonnensystems oder auch eines großen Auges.

Sechs zur Mitte hin gebogene Linien sind ein weiterer Ausdruck des Dialogs mit dem Zentrum. Von außen kommend nähern sie sich der Mitte mehr oder weniger und entfernen sich dann wieder. Dabei kreuzen sie die konzentrischen Linien und bilden eine Vielzahl von Berührungspunkten. In der Gesamterscheinung deuten die nach außen offenen Bogenformen eine dynamische Kreuzform an.

Das Zentrum bildet ein runder, gewölbter Körper mit einem goldenen Innenraum, der von einem unsichtbaren Licht warm pulsierend erleuchtet wird. Für den Zürcher Künstler Adrian Bütikofer steht es in seinem skulpturalen Wandobjekt symbolisch für die Bahnhofkirche im Zürcher Hauptbahnhof, einem spirituellen Ort der Konzentration und Stille inmitten der dynamischen Betriebsamkeit des Bahnhofalltags. So gesehen könnte das Objekt ein Ausdruck für unser geschäftiges Leben sein.

Darüber hinaus vermag das pulsierende Licht unsichtbarer Herkunft aber auch das göttliche Licht und seine nicht nur das Herz bewegende Kraft zu symbolisieren. Es steht für Gottes geheimnisvolle Gegenwart in jedem Menschen. Als unsere Lebensquelle brennt er in uns und von ihm strömt das Leben durch uns wellenförmig in die Welt.

Gleichzeitig können die strahlenförmig zur Mitte und wieder nach außen führenden Holzlinien mit Aktion und Kontemplation, dem Suchen und Finden von Gott, dem Verweilen bei Ihm und der Sendung durch Ihn gedeutet werden. Überraschend tauchen Assoziationen zum spätmittelalterlichen Meditationsbild des Niklaus von Flüe auf. Doch in der vorliegenden Arbeit werden keine inhaltlichen Vorgaben gemacht. Die aus einem Holzstück herausgearbeiteten „Holzlinien“ können mit ihrer lebendigen Struktur und dem pulsierenden Rot genauso als Blutbahnen, Lebensadern oder als Transportsysteme gedeutet werden, aber ebenso als vom Heiligen Geist dynamisch durchwehte Lebensbahnen.

In dieser Offenheit lädt die Skulptur zur Betrachtung und Meditation ein: Über die Bedeutung eines Ortes der Stille und der Spiritualität inmitten der ruhelosen Geschäftigkeit eines Bahnhofes, eines Stadtzentrums, eines Menschenlebens. Gegen den Zeitgeist weist sie auch leise darauf hin, dass der Mensch nicht um sich selbst kreisen soll oder er selbst im Mittelpunkt steht, sondern die goldene Mitte Gott ist. Die mit Abstand von der Wand in der Luft schwebende Skulptur lässt spüren, dass unsere Freiheit und all unsere Bewegungen nur durch den festen Halt in unserer Mitte möglich sind. Diesen innersten Halt gilt es immer wieder zu suchen und erneuernd zu festigen, damit – wie mit den symbolischen zwölf Enden angedeutet – das unendliche Neuland des Lebens zuversichtlich beschritten werden kann.

 

Die Wandskulptur war bis zum 25. August 2023 in der Bahnhofskirche Zürich ausgestellt. Auf der Website finden sich zudem Fotos zum Entstehungsprozess. Ganz unten einige Links zum Flyer der Kunstintervention und zu „Wegworten“ der Seelsorgenden:  mittendrin / kreisen kurven kreuzen / ein Gott der mich ansieht.

GottesBegegnung

Im oberen Drittel öffnet sich der dünne Bronzestab und gibt zwei Menschen frei, die sich mit ausgebreiteten Armen Stirn an Stirn gegenüberstehen.

Ohne diese Öffnung wäre es nur ein Metallstab, aber durch die beiden Köpfe wird der Stab menschlich und mit den weit ausgebreiteten Armen zum Kreuz. Nicht weil hier jemand gekreuzigt worden wäre, sondern weil sich zwei Menschen „in der Klemme“ beistehen, sich berühren, stützen und halten. Herz an Herz stärken sie sich, Hand in Hand gleichen sie waagrecht die vertikale Spannung aus, die aus der Tiefe in ihre Körper aufsteigt und durch ihre emotionale und körperliche Zuneigung Stirn an Stirn überbrückt wird.

Tief schauen sie sich in die Augen, ergründen gegenseitig die Tiefen und Abgründe des anderen. Es ist ein ungewöhnliches Haltgeben und Aushalten. Es ist ein Hingeben in einer außerordentlichen Nähe. Eine Art Umarmung und sich Schenken in einer Notsituation, in der keine Umarmung mehr möglich ist, aber dennoch ein hilfreiches Da-Sein in existenzieller Einsamkeit. Die geöffneten, sich nicht festhaltenden, in der behutsamen Berührung aber dennoch nahen Hände signalisieren die Achtung und Wertschätzung des anderen als auch die Bereitschaft, jederzeit helfen zu können. Es ist die Erfahrung eines menschlichen Gegenübers auf Augenhöhe und in der vollumfänglichen körperlichen Wahrnehmung von den Zehen bis zum Kopf, emotional mit den Herzen und geistig mit den Gedanken verbunden.

Durch das fast übergangslose Hervortreten der beiden Personen aus dem langen Stab erhält der verzweifelte Hilferuf des Psalmisten „Aus den Tiefen rufe ich, Herr, zu dir!“ (Ps 130,1ff) und seine Bitte um Beachtung und Erhörung neue Aktualität. Die Hoffnung der Seele auf das Kommen des Herrn und sein verzeihendes Wort findet im Gegenüber bereits Erfüllung. Jesus ist in unsere Tiefen hinabgestiegen, um uns in all unseren Schmerzen, Leiden und einsamen Toden beizustehen.

Das außergewöhnliche Vortragekreuz mit zwei einander zugewandten Gekreuzigten ist auch bereits Antwort auf den Ruf Jesu in seiner Todesstunde: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.“ (Ps 22,2-3) Denn da ist ein Gegenüber, das die Einsamkeit erträglicher macht, die Schreie hört, im Mitgefühl und Mitleiden Zuversicht schenkt. In der zweiten Person wird die Caritas sichtbar, die wertschätzende und helfende Liebe gegenüber allen Notleidenden und Benachteiligten.

Der gespiegelte Gekreuzigte macht die Haltung der hingebenden Nächstenliebe sichtbar und verdeutlicht, im eigenen Tun und Handeln gegenüber den Mitmenschen stets Jesu Ruf in die Nachfolge zu hören und letztlich Christus selbst in den Mitmenschen zu begegnen und zu dienen.

Geschenkte Größe

Inmitten des großen Kreisrunds begegnet uns golden hinterlegt die heilige Familie. Maria sitzt und hält das Jesuskind in ihrem Arm, Josef steht zugewandt und beschützend dahinter. Relativ zu der großen und schweren Masse des Steines, der einen beeindruckenden Durchmesser von einem Meter hat, wirkt das Kind klein und zerbrechlich wie ein soeben Neugeborenes.

Der runde Stein steht für die Vollkommenheit, aber es kann auch das Weltenrund darin gesehen werden oder ein Menschen-Leib, in dem Leben heranwächst, oder sogar ein Brot-Laib. Jesus ist als Erdenbürger geboren worden, er ist leib-haftig Mensch geworden. Er will in uns zur Welt kommen und sich als lebendiges Brot verschenken, damit wir in Ewigkeit leben (vgl. Joh 6,51).

Wie aus dem Auge oder dem Herzen der Welt heraus präsentieren Maria und Josef allen auf dem Weltenrund den Gottessohn. Vom unteren Weltenrand schauen die versammelten Völker zum Licht auf, das über ihnen aufstrahlt wie Jesaja vorhergesehen hat: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht.“ (Jes 9,1) Endlich ist der Retter da! – und doch ist da noch eine Distanz dazwischen.

An die Menschenmenge und uns Betrachter richten sich drei Zeilen aus dem Gedicht „Das Marien-Leben“ von Rainer Maria Rilke (1911/12), die über der Heiligen Familie in den Stein gemeißelt sind:

… SIEH, DER GOTT, DER ÜBER VÖLKERN GROLLTE,
MACHT SICH MILD UND KOMMT IN DIR ZUR WELT.
HAST DU IHN DIR GRÖSSER VORGESTELLT?

Rilke und auch der Künstler weisen damit auf die Barmherzigkeit Gottes hin, auf seine Liebe zu uns Menschen, die mit der Geburt seines Sohnes in die Welt gekommen ist. Das Zentrum ändert sich: Gott ist nicht mehr nur oben im Himmel, sondern auch und vor allem mitten auf der Erde. Gott ist nicht mehr fern, sondern nahe, er ist nicht mehr zornig, sondern gnädig, er trägt nicht mehr nach, sondern verzeiht. Deshalb ist das Erstaunen groß und die Frage berechtigt, welche der Künstler zwischen die Heilige Familie und die erwartungsvollen Völker gestellt hat: WAS IST GRÖSSE?

Was ist Größe? Rilke vergleicht in seinem Gedicht zur Geburt Jesu alle Schätze der Welt und das Ansehen der Könige mit der Geburt des Gottessohnes und kommt zu dem Schluss, dass das alles nichts wert ist gegenüber dem Geschenk, das Gott den Menschen macht: Er schenkt sich selbst. Jedem Menschen, bedingungslos und umsonst, obwohl wir das nicht verdient haben. Er möchte der Mittelpunkt unserer Seele, unseres Herzens, unseres ganzen Lebens sein, damit wir als erlöste und befreite Menschen mit ihm und mit allen Menschen in Frieden leben und die Fülle des Lebens erfahren. Gott macht sich klein und schenkt sich jedem von uns unverdienterweise. Das ist seine wahre Größe. Das größte Geschenk, das weitergeschenkt werden will.

 

Die Skulptur war vom 05.11.2022 bis 22.01.2023 Teil der 82. Telgter Krippenausstellung „Mittendrin“ im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte.

GegenMacht

Die Gestalt des Gekreuzigten wächst hoch oben aus der dünnen Senkrechten heraus. Sein Körper ist bis auf den Kopf und die Arme vor allem auf der Vorderseite figürlich als Beine, Lendenschurz, Bauch und Brustbereich gestaltet. Die senkrechte Teilung der Beine setzt sich in einem Spalt im Brustbereich fort und bildet dort mit der Unterseite der Brust ein Kreuz.

Der Kopf ist nach rechts gedreht, der Blick nach unten gerichtet. Seine Arme hat der Erhöhte maximal ausgestreckt, ebenso seine Hände: rechts senkrecht erhoben, links waagrecht nach vorne abgewinkelt. So bildet der Körper als Ganzes ein hochaufragendes Kreuz, gleichzeitig trägt er im Brustbereich das Kreuz in den Körper eingeschrieben.

Er ist nicht als der leidende Jesus dargestellt, auch wenn seine Wundmale deutlich zu sehen sind. Jesus wird nicht als passiv das Leiden Erduldender, sondern als Mitleidender, als sich Erbarmender und Beschützer aller wie er Gekreuzigter dargestellt. Er hat das Unrecht der Missbrauchten durch Spott, Folter und Tod am eigenen Leib erfahren. Nun wehrt er sich und verteidigt alle: Es ist genug! Hört auf! Das ist nicht auszuhalten!

Jesus tritt den Peinigern und Mächtigen als Verteidiger der Missbrauchten und Entwürdigten entgegen: Am Kreuz erhöht stellt er sich mahnend zwischen die Gewalttätigen und die Unterdrückten. Mit seiner aufgerichteten rechten Hand gebietet er Halt und Einhalt, mit seiner waagrecht gehaltenen linken Hand wehrt er eher ab. Jesus hält die Gewalttätigen auf Distanz, er schaut sie nicht an. Er, der Menschenfreund, weist sie ab und will auch nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Er will auch von seinen eigenen Leuten nicht missbraucht oder verzweckt werden.

Missbrauch hat viele Gesichter und durchzieht zu allen Zeiten alle Gesellschaftsbereiche. Er ist uns näher als wir vielleicht denken, wenn wir stärker, reicher, klüger, älter, gesünder oder einflussreicher sind als andere (vgl. Lk 1,48-53). Macht ist schnell missbraucht, wenn Eigeninteressen höher gestellt werden als das Gemeinwohl und insbesondere das Wohlbefinden des Nächsten im biblischen Sinne. Niemand ist vor dieser Versuchung gefeit, auch nicht Priester oder Lehrer, Väter oder Mütter, Geschäftsleute, Arbeitgeber oder Politiker. Jesus ist gegen jede Art der Unterdrückung und Bevormundung. Im Christuslied des Philipperbriefes (2,6-8) wird beschrieben, wie Jesus auf seine unvorstellbare Machtfülle verzichtete, um den Menschen nahe zu sein und ihnen durch Gottes heilende, stärkende und rettende Kraft ihre Menschenwürde zurückzugeben.

Jesu Gegenmacht zum „Missbrauch von gutem Brauch“ ist seine Liebe und Fürsorge, sein Für-andere-da-Sein. Sein Umgang mit den Menschen ist geprägt von Respekt und Toleranz, von Wertschätzung und Vertrauen in deren Fähigkeiten und Kräfte. In seinen Augen sind alle Menschen gleich und in seiner Gerechtigkeit gibt es keine Unterschiede, außer dass den wie auch immer Benachteiligten Hilfe und Unterstützung zusteht.

Dieses Kreuz verkörpert Jesu Haltung über den Tod hinaus. Von „Gott über alle erhöht“ (Phil 2,9) bleibt er für alle Selbstsüchtigen und Peiniger ein Mahner des Unrechts und somit ein Stein des Anstoßes und ein Zeichen des Widerstands. Alle anderen stärkt Jesus als unübersehbares Vorbild im rechten und guten Umgang miteinander.

Gefäß der Menschlichkeit

Das bauchige Gefäß strahlt in seiner schlichten Form viel Menschliches aus. Mit seiner großen Basis steht es geerdet und standfest da. So schnell lässt es sich nicht umwerfen. Durch die nach hinten versetzte Öffnung wölbt sich der vordere Bereich wie eine stolz geschwellte, Selbstbewußtsein ausstrahlende Brust … trotz des großen Risses im Holz.

Der Schwundriss, der bei der Holztrocknung entstand, mutet wie eine Verletzung an, eine äußere Beeinträchtigung, die manche als Makel oder Verlust an Schönheit empfinden und der für sie schnellstens beseitigt und behoben gehört.

„trotz dem“ steht in Goldbuchstaben neben dem Riss. Die zwei Worte sind ein Zeichen des Widerstandes, des Protests. Trotz des Risses kann das Gefäß für die Aufbewahrung von Gegenständen gebraucht werden. Vor allem kann es an das Wesentliche erinnern, das jenseits seiner praktischen Funktion liegt: Das Da-Sein an sich und die Schönheit selbst. Trotz seiner Beeinträchtigung hat es eine Daseinsberechtigung und gerade damit darf es Wertschätzung erfahren.

Das Gefäß ist weitgehend rot bemalt. Wie ein Kleid bedeckt die rote Farbe den weißen Grundton, der an der Basis wie ein Unterkleid noch zu sehen ist. Die rote Farbe leuchtet warm wie ein Mantel der Liebe und der Barmherzigkeit, der über die verletzte Unschuld geworfen wurde, als wollte gesagt werden: Trotzdem bist du geliebt.

So ist das bauchige Gefäß voller Symbolik und Parallelen zu uns Menschen. Niemand von uns ist perfekt. Jeder von uns hat früher oder später irgendwo einen „Sprung“, eine äußere oder innere Beeinträchtigung. Wunden gehören zum Leben ebenso wie die Spuren von Brüchen, Unfällen oder unserem Lebenswandel. Sie sind die „Schwachstellen“, an denen unser Inneres offenbar wird und Licht auf unsere verborgenen oder dunklen Schattenseiten fallen kann.

Sehr schön kommt das im Kintsugi zur Geltung, der japanischen Kunst Tongefäße zu reparieren. Zerbrochene Gefäße werden nicht weggeworfen, sondern in einem aufwändigen Prozess so wieder zusammengefügt, dass sie dauerhaft halten und brauchbar bleiben. Zum Schluss werden die Sprünge und Bruchstellen vergoldet, wodurch dem Gefäß und seiner Geschichte eine besondere Wertschätzung verliehen wird.

So lässt auch das Holzgefäß mit seinem golden geschriebenen „trotz dem“ (an sich wird das Wort trotzdem zusammengeschrieben, doch durch die Trennung wird es sinnhafter!) über den Umgang mit den Widerwärtigkeiten, Unglücken und Brüchen nachdenken, die wesentlich zu unserer Existenz gehören. Wir sind nicht perfekt, es kann nicht alles gelingen, es kann nicht alles heil bleiben, allein schon wegen unserer Schwächen und unserer Vergänglichkeit.

Gerade deswegen besteht das Leben aus vielen unentwegten Trotzdems. Trotzdem leben wir. Trotzdem arrangieren wir uns und versuchen wir das Beste daraus zu machen. Das bauchige Gefäß ist eine Aufforderung, allen widrigen Gegebenheiten zu trotzen und zu widerstehen. Seine Aufschrift motiviert, etwas dennoch zu machen, auch wenn man keine Lust oder keine Motivation dazu hat. Sie ist eine Einladung, trotzdem Werte zu haben und sich für sie einzusetzen, auch wenn andere diese nicht teilen, weil sie ihnen sinnlos oder zu kostspielig erscheinen. Sie ist eine Einladung, trotz der vielen Enttäuschungen an das Gute im Menschen zu glauben, trotzdem zu vertrauen und immer wieder einen neuen Versuch zu wagen.

Mutter Teresa: Trotzdem

Die Leute sind unvernünftig,
unlogisch und selbstbezogen;
LIEBE SIE TROTZDEM
Wenn du Gutes tust, werden sie dir
Egoistische Motive und Hintergedanken vorwerfen,
TUE TROTZDEM GUTES
Wenn du erfolgreich bist,
gewinnst du falsche Freunde und echte Feinde,
SEI TROTZDEM ERFOLGREICH
Das Gute, das du tust, wird morgen vergessen sein,
TUE TROTZDEM GUTES
Ehrlichkeit und Offenheit machen dich verwundbar,
SEI TROTZDEM EHRLICH UND OFFEN
Was du in jahrelanger Arbeit aufgebaut hast,
kann über die Nacht zerstört werden,
BAUE TROTZDEM
Deine Hilfe wird wirklich gebraucht,
aber die Leute greifen dich vielleicht an,
wenn du ihnen hilfst,
HILF IHNEN TROTZDEM
Gib der Welt dein Bestes,
und sie schlagen dir die Zähne aus,
GIB DER WELT TROTZDEM DEIN BESTES.

(Zeilen auf einem Schild an der Wand von Shishu Bhavan, dem Kinderheim in Kalkutta)

 

Von der Arbeit „trotz dem“ gibt es auch eine Postkarte (Voransicht), die unter der Bestellnummer 6043 beim Künstler bestellt werden kann.

Zusammenhalt

Haltlos waren die rotbraunen Metallbänder, als sie dem Generationenwechsel im Schienenbau zum Opfer fielen. Ausgerechnet sie, die dazu gefertigt wurden, alten hölzernen  Eisenbahnschwellen Halt zu geben und mit ihnen Stabilität den Schienen und Sicherheit den darüberrollenden Zügen und Fahrgästen.

Aufgeschnitten lagen die Bänder in Haufen als Schrott oder Altmetall herum. Offen für einen neuen Verwendungszweck, der vom Einschmelzen bis zur Weiterverwendung in einem anderen Kontext reichen konnte. Wie hier in einem Kunstwerk.

Verbunden wurden sie vom Künstler durch das Verschweißen an unerwarteten Stellen. Sie bilden in ihrer Verworfenheit nun eine Solidargemeinschaft, in der jedes Band die Spuren seiner ursprünglichen Bestimmung und Aufgabe als auch seine Trennung davon als gestaltgebendes Moment in das neue Zusammen und damit in den neuen Lebensabschnitt einbringt. Die Gemeinschaft ist der Wund-Verband, der hilft die Verletzungen der Vergangenheit zu heilen. Sie werden sichtbar bleiben und damit der neuen Gestalt ein unverwechselbares Gesicht verleihen.

Offen geben sich die Zwischenräume, durchlässig für ganz verschiedene Deutungen. So kann in der Metallskulptur ein Menschen- oder Löwengesicht gesehen werden, das von einem roten Wuschelkopf oder einer roten Mähne umgeben ist. Gleichzeitig atmet in dem Linienverbund die Blätterstruktur einer blühenden Rose. Da ist viel Luft, Freiraum und Toleranz im Innern, aber auch viel Offenheit nach außen. Die freien Enden der Bänder sind bereit, Suchenden Halt und Gemeinschaft anzubieten. Im einen wie im anderen Bild ist Leben und Freude zu spüren, … ein neuer, sinngebender Zusammenhalt.

Doppeltes Zwiegespräch

Ein losgelöstes Gesicht schaut in den Spiegel seiner selbst. Abgeschnitten und gewendet vermag es das Unmögliche zu vollbringen, in sich selbst hineinzuschauen bzw. sich im eigenen Selbst zu spiegeln oder zu erkennen. Doch es bleibt ein Anschauen, ein Außen-vor-Bleiben: denn der Spiegel ist kein Fenster, er ermöglicht keinen Blick ins Innere, er zeigt nur den Betrachter und sein unmittelbares Umfeld.

Die Selbstreflexion wird hier ins Bild und ins Gespräch gebracht. Nicht andere zu spiegeln oder ihnen einen Spiegel vorzuhalten, sondern sich selbst ins Gesicht zu schauen und in sich zu gehen. Das hintergründige Werk fordert auf, in die Tiefe zu gehen, sein Denken und Tun zu ergründen und auf den Prüfstand zu stellen. Einsichtig und demütig zu versuchen, Einsicht in die eigenen innersten Beweggründe zu erhalten. Nicht umsonst sagt Jesus zu seinen Zuhörern: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Mt 7,3)

Selbsterkenntnis ist nicht so leicht wie es aussieht. Das zeigt auch die verwendete Büste der Allegorie des Sommers. Sie steht wie ihre drei Kolleginnen Frühjahr, Herbst und Winter für eine zeitlich begrenzte Zeitspanne, die wiederkehrend von natürlichen Rhythmen geprägt ist. So stellt die Allegorie zum einen ein Vanitas-Symbol dar, zum andern steht sie für die frühe Blütezeit des Lebens. Die Selbstbetrachtung ist also eine Standortbestimmung auf der Reise durch das Leben. Kein Selfie, kein äußeres Ablichten vor einem bedeutenden Hintergrund, sondern vielmehr ein Röntgenbild, welches das ganze Sein final durchleuchtet.

Der Betrachter ist eingeladen, mit in den Spiegel zu schauen – er kann sich neben der Allegorie selbst sehen. Doppelt wird er gespiegelt, da auch die Rückseite des Gesichts verspiegelt ist. Hinter dem  Antlitz der Allegorie des Sommers sieht der Betrachter sein eigenes Gesicht. Das Kopfsegment wird gleichsam zu einer Maske und er sieht sich in ihr. Mit ihr und in ihr kann sich der nun Maskierte nur allegorisch betrachten, wie in einer verschleierten, anderen Sprache. Die Wahrheit ist nicht so nah wie gedacht. Vielmehr scheint sie durch viele Fragen in die Ferne zu rücken: Bin ich ganz die Person, die ich bin? Zeige ich mein wahres Gesicht? Bin ich authentisch die Persönlichkeit, die Gott in die Welt und seine Nachfolge gerufen hat? Oder spiele ich wie in einem Theaterstück eine Rolle, um jemand zu sein und anderen zu gefallen? So gleicht der Blick in den Spiegel einem Blick in die Seele, der die tiefsten Wahrheiten zu offenbaren und zu enthüllen vermag.

Die Allegorien der vier Jahreszeiten erinnern an die Vergänglichkeit des blühenden Lebens und mahnen die Zeit zu nutzen und zu schätzen, die einem bleibt. „Carpe diem – pflücke den Tag“- pflegten die Römer zu sagen. Jeder Tag ist ein Geschenk, etwas aus ihm bzw. aus mir zu machen. An meinem Profil zu arbeiten, meine Fähigkeiten zu schulen und mich konstruktiv in die Gemeinschaft einzubringen. Jeder hat eine Berufung, eine Aufgabe in dieser Welt. Meine Fähigkeiten sind gefragt, ich bin aufgefordert, authentisch die Herausforderungen dieser Zeit mitzugestalten und mitzubestimmen. Die EIN-Sicht stärkt mein Selbstbewusstsein und ermöglicht Selbsterkenntnis. Aber sie eröffnet mir auch Perspektiven, eine AUS-Sicht, die ermutigt zu leben und wo und wie auch immer Leben zu schützen und zu fördern.

Schlüssel zum Leben

Sehr schlicht präsentiert sich dieses Kunstwerk ganz besonderer Art. Auf einer Grundplatte steht hochkant ein Stück Holz mit einem abgenutzten Türbeschlag, der oben keinen Griff oder Knauf, aber unten ein intaktes Schlüsselloch hat. Nichts weist auf eine außergewöhnliche Situation hin. Allein ein Klingelknopf lädt zum Drücken und Hoffen ein, dass dieser eine Reaktion auslöst, durch die sich die eigenartige Aufmachung erklärt.

Doch auf Knopfdruck ereignet sich nicht allzu viel. Allein das Schlüsselloch wird beleuchtet, was allerdings die Aufmerksamkeit auf sich zieht und genauer hinschauen lässt. Denn im Schlüsselloch wird ein Kleinkind mit nacktem Oberkörper und lockigem, goldenem Haar sichtbar: Jesus! Die karge Tür ist gleichsam der Stall, in dem er geboren, die Krippe, in die er gelegt wurde. Er erstrahlt als Licht in der Dunkelheit des Schlüssellochs. Er nimmt den Platz des Schlüssels ein und verweist damit auf die vorweihnachtliche O-Antiphon des 20. Dezembers, in der die Schlüsselgewalt des Gottessohnes verkündet und ersehnt wird:

O Schlüssel Davids, Zepter des Hauses Israel  –
du öffnest, und niemand kann schließen,
du schließt, und keine Macht vermag zu öffnen:
o komm und öffne den Kerker der Finsternis.“
(vgl. Jes 22,22; Offb 3,7; Mt 16,19)

Jesus ist der Schlüssel zum Reich Gottes. Sein Leben, seine Worte der Liebe öffnen neue Lebensräume und führen aus der Gebundenheit und Gefangenschaft dunkler Abhängigkeiten in die Freiheit des wahren Lebens. Die Geburt Jesu ist der geschichtliche Wendepunkt. Seine Geburt lässt sich leicht übersehen, seine universelle Bedeutung in seiner Zeit weder erahnen noch verstehen.

Heute feiern wir mit Millionen von Lichtern Jesu Geburt. Aber haben wir verstanden, was es bedeutet, die Liebe selbst zu sein? Bei Jesus und in unserem Leben für den Nächsten?  Die Liebe allein vermag die Türen der Herzen zu öffnen und diese mit Licht und Leben, mit Glückseligkeit und Freude zu erfüllen. Keine andere Kraft hat eine solche Macht.

Komm Herr Jesus, kehr bei uns ein. Sei unser Gast und erfülle uns mit deinem Licht und deiner Liebe, auf dass wir heil werden und selbst zu befreienden Schlüsseln der Liebe werden.

Diese Krippe ist bis zum 13. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Warten auf Jesus

Ein junges Paar steht am Ausgang eines Bahnhofs. Die einfach gekleidete junge Frau hält ein Baby in den Armen, ein Bauarbeiter in einfacher, verschmutzter Kleidung steht ihr bei. Ein Mann in weißer Latzhose und einem gelben Koffer schaut zu ihnen hinüber. Hinter ihnen öffnet sich der Blick auf einen Bahnsteig mit Informationstafeln und einem blauen Zug.

Das Paar scheint gerade in der Stadt anzukommen. Vor ihnen liegen erneut Gleise, vielleicht von der Straßenbahn. Sie müssen ja irgendwo eine Herberge finden in der Stadt. Neben ihnen wünschen Esel und Ochs aus einem DB-Informationsschalter heraus (auf die verkehrte Welt weist das von hinten spiegelverkehrt abgebildete DB-Symbol hin) den traditionellen Bergmannsgruß „GLÜCK AUF“. Mit dem kurzen Wunsch werden Gesundheit und Erfolg bei der gefährlichen Arbeit in den Bergwerksstollen zusammengefasst, das Finden des Gesuchten und auch die gesunde Rückkehr des Kumpels. Der als Graffiti auf die Wand gesprühte Spruch zu ihrer Rechten verortet das Glück einzig und allein im Glauben an Jesus: „Ohne Jesus ist Schicht im Schacht“.

Mit dem Rücken zur Wand sieht der telefonierende Geschäftsmann diesen entscheidenden Hinweis allerdings nicht. Läuft er dem Glück davon?

In den Ecken eines unsichtbaren Dreiecks umgeben drei Personen das junge Paar: links unten ein Mädchen mit einem weißen Lamm, rechts eine alte Frau am Rollator, oben ein geflügelter Mann in Business-Kleidung. Seine dunkle Brille und sein tastender Gang lassen in ihm einen blinden oder lichtscheuen Engel sehen. Was für eine Botschaft er wohl verkünden mag?

Unbeholfen steht er auf dem Dach der Bahnhofshalle. Wem soll er die Botschaft verkünden? Würden die Leute seine Botschaft überhaupt verstehen, wenn der Gottessohn so unauffällig in einer Bergmannsfamilie in die Welt hineingeboren wird? Wer es nicht weiß, wird das göttliche Kind übersehen, seine Ankunft verpassen! So ist es auch beim Mädchen und bei der alten Frau ungewiss, ob sie auf das Kind zugehen oder an ihm vorbeigehen. Die farbliche Verbundenheit mit Maria (rot-rosa Oberteile) lässt ersteres vermuten. Biblisch gesehen könnte das Mädchen symbolisch für die Hirten, die zum Stall geeilt sind, als auch für Johannes den Täufer stehen, der mit den Worten auf Jesus hinwies: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh 1,29). Die alte Frau hingegen könnte die biblische Witwe Hanna andeuten, die Gott im Tempel erwartete und sich über seine Ankunft derart freute, dass sie es allen erzählte, „die auf die Erlösung Jerusalems warteten.“ (Lk 2,38)

Johannes wie Hanna haben Jesus erwartet. Sie haben sehnsüchtig auf ihn gewartet. Sie haben gehofft und gebetet, dass ihnen die Gnade zuteilwerde, Jesus zu erkennen und ihn schauen (vgl. auch Simeon; Lk 2,25.26) und anbeten zu können: als Heiland der Menschen, als Retter der Welt. Weist nicht das Holzkreuz der Bahnhofshalle, unter dem die Mutter mit dem Kind steht, auf Jesu Berufung hin, die Menschen durch sein eigenes Blut zu erlösen? Und verweisen die Orientierungstafeln, welche Bahn wann in welche Richtung abfährt, nicht auch auf seine Heimkehr zum Vater?

Die Skulptur lädt uns ein, Jesus zu erwarten – „Komm Herr Jesus!“ (Offb 22,20) – auf dass wir ihn in Menschengestalt auch erkennen und schauen können. Hier und jetzt.

 

Die Arbeit von Rudi Bannwarth ist in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Monumentale Leichtigkeit

Weit ausladend queren die breiten Stahlbänder mit ihrer geschwungenen Form die große Halle. Mit hoher Hitze und extremen Kräften wurden die Platten aus massivem Stahl sowohl in der Vertikalen als auch in der Horizontalen verformt, so dass sie sanfte Bögen bilden und damit zu Kreissegmenten und Teilen von etwas Größerem werden.

Die drei lose aufeinander liegenden Stahlplatten vermitteln durch die verdichtete Mitte Bodenhaftung, Halt und Zusammenhalt im Balanceakt des Seins. Doch sie liegen versetzt aufeinander, wie zufällig verschoben, oft sich kaum berührend, Freiräume lassend. Durch diese freie Anordnung und die weit auskragenden Teile erhält die Skulptur eine luftige Dynamik und eine weltumarmende Offenheit. Mit den sanften, perfekt gerundeten Bögen hat Thomas Röthel den tonnenschweren Stahl gleichsam entmaterialisiert (weitere Ansicht 1, Ansicht 2).

Gleichzeitig lädt die Skulptur ein, sich gedanklich in ihre Mitte zu stellen oder hineinzusetzen, sich vom Schwung der Skulptur mitnehmen und erheben zu lassen.  Ihre abgesenkte, geerdete Mitte regt zur Sammlung an, während die abhebenden freien Enden begeistern, die erhebende Bewegung der Skulptur aufzunehmen und, ihr gleich, die Arme so weit als möglich auszubreiten, um sich für das unfassbar Größere zu öffnen: Aus einem stabilen, zentrierten Sein heraus sich bis in die Fingerspitzen dem Licht zuzuwenden und zu öffnen. Sich Gott öffnend, um von Ihm gesehen, von seinem Licht gehalten und erfüllt zu werden.

Unendlich zart und doch kraftvoll stark ziehen die gleichmäßigen Bögen in den Aufschwung hinein, den Aufbruch in eine neue, unbekannte Welt, die wir in uns spüren und die immer wieder den äußeren Ansporn braucht, um sich zu öffnen und aufzubrechen, licht und Licht zu werden.

Steh auf, werde licht,
denn es kommt dein Licht
und die Herrlichkeit des Herrn
geht strahlend auf über dir.
(Jes 60,1)

Schätze im Himmel

Der kompakte, aufgerichtete Figurenblock gibt sich in seiner menschenartig abstrahierten Gestalt verschlossen und unnahbar. Mit geöffneter Front jedoch stellt er sein reiches und feingliedriges Innenleben zur Schau. Die Mitte bildet ein hoher, spitzer Turm, der an die immer höher werdenden Wolkenkratzer dieser Welt erinnert. In den seitlichen Nischen befinden sich vier stilisierte „Heiligen“-Figuren in Turm-Kleidern und mit aufgetürmtem Kopfschmuck. Ihre phantasievollen Gewänder greifen die Formensprache des Turmes auf als wäre er das große Idol ihres Daseins.

„Hack nimmt hier deutlich Bezug auf die mittelalterliche Tradition der Wandelaltäre, die an Festtagen geöffnet wurden und den Blick auf das Heilsgeschehen frei gaben, also durch einen Wechsel von Verbergen und Erscheinung das religiöse Staunen steigerten. Mit dem Unterschied, dass hier nun anstelle des christlichen Heilsgeschehens der Turm zu Babel als Menetekel menschlicher Vermessenheit, als Sinnbild der Selbstvergötterung erscheint. Der autonome Mensch wird selbst zum Schrein, in dessen Innerem verborgen er sein Babel trägt. Von Zeit zu Zeit stellt er es Ehrfurcht gebietend zur Schau. „ (Dr. Barbara Renftle in: getürmt, 2021, Stiftung bc – pro arte, S.41)

So stellt die geöffnete, stehende Altarfigur jedem Betrachter die Frage, was er im Verborgenen gesammelt oder aufgetürmt hat und welche Referenzpersonen ihm zur Seite stehen bzw. ihn auf dem Weg durch das Leben begleiten. Auf die Frage, was uns im Leben wichtig sein soll, gibt Jesus eine ganz klare Antwort: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde …, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen! Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. … Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. … Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie … sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? (Mt 6,19-21.24c.26)

Sinnbildlich weist der innere Turm auf Größenwahn, Hochmut und Überheblichkeit hin. Noch stehen er und seine Getreuen stark und sicher. Doch Jesus weist darauf hin, dass gesammelte Schätze (siehe auch Lk 12,15-21) und selbstgemachte Heiligtümer uns nicht retten können. Wir sollen immaterielle Schätze im Himmel (nicht in der Cloud …) sammeln, mit unseren Herzen auf Gottes Barmherzigkeit und Fürsorge vertrauen. Paradoxerweise bringt gerade das schlichte Äußere der Skulptur diese innere Haltung der Demut  zum Ausdruck: unauffälliges und unspektakuläres, aber hilfsbereites und haltgebendes Da-Sein für andere. Heilige Schätze zu sammeln bedeutet Haltungen und Werte leben, die von Achtung und Wohlwollen für alle Menschen, Lebewesen und die ganze Erde geprägt sind. Weil eine solche Haltung und solches Handeln von Umsicht, Fürsorge und Liebe beseelt Gutes bewirken wollen, sind sie heilig, überzeitlich und gehen in die Ewigkeit ein. Sie lösen jetzt schon ein interaktives Heilsgeschehen aus und werden deshalb zu einem Schatz im Himmel.

Skulpturen von Klaus Hack und Arbeiten weiterer Künstler*innen sind bis zum 26. November 2021 in der Themenausstellung “Getürmt. Turmmotive in der Gegenwartskunst” in der Galerie der Stiftung S BC – pro arte in Biberach im Original zu sehen. Dort kann auch der sehr informative Ausstellungskatalog bezogen  werden.