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Carola Faller-Barris, Entbindung, 2013
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Entbindung

Der eiförmige Körper ist in zwei Teile auseinandergebrochen, als wäre ihm gerade ein Lebewesen entschlüpft. Dieser Eindruck wird durch die zwischen Öffnung und Deckel am Boden liegenden Binden verstärkt. Nun liegen Schalen und Binden verlassen da. Niemand ist zu sehen. Die hinterlassenen Teile bezeugen jedoch ein Geschehen der Verwundung, der Verwandlung und auch der Offenbarung. Denn was einst verborgen war, ist nun erkennbar, auch wenn niemand zu sehen ist.

Von Verwundungen erzählen die verschiedenen Narben und die blutrote Stelle im Verband. Sie sind offensichtlich zu verschiedenen Zeiten zugefügt worden, denn zwei sind vernarbt, wobei bei der einen noch die Fäden, mit der die Wunde zugenäht worden ist, zu sehen sind, und die blutende Wunde so frisch ist, dass sie durch die Kompresse blutet (weitere Ansicht). Ebenso ist eine sechsstellige blaue Zahl zu sehen. Ob sie auch mit einer Verletzung zu tun hat? Möglich ist es schon, denn nur eine Zahl zu sein oder abgestempelt zu werden ist nichts Angenehmes, auch wenn für uns Zahlencodes auf Eiern sehr vertraut sind.

Doch geht es hier nur um einen geschlüpften Vogel? Die Hohlform gleicht wohl einem Vogelei, ist mit einem Durchmesser von 34 cm allerdings sehr groß. Die wächserne Oberfläche erinnert zudem in Farbe und Aussehen an menschliche Haut. Auch den Verband bringen wir eher mit einem Menschen in Zusammenhang als mit einem Ei.

So sprechen die aufgebrochene Schale und die abgelösten Binden das Thema „Geburt“ an. Das Ei ist verlassen, der Verband teilweise gelöst worden. Letzterer schützte wohl primär den verletzten Körper, verweist sekundär jedoch auf die Ent-Bindung des Kindes von seiner Mutter bei der Geburt. Entbindung meint ja im übertragenen Sinn das Lösen von Bindungen, die neues Leben verhindern.

Spontan mag man an die Auferweckung des Lazarus denken, von dem es in Joh 11,44 heißt: „Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen!“

Auch Jesu Auferstehung wird parallel zu den biblischen Berichten aufgenommen. Die Künstlerin schreibt dazu: „Die leere Hülle zeigt noch die Spuren erlittener Gewalt und entspricht gleichzeitig dem leeren Grab. Die Binden wurden wie beim Leichnam Jesu von außen gelöst. Der Raum, in dem das Leben herangereift ist, wurde gesprengt und verlassen.“ An die Stelle von Dunkelheit und Gefangenschaft sind Licht und Bewegungsfreiheit getreten, weil Gott ihn nicht verlassen hat, weil er Ihm nahe geblieben war.

Patrik Scherrer, 20.04.2013

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