Ent-Festung
„Es häufen sich die Anzeichen für ein neues Unbehaustsein“ – schreibt Vilem Flusser 1989 geradezu prophetisch in der Basler Zeitung unter der Überschrift „Häuser bauen“. Die Entfestung unserer Existenz ist ein sich über Jahrhunderte vollziehender Prozess. Anfangs betraf er nur unsere Stadtgrenzen, deren Sicherung durch Mauern und Türme unsinnig geworden war, weshalb sie heute nur noch pittoresken Charakter haben. Es blieben die Nationengrenzen und die privaten Häusergrenzen. Während die Menschen über Jahrhunderte versuchten, sich in festen Häusern und Nationen einzurichten (‚Festung Europa‘), begannen ihre Behausungen in neuerer Zeit immer durchlässiger und fragiler zu werden. Erst waren es die Antennen, dann die Drähte, schließlich die Kabel und Netze, die aus den massiven Abgrenzungen gegenüber der Umwelt nahezu transparente Gitter werden ließen: „Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.“ Und die globale Kommunikation macht auch die nationalen Grenzziehungen, die immateriellen Grenzen immer willkürlicher. Wir können zwar weiterhin (verbal) Festungen errichten, aber wir kommen nicht umhin, unsere zunehmend instabiler und netzartiger werdende Existenz neu zu reflektieren. Die Scholle ist heute nur noch ein Element, kein Argument mehr.
Madeleine Dietz verleiht diesem epochalen Prozess vom Sichtbar- und Bewusstwerden unseres Unbehaustseins und der Rückkehr zum Nomadischen einen künstlerischen Ausdruck. Das Material ‚Stahl‘ steht zunächst für den Schein der Sicherheit, für Konstruktion und Abgrenzung, für Undurchdringlichkeit. In dem Moment, in dem wir uns unsicher fühlen, beginnen wir Mauern zu errichten und Zäune hochzuziehen und verwandeln aber zugleich das eigene Gebiet in ein Gefängnis (weitere Ansicht). Die bei Madeleine Dietz sichtbar werdende künstliche Schichtung der Materialien, ihre an Instabilität grenzende Konstruktion verweist aber auch auf die Brüchigkeit dieses Prozesses. Ihre Objekte stehen im Weg, erzwingen Um-Wege, schließen sich aber nicht mehr. Dietz schichtet Stahlplatten, wie ehedem ihre Erdstücke, zu einem Gebilde, das bei aller scheinbaren Solidität zugleich auch fragmentarische Züge bekommt. Der Stahl behält so zwar seinen materialimmanenten konstruktiven Charakter, aber er wirkt nun vor-läufig, nicht mehr end-gültig. Er kann sich zwar noch zu einem Kubus erheben, aber die Stahlplatten rundherum lassen die Gegenkräfte erkennbar werden, die drohende tektonische Verwerfung, die Gefahr „einstürzender Neubauten“. Das Ganze wird zu einem Objekt, das Entwurfscharakter hat, weil es jederzeit sich verändernden Gegebenheiten angepasst werden muss, damit seinen Festungs-Charakter verliert und potentiell nomadisch wird. Das ist unmittelbar politisch.
Im Kontext der früheren Arbeiten von Dietz, die ebenfalls vom Ruinösen und vom Vergänglichen sprechen, tritt nun verstärkt das Element des Transitorischen, des Übergangs hervor. Es ist eine künstlerische Metapher. Die Gitterzäune, die wir heute erleben, bieten keine Sicherheit, sondern machen die Willkürlichkeit, die Künstlichkeit dieser Art der Grenzziehungen sichtbar. Die stählernen Gebilde können morgen schon andere Gehäuse bilden, aber sie können nicht mehr der End-Gültigkeit der Abgrenzung dienen, sie sind Konstruktionen, die auch dekonstruiert werden können. Gitter, Stahl, Erde gibt es weiterhin, aber sie sind nun reversible Elemente, Mittel im Prozess von Verflechtungen, Aufbrüchen und neuern Zusammenstellungen. (Text bis hierher von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.)
Damit kann die Installation als Sinnbild für die Notwendigkeit bezeichnet werden, sich stets anzupassen. Unser Umfeld verändert sich unaufhörlich und stellt immer wieder neue Herausforderungen an unsere Flexibilität. Wir können nur durch Anpassung überleben, durch das Eingehen auf diese Veränderungen und im Annehmen und Integrieren derer. Widerstand ist in Maßen möglich und will gut überlegt sein (vgl. Lk 14,25-35). Wer nicht mitmachen will oder kann, wird ausgegrenzt, was aber nicht automatisch zum eigenen Nachteil sein muss. Inmitten eines starken und manchmal fast überwältigenden Umfeldes tut ein umso stärkerer innerer Halt gut, der Orientierung gibt in allen Veränderungs- und Anpassungsprozessen.
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