Geißelung

Eigentlich ist auf diesem Bild nichts Christliches zu sehen. Allein der Titel „Geißelung“ könnte auf einen vom Künstler beabsichtigten Zusammenhang mit der Geißelung Jesu hinweisen (Mt 27,26-30). Die unscharf dargestellten Gewaltszenen mögen eine Verständnis- brücke bilden.

Das Bild ist in drei Ebenen gegliedert. Die dunklen Farben wie die rechts vom Bildrand eingeschobene Begrenzung verbinden die obere und die untere Darstellung. Oben stellen zwei Polizisten mit Helm und Atemschutz gerade einen Mann mit erhobenen Armen an die Wand. Was er wohl verbrochen hat? Hat er vielleicht etwas mit dem weißen Plakat hinter seinem Kopf zu tun, das zu einer Demonstration gegen die Obrigkeit aufrufen könnte?

Schwarz und gelb eingerahmt, wird in der darunter liegenden – von rechts her eingeschobenen – Szene ein Mann von zwei Polizisten abgeschleppt. Nur die Füße und Beine sind klar zu erkennen. Hatte er den Mut, in einer Kundgebung das Unrecht der Mächtigen anzuklagen?

Links davon schaut eine in Umrissen gemalte kniende Frau den Betrachter an. In ihrer Nacktheit ist sie unseren Blicken bloßgestellt. Die Ehebrecherin kommt mir in den Sinn und die Worte Jesu: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als erster einen Stein auf sie.“ (Joh 8,7).

Wo die Mächtigen sich nicht selbst getrauen, Gewalt auszuüben, da senden sie Soldaten aus, für sie in den Krieg zu ziehen und mit Gewalt ein Land zu erobern oder ein Recht durchzusetzen.

Stellenweise tropft auf dem Bild die Farbe wie Blut herunter. Die einzelnen Szenen sind wie mit dem Pinsel geschlagen, gegeißelt worden. Gewalt und Folterung wurden auf das Bildmaterial übertragen und lassen verstärkt spüren, dass nicht nur körperliche Gewalt den Menschen geißelt, sondern auch ethische Diskriminierung und Machtmissbrauch. Das Leid kennt vielfache Formen.

Das Bild lässt mich nachdenken über die Grausamkeiten der Menschen, die ihre eigenen Rechte und Gesetze durchsetzen wollen. In den Worten des Psalmisten höre ich den Hilferuf der Unterdrückten und Geschlagenen: „Gott, freche Menschen haben sich gegen mich erhoben, die Rotte der Gewalttäter trachtet mir nach dem Leben; doch dich haben sie nicht vor den Augen. Du aber, Herr, bist ein barmherziger und gnädiger Gott, du bist langmütig, reich an Huld und Treue. Wende dich mir zu und sei mir gnädig, gib deinem Knecht wieder Kraft, und hilf dem Sohn deiner Magd.“ (Ps 86,14-16)

Das Bild lässt in mir auch die Frage nach der Gewalt in der Kirche aufsteigen, wo es auch vorkommen kann, dass im Namen Gottes eigene Interessen verteidigt werden. Letztlich stellt das Bild an mich Fragen: Wo marschiere ich mit, klage ich im Kollektiv, ohne zu hinterfragen, Menschen an und mache ich mich mitschuldig? Wo bürde ich Schwächeren – wie auf dem Bild kaum sichtbar – ein Kreuz, eine Last auf durch meine Rechthaberei, mein Beharren auf meinen Rechten, weil ich nicht Toleranz und Erbarmen übe?

Jesus sagt dagegen: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit finden.“ (Mt 5,7)

Mitleid

Vor einem rot-weißen Hintergrund laufen drei Männer auf den Betrachter zu. Sie tragen eine vierte Person. Die grauen Gestalten und die rot eingefärbte irreale Landschaft lassen an eine Kriegsatmosphäre denken. Die Erde ist vom Blut der Ermordeten getränkt, der Himmel brennt im Widerschein der vernichteten Städte. Aus den Menschen ist alle Lebensfarbe und -klarheit gewichen. Übriggeblieben sind schattenhafte, unscharfe Wesen, die um ihr Leben rennen – und um dasjenige, das sie gemeinsam auf den Armen tragen.

Das Bild erinnert an Fotos aus Kriegs- und Katastrophengebieten. Es erinnert an das stets neu auf die Menschen übergreifende Leid durch Menschen- oder Naturgewalt. Die Frage, die Gott an Kain stellt: „Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden“ (Gen 4,10), könnte auch unsere Frage sein. Die Handlung der Männer wie der blutrote Hintergrund wecken in mir Mitleid und Solidarität.

Als Betrachter werde ich auch dadurch angesprochen, dass die drei Männer mit dem Verletzten auf mich zulaufen! Die mittlere Person schaut mich an und ruft mir unhörbar etwas zu. Sie scheinen den Verletzten zu mir aus dem Bild heraus in die Sicherheit reichen zu wollen, damit ich ihre helfende Geste fortführe, sie in ihrer Erschöpfung ablöse … wie auch immer.

Wir brauchen immer wieder solche oder andere Bilder, die uns aus unserer Trägheit und Bequemlichkeit aufrütteln, damit wir den Notleidenden und Armen unter uns nach unseren Möglichkeiten zu Hilfe eilen – so wie Jesus! Was wir ihnen zu Liebe tun in unserem Mitleid ist nicht nur Nächstenliebe, sondern konkret gelebte Gottesliebe. Denn: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) sagt Jesus im letzten Gleichnis vor seinem eigenen Leidensweg.

Narben

Markante schwarze Linien lassen uns auf diesem Bild einen menschlichen Körper wahrnehmen. Sie „zeichnen“ einen Torso, einen Oberkörper ohne Kopf, Beine und Arme. Am unteren Ende des Brustkorbes sind Klammern zu erkennen, mit denen die Arme an den Leib gebunden sein könnten. In der Brustgegend verdichten sich die an einen mäandrierenden Fluss erinnernden Linien zu einer Kreuzform, jedenfalls kann diese Stelle als ein Mensch mit ausgebreiteten Armen gesehen werden.

Der Torso ist zudem transparent, lässt die Sicht frei – oder offenbart – sein Innenleben: eine diagonale Gestalt, halb stehend, halb liegend, von einer starken weißen Linie umgeben. Durch die farbliche Dichte rundherum scheint sie in einer sargähnlichen Vertiefung zu liegen, gleichermaßen wie die schwarze Figur leicht von der Seite dargestellt und auf die einfachste Körperform reduziert. Alle drei Figuren überlagern sich – sie kreuzen sich am gleichen Ort in der Mitte der Brust!

Überall am Torso sind Narben und Nähte zu entdecken – verheilte Verwundungen! Dieser Mensch muss viel Leid erfahren haben, das unter die Haut gegangen ist und unvergessliche Spuren hinterlassen hat. Michael Morgner hat mit der Radierung dafür eine sehr bildhafte Technik verwendet, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit Foltermethoden sehr überzeugend und berührend wirkt. Denn beim Bearbeiten der Metallplatte durch Ritzen, Ätzen, Aufsprengen und Zerfurchen wird sie wie ein Körper „verletzt“ und hinterlässt „Wunden“.

In all den schweren Verletzungen hat sich der Mensch in sich zurückgezogen, die verbleibenden Kräfte sammelnd, alles Zerschlagene zusammenhaltend. Die innere Gestalt in Mumienform lässt daran denken, dass er sich bereits zu den Toten zählt. Dennoch strahlt die „gebündelte“ Gestalt Lebenskraft aus – bewahrt im Innersten und Wesentlichen ihr Selbst – umgeben von einer Linie des Lichts. Wie ein Samenkorn liegt sie still in der „Erde“ des irdischen Leibes (vgl. Joh 12,24f) und harrt auf die Auferweckung nach der Not.

Der Gekreuzigte auf seiner Brust lässt an eine Identifikation mit Jesus denken. Auf ihn schaut er in der Not. Von einem Beter im alten Israel sind diese treffenden Worte überliefert (Ps 38,9.18.22): „Kraftlos bin ich und ganz zerschlagen, ich schreie in der Qual meines Herzens. … Ich bin dem Fallen nahe, mein Leid steht mir immer vor Augen. … Herr, verlaß mich nicht, bleib mir nicht fern, mein Gott! Eile mir zu Hilfe, Herr, du mein Heil.“

Ausgehend vom Rücken des Breuer Christus in der Rast, hat Michael Morgner in vierzehn Bildern versucht, durch die Narben hindurch das vielgestaltige menschliche Leid neu zu thematisieren. Ein Kreuzweg in ganz neuen Bildern ist entstanden. Er erzählt vom Kampf um das Leben und gegen den Schmerz. Er erzählt vom Glauben an Gott und das ewige Leben. Er erzählt gerade durch die Narben von erfahrener Heilung und neuem, geschenkten Leben.

Kreuz und Macht

Bei der ersten Begegnung mit diesem Bild müssen sich unsere Augen  zuerst orientieren. In chaotischen Strichen und Farben ist rechts ein mächtiger Soldat dargestellt, während links ein Mensch unter einem schwarz-grauen Kreuz zu entdecken ist. Es muss sich hier um einen Kreuzweg handeln, vielleicht sogar um jenen von Jesus. Der Bildausschnitt zeigt vom ganzen Weggeschehen nur diese beiden Personen: Es sind keine Schaulustigen zu sehen, es gibt keine Hinweise, ob das Bild als Kreuzwegstation gedacht ist. – Eigenartig, dass der Kreuztragende so klein ist und nicht wie auf anderen Darstellungen im Mittelpunkt dargestellt wird. Spontan kommt mir beim Größenvergleich auch David und Goliath in den Sinn.

Den Maler scheint die Auseinandersetzung zwischen dem Soldat und dem Kreuztragenden bewegt zu haben. Wir kennen viele Bilder von Machtausübung, Gewalt und Ungerechtigkeit aus Fernsehen und Zeitungen, die uns durch ihre Brutalität erschüttern. Dafür ist dieses Ölbild trotz seinen wilden Pinselstrichen bereits zu brav und schön. Wo es aber zu berühren vermag, das ist das Ungleichgewicht zwischen den Protagonisten und den Welten, die sie voneinander trennen.

Auf der rechten Bildhälfte ist raumfüllend ein Soldat gemalt. In seiner Rüstung und dem steil aufgerichteten Speer demonstriert er unbarmherzige, herzlose Macht. Noch sitzend ist er groß, stehend würde sein Oberkörper und Kopf über die obere Bildkante hinausragen. Wie ein Pfau sich mit seinem Rad schmückt, leuchtet der Soldat in allen Farben der von ihm repräsentierten Macht. Grimmig schaut er auf sein Opfer, die Waffe und seine langen schwarzen Finger jederzeit zum Einsatz bereit. An ihm führt kein Weg vorbei, jeglicher Rückweg ist versperrt.

Dem Mensch auf der linken Bildhälfte bleibt nur der Weg nach vorn. Das Kreuz liegt wie ein Pfeil auf seinen Schulter, direkt vom Soldaten ausgehend. Die Macht, der er dient und die er darstellt, hat es ihm aufgebürdet. Vom Mensch ist nicht viel übrig geblieben – nur der Kopf und die langen Beine sind zu sehen. Der Oberkörper scheint im Kreuz aufzugehen – sein Schicksal, das Kreuz, hat sich seiner bemächtigt. Die Füße wollen einen anderen Weg gehen, doch der Wille treibt ihn weiter. Nichts ist zu spüren von der Außerordentlichkeit der Person. Kein Heiligenschein zeichnet ihn als Gottessohn aus. Im Gegenteil. Wie alle Unterdrückten muss er den Weg im Staub dieser Erde gehen – farblos, wie entleert – gedrängt von der Willkür der Machthabenden.

Was gibt ihm die Kraft seinen Weg zu gehen? Im ersten Lied vom Gottesknecht gibt Jesaja folgende Worte Gottes wieder: „Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich mein Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Völkern das Recht. Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. .. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht gegründet hat.“ (42,1-2.4)

Die Kraft des Kreuztragenden liegt außerhalb von ihm. Der Maler hat sie in den hoffnungsvollen und kräftigen Farben dargestellt. Blau steht für den Glauben – in ihm ist dieser Mensch verwurzelt. Grün drückt die Hoffnung aus, das Wachstum, die Zukunft. Und über ihm das helle Licht der Sonne für die Nähe und die erbarmende Liebe Gottes.

So finden sich trotz des Ungleichgewichts der Personen Trost und Zuversicht auf der Seite des Kreuztragenden. Und dieser Trost, dieser Halt, diese Hoffnung steht allen zu, die wie Jesus ein schweres Kreuz zu tragen haben. Die kleine graue Gestalt steht für alle durch menschliche Ungerechtigkeit Kleinge- machten, Verfolgten, Ausgebeuteten, Misshandelten, zu Tode Geplagten. Wenn sie auch wie Jesus von allen „guten Geistern“ verlassen / getrennt worden sind, dürfen wir die Gewissheit haben, dass Gott diese Armen nicht verlässt (vgl. Ps 9).