Durst nach Gott

 

Kreuzwegmeditation von Sr. Edith M. Senn, Kloster Hegne, zum 12. Bild des Kreuzwegs der Migranten

Ich will schauen, hören, aushalten, einfühlen, mitgehen, den letzten Weg mitgehen und in das Leben finden, das stärker ist als der Tod. Der Kreuzweg Jesu ist auch heute in der Welt tausendfach Wirklichkeit.

Gedanken zum Bild und zur Kreuzwegsituation:

Es ist vollbracht. Jesu Schrei vom Kreuz ist der Schrei des ertrinkenden Flüchtlings. Die Schiffsplanken, auf welchen der Migrant liegt,  sind zum Kreuz gefügt. Im Meerschwimmend wirken sie wie ein Rettungsanker, der vor dem Untergehen und Ertrinken Halt geben soll. Doch das täuscht: Der Leib des Flüchtlings ist gekrümmt, vom Verdursten bedroht, von der Hitze versengt, dem Sturm der Wellen ausgeliefert, die Kehle ist vor Angst zugeschnürt, haltlos treibend, wohin? Der Sterbende schreit gegen alle Todesangst an: Mich dürstet. In dieser Bedrohung ist er den Naturgewalten und den Schleusern ausgeliefert, weil kein Hafen im Mittelmeer dem Rettungsschiff Erlaubnis zum Anlegen signalisiert. Wie aktuell ist diese Tatsache gerade in diesen Tagen. Der Migrant schaut dem Tod ausgeliefert hilfesuchend in den Himmel. Kann der Lichtblick zum geöffneten Himmel die Botschaft sein: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist?

Durch Karl Rahners Wort wachse ich immer mehr in die Wahrheit hinein, wie das Geheimnis seines Kreuzweges und seines Sterbens zu verstehen ist: „Das Sterben Jesu am Kreuz sind die Sünden, die Intrigen der Menschen, die Jesus ausgeliefert und getötet haben. Wir sind nicht durch Jesu Tod am Kreuz erlöst, sondern wir sind erlöst, weil Gott vergibt, weil Gott GOTT ist. Am Kreuz wird die vergebende Liebe Gottes sichtbar. Jesus musste nicht sterben, damit Gott vergibt. “

Persönliche Impulse:

  • Der Blick auf das Kreuz kann mir helfen, an die vergebende Liebe Gottes zu glauben, jeden Tag neu.
  • Ich möchte mit J. Sudbrak beten: „Lass meine Liebe hineinwachsen in deine Liebe, meinen Lebensbaum in dein Leben, dass mein Kreuzweg einmünde in den Weg, den du gegangen bist“.
  • Jesu Gebet: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist, ist auch mein Gebet. Vater, ich lege mein Leben in deine Hände, im Vertrauen, dass alle Liebe aufgehoben ist in deiner Liebe. Denn du schenkst uns die Zusage: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt und dich an mein Herz gezogen“. Jeremia 31, 3

Jesus, du sagst zu mir:  „Mir nach, hinauf nach Jerusalem (es hat viele Namen) hinauf ans Kreuz, (es gibt viele Weisen zu sterben) hinüber zum Vater, er ergreift deine Rechte, in Liebe streckt er seine Rechte dir entgegen. Du bist im Schlepptau deiner Vollendung, wenn du deinem Bruder, deiner Schwester die Hände reichst, dann wächst eine Kette ins Ostern. Die Kette muss halten, bis auch der Letztgeborene am jüngsten Tag endgültig ankommt im Ostern“.  Nach Kyrilla Spieker

Alle Bilder des Kreuzwegs der Migranten

 

Seit 2014 ertrinken Monat für Monat etwa 250 Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer (2014-2018 lt. UNHCR 15.562 Personen). „Diese humanitäre, von Menschen und durch politisches Versagen verursachte Katastrophe lässt sich nur schwer in Worte fassen und ist durch nichts zu entschuldigen. Der Bildhauer und Graphiker Joachim Sauter hat sich von diesem Skandal bewegen lassen, als er im Jahr 2016 bei einer Wettbewerbsbeteiligung eine alte kirchliche Gebets- und Meditationsform aufgriff und sie – angereichert durch eigene Erfahrungen in Ostafrika – in diesem Kreuzweg der Migranten aktualisierte. Die Betroffenheit, die diese Kreuzwegstationen auslösen können, ist für uns als Betrachtende zunächst einmal eine Anfrage an unsere humane Solidarität und menschliche Empathie. Darüber hinaus berührt Joachim Sauter durch seine zeitgenössische Umsetzung einer alten christlichen Bildtradition ein zentrales Thema menschlichen Lebens und christlichen Glaubens: Leiden – Tod – Erlösung.“ (Sr. Regina Lehmann / Peter Stengele)

Der Kreuzweg der Migranten war im Frühjahr 2019 im Haus St. Elisabeth im Kloster Hegne ausgestellt.

unsichtbar

Kreuzlos hängt der Mensch an der Wand. Und doch sind sein Körper und seine Haltung durch und durch vom Kreuz gezeichnet. Seine ausgebreiteten Arme, die erhobenen Hände und die unnatürlich nach innen gedrehten Beine und Füße erzählen von der qualvollen Hängung am römischen Folterinstrument. Die Wundmale lassen den Schmerz spüren, das knappe Lendentuch an die Entblößung denken, der er ausgesetzt war, die feine Dornenkrone mag den Spott und die Verhöhnung vergegenwärtigen.

Mit geneigtem Kopf hängt Jesus an der weißen Wand. Er ist als Mensch von heute dargestellt. Sein Gesicht ist nicht idealisiert oder schmerzverzerrt. Ruhig und gefasst hält er den Schmerz aus, erduldet er als Knecht Gottes das ihm zugefügte Leid und trägt damit das Leid aller Menschen. Jetzt und zu jeder Zeit.

In diesem Gekreuzigten können sich alle wiederfinden, denen in irgendeiner Form Leid widerfährt. Denn da ist einer, der mitleidet unter den unzähligen unsichtbaren Kreuzen, die so viele belasten und in den Tod treiben. Kreuze, die sich durch Krankheiten und körperliche Gebrechen im Körper selbst manifestieren. Kreuze, die durch Ungerechtigkeit oder Gewalt jeglicher Form entstehen und das Leben zur Qual machen. Unsichtbar sind sie da, die Freiheit einschränkend, die Lebenskraft und -freude raubend.

Exponiert hängt Jesus da. Verlassen, allein und haltlos mutet er an. Und doch wird er von Dem, der unsichtbar alles und jedes Lebewesen in seinen Händen und seinem Herzen hält, gehalten. Das macht Mut, auf ihn zu schauen, der in der Einsamkeit der Gottverlassenheit dennoch voll und ganz seinem Vater vertraute, als er seinen Geist in dessen Hände legte. Er zeigte uns vorbildlich, dass Gott jeden von uns hält und stützt, auch wenn wir Gott nicht sehen oder spüren.

getroffen – betroffen

Zwölf Dart-Pfeile sind auf eine Figur des Gekreuzigten geworfen worden, neun haben seinen Körper getroffen und „nageln“ ihn auf dem weißen Untergrund fest. Die Pfeile erscheinen im Vergleich größer als die Figur des Gekreuzigten. Übermächtig an Größe und an Zahl dominieren sie das Geschehen – und wären doch nur ein Geschicklichkeitsspiel, wenn sie nicht Jesus als Ziel gehabt hätten.

So wird eine Hinrichtungsart aus der Zeit der Römer ins Zentrum eines harmlosen Wurfspiels unserer Zeit gestellt und eine Grausamkeit geschaffen, bei der man gar nicht richtig hinschauen kann. – Es tut weh, den Leib Jesu von diesen Pfeilen durchbohrt zu sehen, es schmerzt richtig, ihn an Händen, Füssen und anderen Körperstellen getroffen und festgenagelt zu sehen. – Vielleicht braucht es diese Verfremdung und dieses in-einen-neuen-Kontext-Stellen der Kreuzigung Jesu, um durch Gefühle wie Empörung, Entrüstung, Abscheu, etc. Betroffenheit und eine Re-Aktion auszulösen.

Denn „man wirft nicht mit Dartpfeilen auf einen religiösen Gegenstand wie die Figur des gekreuzigten Jesu. So etwas macht man nicht. Das ist pietätlos.“ – Aber trifft es nicht den Kern einer jeden Kreuzigung, einer jeden mutwilligen Tötung von Menschen, dass damit das Recht auf Leben genommen wird, dass damit das 5. Gebot mit Füßen getreten wird, nicht zu töten?

Zwölf rote Pfeile hat der Künstler für seine Arbeit verwendet. Symbolische zwölf, weil diese Menge eine erhabene Zahl darstellt, eine Fülle, die von alters her alles und alle impliziert. Jeder von uns ist durch seine Unvollkommenheit und Fehler ein potentieller Pfeil, der Jesus und mit ihm Gott trifft und verletzt. Die rote Farbe der Flights, wie die kreuzförmigen Flugstabilisatoren der Pfeile heißen, mag als Hinweis auf das leidenschaftliche Engagement gedeutet werden, wenn es um die Verteidigung eigener Meinungen, Rechte oder auch des eigenen Lebens geht. Man sieht dann oft nur noch „rot“ und handelt aus dem Affekt.

Die künstlerische Arbeit lässt darüber nachdenken, mit was für „Pfeilen“ wir um uns schießen. Mit welchen Worten und Haltungen verletzen wir Menschen in unseren Lebensbereichen, nageln wir sie fest und machen wir sie damit vielleicht handlungsunfähig? Denn alles, was wir wie auch immer den Geringsten unter uns zukommen lassen, machen wir für Jesus oder gegen ihn (vgl. Mt 25,40.45) – und treffen ihn damit – wie mit Pfeilen.

An Gott hängen

An einem Balkengerüst hängen drei längliche, menschengroße Körper. Der linke Körper hat die Gestalt eines zusammengerollten, braunen Blattes, während sein Pendant auf der rechten Seite eine Mischung aus einer Muschel und einer Schmetterlingspuppe darstellt. Die Oberflächen beider Körper sind mit großer Sorgfalt gestaltet worden. Beim gerollten Blatt winden sich braune Linien spiralförmig um seinen bronzefarbenen Körper, bei der Muschel oder dem Kokon ist die silbern erscheinende Außenhaut mit einem wunderbar feinen Muster überzogen, während die Innenseite fleischfarben ausgestaltet ist. Damit strahlen die beiden Hüllen trotz ihrer prekären Lage eine natürliche Schönheit und Kostbarkeit aus.

Der mittlere Körper hebt sich in mehrfacher Hinsicht von den beiden äußeren Figuren ab. Zum einen hängt er an einem Strick, während die anderen mit einer Schnur an einem Fleischerhaken hängen. Zum anderen handelt es sich bei diesem Körper eindeutig um eine menschliche Gestalt, die vollständig in ein weißes Tuch eingewickelt einen Leichnam vermuten lässt. An verschiedenen Stellen sind im weißen Leinen rote Flecken erkennbar. Da sie dort sind, wo sich Hände, Füße, Seite und Stirn befinden, weist das durchsickernde Blut auf ein Opfer einer Kreuzigung und noch mehr auf einen mit Dornen Gekrönten hin: Jesus.

Die Balkenkonstruktion lässt auf den ersten Blick an eine ganz normale Hinrichtung durch Erhängen denken. Weil niemand an oder auf das Holzgerüst genagelt ist, tritt die Kreuzform in den Hintergrund bzw. wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. Dadurch kann in dieser erweiterten Kreuzform durch die zwei senkrechten Balken ein Triptychon gesehen werden, das einerseits traditionell Leiden, Tod und Auferstehung Jesu zum Inhalt hat, gleichzeitig aber auch die Kreuzigung Jesu zwischen den beiden Verbrechern rechts und links anklingen lässt.

Die Installation parallelisiert den Kreuzestod Jesu mit anderen Sterberealitäten. Links als Folge des Alters, rechts als Sterbeerfahrungen im Leben jedes Einzelnen, wo immer wieder Wandlungsprozesse wie bei einer Raupe notwendig sind, wenn wichtige Phasen im Leben zu Ende gehen und eine Umorientierung notwendig machen. Oft führt das zu einer Zeit des Rückzugs, einer Abkapselung, während derer die Trauer verarbeitet und (Über-)Lebensstrategien und neuer Lebensmut gefunden werden müssen.

Durch die Radikalität dieser Erfahrungen, die wir nicht steuern oder aufhalten können, sind wir besonders in solchen Situationen, genau wie Jesus, ganz auf Gott angewiesen. Auf ihm ruht unsere Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, das Leben nicht genommen, nur gewandelt wird und eine neue Gestalt erhält.

Der Titel der Arbeit entstammt dem 9. Vers des 63. Psalms, der lautet „Meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich fest.“ Mit diesen Worten bringt der Betende sein Ur-Vertrauen in Gottes Nähe und Kraft zum Ausdruck. Durch den starken Glauben hat sich der Beter wie ein Kind an die Hand seines Vaters gehängt. Und Gottes Hand hält ihn so fest, dass er, was auch geschieht, nie von ihr losgerissen oder verloren gehen wird. – Ob der dicke Strick als „Hand“ Gottes gedeutet werden darf? Der Strick geht ja nicht um den Hals, er hält den eingebundenen Körper in der Schwebe. Die bisherige Gestalt ist bereits verborgen, die Kommende noch nicht sichtbar. – Aber meine Seele hängt an dir, Du mein Gott!

Die Installation war 2015 im Rahmen des Concentration-Projektes in der Dreifaltigkeitskirche in Konstanz zu sehen (Ansicht 1; Ansicht 2). 

Millionenfaches Leid

Durch konzentrisch angeordnete Kreuzreihen wird der Blick auf die liegende, erschlaffte Menschengestalt in der Bildmitte gelenkt. Sie ist heller als das ebenfalls schwarz-weiße Umfeld und anders strukturiert. Ihre Körperhaltung ist unnatürlich, weil sie im Schoß einer erst nach und nach erkennbaren Person liegt: Maria.

Der Leichnam Jesu liegt in ihren Schoß eingesenkt. Hier ist er Mensch geworden, hier trauert Maria um ihren Sohn und das Leben, das ihm genommen worden war. Jesu Kopf und Extremitäten hängen schwer nach unten. Und doch hält Maria ihn mühelos und wird nicht von ihm erdrückt. Sie hebt sich nur durch die feinere Struktur ihres Gewandes und die schwache Silhouette ihrer Gestalt vom Hintergrund ab. So tritt sie gegenüber Jesus zurück und verschwindet nahezu in den konzentrischen Kreisen aus Kreuzen, die von innen nach außen größer werden.

Es sind diese großen und kleinen Kreuze, die neben dem Leichnam Jesu und seiner Mutter Maria das Bild prägen. Nur auf dem Körper von Jesus sind die Kreuze schwarz auf hellem Hintergrund gestaltet. Alle anderen Flächen sind von weißen Kreuzen bedeckt. Wie ein Netz überspannen die digitalisierten Kreuzzeichen Michelangelos Pietà. Nur noch an den Körperhaltungen zu erkennen, ist sie durch die Kreuze verfremdet und in einen weiteren Kontext gestellt worden, um über das Einzelleid von Jesus und Maria hinauszuweisen. Sie erinnern an Soldatenfriedhöfe mit den endlosen Reihen mit weißen Kreuzen. Sie verdeutlichen das millionenfache Leid der Gefallenen und der Trauernden im 1. Weltkrieg, dessen Anfang sich am 28. Juli 2014 zum 100. Male jährte, sie sollen an die Millionen Gefallenen im 2. Weltkrieg erinnern, der mit dem Einmarsch der Nazis in Polen am 1. September vor 75 Jahren seinen katastrophalen Anfang nahm, an den Terroranschlag am 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York, an das aktuelle Zeitgeschehen im Nahen Osten, in dem nicht enden wollende kriegerische Auseinandersetzungen millionenfaches Leid über die Bevölkerung bringen.

Die konzentrisch angeordneten Kreuze bilden keinen Heiligenschein, keine Verherrlichung leuchtet durch sie auf. Vielmehr ziehen sie in die Tiefe, so wie Leid und Tod Betroffenen wie Angehörigen den Boden unter den Füßen entzieht. Doch Maria mit Jesus auf dem Schoß befindet sich wie ein Pfropfen vor diesem Sog. Wie um weiteres Leid zu verhindern. Als Anhaltspunkt, Anker, Trost.

Die Muttergottes hält stellvertretend für alle Mütter ihren Sohn in den Armen. Oder anders gesagt, mit ihm hält sie auch alle anderen gefallenen Söhne und Töchter. Und sie trauert mit allen Müttern (und Vätern) um ihre getöteten Kinder. Auch wenn sie im Bild noch verhüllter erscheint als in der aus Marmor geschlagenen Pietà im Petersdom, ist sie die Mater dolorosa, die Schmerzensmutter, die mit allen leidet, die durch Krieg, Hunger, Krankheit oder welche Ungerechtigkeit auch immer ums Leben kamen.

Der Künstler Thomas Bayrle schreit dieses Leid förmlich in die Welt. Denn während die vatikanische Pietà 174 cm hoch und 195 cm breit ist, hat er seine Pietà aus Kreuzen doppelt so groß werden lassen. Alle Menschen sollen endlich sehen, was so unbegreiflich schwer zu fassen ist. Jeder soll in der erschlagenden Fülle an Kriegsbildern endlich aufmerken … und sein Denken und Handeln überdenken … überlegen, was er dazu beitragen kann, damit das Leid ein Ende findet.

Hilferuf in der Verstrickung

Eine menschliche Figur liegt im Vordergrund, den Blick und den linken Arm nach oben richtend (Totalansicht). Sie ist in seilartige Fäden eingewickelt, verstrickt in einer langen Schnur, die gewunden von einem übergroßen Garnknäuel zu ihr führt. Dieses Seil scheint ihre Freiheit nach und nach eingeschränkt, dann gefesselt und schließlich zu Fall gebracht zu haben. Nun wirkt es, als sei es der Person gerade noch gelungen, den linken Arm zu befreien, um Hilfe vom Himmel zu erflehen.

Bei der Frage nach der Person geben einerseits die Wundmale an Händen und Füßen als auch die Körperhaltung den Hinweis, dass es sich um Jesus handelt, dessen Körper aus einer Kreuzigungsdarstellung (Detailbild) ausgeschnitten und um 90° nach links gedreht aufgeklebt wurde. In liegender Position und umwickelt von dem seilartigen Garn, wirkt sein Körper gefangen und gestrauchelt, aber lebend.

Hinter ihm stehen sich zwei runde Formen gegenüber. Links von seinem Arm befindet sich eine rote Schüssel mit einem Tuch. Es hängt so über den Schüsselrand, dass sein rechter Zipfel nach rechts weist und dort in leicht aufsteigender Linie über die Schnur zum Fadenknäuel führt. Jesu Arm geht mittendurch, gleichsam Freiraum ringend.

In der Grauzeichnung mutet Jesus wie ein Sterbender aus einem antiken Theater an. Dramatisch liegt er darnieder, Kopf und Arm zu einem letzten Hilfeschrei erhoben. Seine Verfolger haben ihn zu Fall gebracht mit all den Fäden, die sie gegen ihn gesponnen haben (vgl. Mt 26,4). Endlich haben sie den unbequemen Störenfried in ihre Gewalt gebracht, bald wird er nicht mehr gegen sie und ihre Verhaltensvorstellungen reden können.

Offensichtlich ein Sieg. Aber die Verbindung zu der durch den Wollknäuel symbolisierten Personengruppe ist nicht gekappt. Auch wenn sie es nicht wollen, werden sie mit ihm verbunden bleiben, ob sie nun aktiv seinen Tod gefordert oder sich wie Pilatus der Verantwortung entziehend die Hände in Unschuld gewaschen haben (Mt 27,14). Die rote Schüssel mit dem Tuch kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Sie verweist aber genauso auf die Fußwaschung vor dem letzten Abendmahl (Joh 13,1-20; vgl. Lk 24,26f), mit der Jesus seinen Jüngern nochmals den Unterschied zwischen Dienen und Herrschen eindrücklich vorgelebt und ersteres als richtungsweisendes Beispiel gegeben hat.

Schließlich soll noch die auffallende rote Farbe der Waschschüssel auf ihre Bedeutung befragt werden. Unwillkürlich lässt sie an das Blut denken, das bei Jesu Folterung und Kreuzigung geflossen ist. Doch in der Chronologie des Geschehens kann sie bei der Fußwaschung zuerst als Zeichen der Liebe, der ganzheitlichen Zuwendung und Hingabe gedeutet werden (Joh, 13,1). Erst mit dem Gebet in Getsemane, bei dem sein Schweiß aus Angst wie Blut zur Erde tropfte (Lk 22,44), erhält die rote Farbe die Bedeutung des Blutes. Und was in Getsemane tropfenförmig seinen Anfang nahm, wird am Kreuz durch den Lanzenstich des Soldaten als Blut und Wasser aus seiner Brust herausfließen (Joh 19,34).

Viele Aspekt der Arbeit verweist so auf die Zeit des Leidens und Sterbens Jesus. Aber ob man das Kunstwerkt ohne die Titelangabe mit Getsemane in Verbindung bringen würde? Jesus ist allein dargestellt, ohne die Jünger. Aber fühlte er sich neben den schlafenden Jüngern nicht auch allein? Auch ist Jesus weder in einem Garten noch in einer traditionellen Gebetshaltung dargestellt. Aber könnte das handgeschöpfte Papier mit seiner faserigen Struktur und dem natürlichen Büttenrand symbolisch nicht für den Garten stehen, der erhobene Kopf, die ausgestreckte Hand für sein Gebet? In dieser freien Leseweise von Jesu Gebet auf dem Ölberg könnten denn die folgenden Psalmverse auch Teil des Gebetes Jesu gewesen sein:

Mich umfingen die Fesseln des Todes
mich erschreckten die Fluten des Verderbens.
In meiner Not rief ich zum Herrn
und schrie zu meinem Gott.
Er griff aus der Höhe herab und fasste mich,
zog mich heraus aus gewaltigen Wassern.
Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich,
denn er hatte an mir Gefallen.
(Ps 18,5.7.17.20)

Entbindung

Der eiförmige Körper ist in zwei Teile auseinandergebrochen, als wäre ihm gerade ein Lebewesen entschlüpft. Dieser Eindruck wird durch die zwischen Öffnung und Deckel am Boden liegenden Binden verstärkt. Nun liegen Schalen und Binden verlassen da. Niemand ist zu sehen. Die hinterlassenen Teile bezeugen jedoch ein Geschehen der Verwundung, der Verwandlung und auch der Offenbarung. Denn was einst verborgen war, ist nun erkennbar, auch wenn niemand zu sehen ist.

Von Verwundungen erzählen die verschiedenen Narben und die blutrote Stelle im Verband. Sie sind offensichtlich zu verschiedenen Zeiten zugefügt worden, denn zwei sind vernarbt, wobei bei der einen noch die Fäden, mit der die Wunde zugenäht worden ist, zu sehen sind, und die blutende Wunde so frisch ist, dass sie durch die Kompresse blutet (weitere Ansicht). Ebenso ist eine sechsstellige blaue Zahl zu sehen. Ob sie auch mit einer Verletzung zu tun hat? Möglich ist es schon, denn nur eine Zahl zu sein oder abgestempelt zu werden ist nichts Angenehmes, auch wenn für uns Zahlencodes auf Eiern sehr vertraut sind.

Doch geht es hier nur um einen geschlüpften Vogel? Die Hohlform gleicht wohl einem Vogelei, ist mit einem Durchmesser von 34 cm allerdings sehr groß. Die wächserne Oberfläche erinnert zudem in Farbe und Aussehen an menschliche Haut. Auch den Verband bringen wir eher mit einem Menschen in Zusammenhang als mit einem Ei.

So sprechen die aufgebrochene Schale und die abgelösten Binden das Thema „Geburt“ an. Das Ei ist verlassen, der Verband teilweise gelöst worden. Letzterer schützte wohl primär den verletzten Körper, verweist sekundär jedoch auf die Ent-Bindung des Kindes von seiner Mutter bei der Geburt. Entbindung meint ja im übertragenen Sinn das Lösen von Bindungen, die neues Leben verhindern.

Spontan mag man an die Auferweckung des Lazarus denken, von dem es in Joh 11,44 heißt: „Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen!“

Auch Jesu Auferstehung wird parallel zu den biblischen Berichten aufgenommen. Die Künstlerin schreibt dazu: „Die leere Hülle zeigt noch die Spuren erlittener Gewalt und entspricht gleichzeitig dem leeren Grab. Die Binden wurden wie beim Leichnam Jesu von außen gelöst. Der Raum, in dem das Leben herangereift ist, wurde gesprengt und verlassen.“ An die Stelle von Dunkelheit und Gefangenschaft sind Licht und Bewegungsfreiheit getreten, weil Gott ihn nicht verlassen hat, weil er Ihm nahe geblieben war.

verBUNDen

Die Holzfigur von Jesus am Kreuz wurde 2011 in der evangelischen Stadtkirche in Tuttlingen im Rahmen der Ausstellung „malhalten“ von der Künstlerin mit weißen Stoffbinden umwickelt. Die Gestalt des Gekreuzigten ist noch deutlich sichtbar, sie befindet sich auch noch am Kreuz und in der gewohnten Umgebung (Ansicht im Kirchenraum). Aber durch den Verband wurde sein geschundener Körper verhüllt und damit den Blicken der Betrachter entzogen. Manch einer mag durch diese Veränderung erschreckt reagieren und vielleicht auch an Blasphemie denken.

Doch die Künstlerin veränderte durch ihre Intervention die Botschaft des Kreuzes nicht. Was nach Verfremdung ausschaut, ist in vielen Kirchen ein traditioneller Brauch während der Fastenzeit. Vor allem in katholischen Regionen werden die Kreuze mit einem violetten Tuch verhüllt, den Blicken der Gläubigen entzogen, damit sie nach dem „Bilderfasten“ das Kreuz und seine Botschaft mit neuen Augen sehen können.

Allerdings hat Margaret Marquardt die Verhüllung variiert, in dem sie dem Kreuz nicht nur ein „Fastentuch“ vorgehängt hat, sondern sich dem Corpus Christi zugewendet hat. Mit den Mullbinden hat sie den „Leib Jesu“ wie einen Verletzten verbunden (Detailansicht). Dadurch, dass kein Körperteil mehr zu sehen ist, erscheint er sogar als Schwerverletzter. Der Körper wird durch den Verband nicht nur geschützt, sondern auch stabilisiert. Die Verbindungen zum und mit dem Kreuz geben ihm wie bei jemandem mit einem Arm- oder Beinbruch zusätzlichen Halt.

Die Stoffbinden erzählen auch, dass sich jemand der Verlassenheit des Gekreuzigten angenommen hat. Durch die Intervention der Künstlerin wurde dem Gekreuzigten Zuwendung und Fürsorge zuteil. Er erhielt ein notdürftiges, sauberes „Kleid“, das seine Blöße bedeckt. Die Hautfarbe ist dem Weiß der Mullbinden gewichen und signalisiert Heilung. Heilung der körperlichen Wunden im Besonderen, doch auch umfassende Heilung aller verletzten Beziehungen. Arnold Stadler schreibt dazu in seinem Buch zur Arbeit von Margaret Marquardt (S.19): „Das Heile ist das Ganze. Verbinden ist immer Heilen. Ein Joint Venture aus Jenseitigem und Diesseitigem, aus Oben und Unten, Göttlichem und Menschlichem, Heilem und Heilungsbedürftigem, von Innen und Außen, hier und dort. Dem Heilsverlangen des Menschen und der ganzen Schöpfung entspricht das Heilsangebot des Kreuzes, das von der Künstlerin gesehen und einbezogen wird in ihr Heilskonzept. Der Lichtstrahl [der vor dem Kreuz vertikal den Kirchraum quert] vergegenwärtigt den Vorrang des Gnadenhaften vor dem Machbaren des Heils und des Heilens. In diesem Licht ist auch der Lichtstrahl zu sehen.“

Als rotes Band flankiert dieser „Lichtstrahl“ die Verhüllung, mit seiner Farbe an das Blut erinnernd, das pulsierende Leben, die Macht der Liebe. Eingespannt als Installation zwischen Kirchendecke und Boden, kommt es doch klar von oben herab, göttliche Verbundenheit mit seinem Sohn und durch ihn mit allen Menschen symbolisierend. Es bringt grundsätzlich den Bund, die Verbundenheit zwischen Gott und den Menschen zur Sprache. Im Zusammenhang mit dem Gekreuzigten wird insbesondere seine Wirkmächtigkeit bei allen Verachteten, Leidenden und Sterbenden sichtbar. (Detailansicht)

Das weiße Verbandsmaterial verweist über das menschliche Erbarmen hinaus auf das Erbarmen Gottes. Er ist und bleibt allen Menschen nahe, selbst in ihrer größten Verlassenheit. Der verbundene Körper verbirgt und offenbart gleichzeitig sein geheimes Wirken. Dies wird auch in der Ähnlichkeit des Verbundenen mit dem Kokon einer Raupe deutlich, in dessen Verborgenheit sie in einen Schmetterling verwandelt wird und sich ihr eine vollständig neue Lebensdimension eröffnet.

So deutet der Verband die anstehende Verwandlung an. Der Körper ist noch da, aber verborgen, nur in einer äußeren Form sichtbar. Der Verbundene stellt gewissermaßen eine Karsamstagsexistenz (vgl. Hans-Ulrich Wiese) dar, die Zeit – und den Zustand – zwischen Tod und Auferstehung charakterisierend, in der das Vergangene verhüllt und das Kommende angedeutet, aber noch nicht offenbar ist.

Dieser Arbeit von Margaret Marquardt hat Arnold Stadler ein Buch gewidmet. Es trägt den Titel: Da steht ein großes JA vor mir. Es ist 2013 im Verlag Jung und Jung erschienen und umfasst 104 Seiten sowie 14 farbige Abbildungen. ISBN-10: 3990270397.

Licht und Schatten

Hellblau, violett bis schwarz manifestieren sich Farbfelder vor dem grauen Hintergrund. Die Farbspuren sind alle leicht nach rechts geneigt. Ihre Ränder sind unscharf, bilden fließende Übergänge. Die dunkleren Farben sind vor allem im mittleren und oberen Bereich anzutreffen.

Die unscharfen Farbfelder lassen keine eindeutigen Zuordnungen an Bekanntes zu. Der Betrachter wird zum Suchenden in den farblichen und „formlichen“ Andeutungen. Es ist etwas da. Doch was ist es? … oder was könnte es sein? Wir tun uns schwer mit dem Vagen, Unsicheren, Unbestimmten, Ungewissen. Dabei vermag schon der hellgraue Hintergrund an Nebel zu erinnern, der zuerst alle Konturen verschwimmen lässt, dann oft ganze Landschaften verschluckt, bevor er sie nach und nach wieder frei gibt.

Bei der hellblauen Form scheint letzteres der Fall zu sein. Sie weckt den Eindruck, aus einer Nebelwand aufzutauchen. Die Gestalt des hellblauen Farbfeldes lässt einen menschlichen Oberkörper wahrnehmen, links und rechts die Arme, die wie bei einem Läufer leicht angewinkelt sind. Dies und die leichte Rechtsneigung wecken den Eindruck, als käme jemand dynamisch auf uns zugelaufen und würde gleich vor uns stehen. Doch kein Kopf ist zu sehen, nur dieser mandelförmige Schatten aus dunklen Senkrechten, der die eben wahrgenommene Gestalt im Brust- und Schulterbereich verdeckt. Jede einzelne Vertikale läuft oben und unten haarfein aus, was ihnen wohl eine Leichtigkeit verleiht, aber nichts von ihrem Unheilvollen nimmt. Ähnlich einer dunklen Gewitterwolke am hellblauen Himmel.

Aber alle Vergleiche bleiben Vermutungen und Möglichkeiten. Das Dargestellte bietet keine Anhaltspunkte für eine letzte Gewissheit. Auch der einzelne schwarze Strich unter dem gefächerten Schatten lässt sich nicht zuordnen. Er erscheint zwar als Spalt, der sich nach einem Schnitt aufgetan hat. Die Öffnung lässt jedoch nichts außer einer undurchdringlichen Dunkelheit sehen.

Die vielen Andeutungen beflügeln unsere Fantasie. Sie lassen uns ganz Unterschiedliches sehen oder besser vermuten, denn sie sind in einer offenen Sprache formuliert. Und dennoch sind alles Spuren, die fragende Rückschlüsse erlauben. Zum Beispiel, ob das helle Blau im Zusammenhang mit dem Himmel gelesen werden darf. Denn dann würde es eine menschliche Gestalt darstellen, die vom Himmel erfüllt oder durchdrungen ist, quasi durch den Himmel auf die Erde gekommen ist. Das Dunkle, das seine Gegenwart überschattet, könnte dann mit dem Leiden des Gottessohnes gedeutet werden, die senkrechte Schnittöffnung mit dem Lanzenstich in seine Brust am Kreuz.

Genauso ist es möglich, dass Sie etwas ganz Anderes sehen. Dann lassen Sie sich nicht irritieren. Das ist gut so. Glauben ist das eine, Glaubensansichten sind das andere.

 

Riech Gott

steig mir in die Nase, Gott,
aus deinem Wort,
im Blick jetzt, durch die Augenlider, entzünde sie, schlag auf,
Geist, weh dich her, durchzieh die Seele,
ein leichtes Kitzeln des Herzens
(tausendmal feiner als Fräulein Smillas Gespür für den Schnee),
dass ich dich erschnüffle,
dass ich aufspring, in der Luft steh, mitten am Mittag in München,
im Marienplatzton unter den Menschen.
in so einem Duft.
ich höre die Angelusglocken, die stimme für uns,
und ich riech dich, den ohne Geruch, den Unbemerkten.
steig mir in die Nase,
durch ihre Kanäle, in ihren Fasern zu Kopf,
ins Denken, Erkennen, zum Lieben.

 

Aus: Josef Roßmaier, Es könnte ja sein, Fink Verlag 2012, 128 Seiten, Euro 12,80, S. 20,
ISBN 978-3898707794

Bezwingbar?

Ein ungewöhnliches Zusammentreffen: die feingliedrige Gestalt des Gekreuzigten inmitten dieser Schraubzwingen. Beide Akteure sind uns aus anderem Umfeld gut bekannt. Der geschnitzte Jesuskorpus hängt normalerweise an einem Kreuz in den Wohnungen. Die Schraubzwingen werden in Werkstätten zum Zusammenhalten oder –pressen von Holz, Metall etc. verwendet.

Für diese Arbeit wurden sie in eine neutrale Umgebung versetzt und geringfügig zweckentfremdet. Der Jesuskorpus schwebt losgelöst vom Kreuz in der Waagrechten, fast möchte man an eine Grablegung denken. Die sieben Schraubzwingen umgeben den Korpus wie ein Zwinger. Sie umschließen ihn wie ein Gitterkäfig, halten ihn wie Fesseln, foltern ihn mit Druck und Gewicht. Dabei sind fünf Schraubzwingen an seinem Körper angesetzt, zwei von ihnen dienen der Stabilisierung.

Was für ein Gegensatz: Zerbrechliches Naturmaterial zwischen den Metallzwingen, bei denen sich der Druck stufenlos erhöhen und halten lässt. Sinnbild für den zerbrechlichen Menschen, der durch Machtinstrumente anderer Menschen in grausame Bedrängnis gekommen ist. Die Schraubzwingen stehen für alles, was sich an uns festgemacht hat, an uns angesetzt worden ist und wie auch immer Druck auf uns ausübt. Wer schon mal Schraubzwingen in der Hand gehabt hat, weiß, wie fest sie angezogen werden müssen, damit sie halten und nicht herunterfallen, wie schwer sie gerade an feinen Gegenständen zu befestigen sind.

Die Aufgabe der Schraubzwingen ist es Druck auszuüben, etwas so in eine Position zu zwingen, dass es kein Auskommen mehr gibt. Bei zu viel Druck gibt es nicht nur Druckstellen, der eingeklemmte Gegenstand zersplittert und zerbricht. Bei dieser Installation scheinen die Druckverhältnisse ausgeglichen. Die Jesusfigur wird von den Schraubzwingen so gehalten, dass nichts an ihr zerbricht. Damit vermag die Installation daran zu erinnern, dass Jesus bei der Kreuzigung die Beine nicht gebrochen wurden, weil er schon tot war (Joh 19,33).

Gleichzeitig ist in der Übermacht dieser martialischen Folterinstrumente seine Ohnmacht zu spüren, sein ausharrendes Leiden in dieser ausweglosen Situation. Während er den Kopf leicht gebeugt hält, umgeben die Zwingen den geradezu kleinen Holzkorpus hart und stetig. In der schwarzen Farbe schwingt das Dunkle des Bösen mit, das glänzende Metall erinnert an Rüstungen, die roten Griffe an das Teuflische in den Handlungen derer, die so etwas machen, an das Leid, das sie bereiten, das Blut, das sie vergießen.

Aus ihnen spricht die Macht, den Jesuskorpus wie ein Streichholz zu knicken. Doch der mit ausgestreckten Armen Daliegende stemmt sich ihnen mit der in ihm ruhenden Kraft entgegen. Diese unsichtbar in ihm gegenwärtige Kraft gibt ihm den inneren Halt, allen Bedrohungen und Zwängen standzuhalten und sie auszuhalten. Die Installation lässt spüren: die Gegner sind vielleicht mächtig, sie bedrängen Jesus sehr, aber bezwingen werden sie ihn nie.

Unterm Kreuz

Mächtig durchqueren die beiden Kreuzbalken das quadratische Bildformat. Sie durchkreuzen es geradezu, so als sollten sie kundtun: No way – kein Durchkommen hier. Dabei sind sie ganz leicht gemalt, fast Ton in Ton mit dem Hintergrund. Auch die Kanten des Kreuzes sind oftmals mehr angedeutet als sichtbar. So erscheint es nicht wirklich schwer und doch ist das ungeheure Gewicht in den intensiver werdenden Farben und der Verdichtung der Striche in der unteren Bildhälfte zu spüren.

Der andere Strichduktus lässt vage Gestalten und Gesichter wahrnehmen. Auf der linken Seite sind die Umrisse eines größeren Kopfes und seiner Haare auszumachen. Man mag an einen geneigten Jesuskopf denken. Allerdings bleibt die Gesichtspartie leer bzw. erscheint sie wie von heftigen diagonalen Strichen zerstört. Dafür tauchen darunter geradezu verstörend fratzenhafte Gesichter mit starrem Blick aus der Dunkelheit auf. Hinzu kommt, dass von rechts her ein diabolisches Ziegenkopfgesicht mit weit geöffneten Augen auf dieses traumhafte Geschehen im gerade erwähnten Kopf blickt. Zwischen den beiden Köpfen vermag man zeitweise auch den Kopf und den Oberkörper eines Jugendlichen zu sehen, wenn sich sein Kopf bei längerem Hinschauen nicht wie bei einem Vexierbild in das rechte Auge eines noch größeren Gesichtes verwandelt, das oben durch zwei angedeutete Hände, die aber genauso gut Haarsträhnen sein können, begrenzt wird.

„Was ist hier los? Was geht hier vor?“, mag der eine oder andere sich erschreckt fragen. Auf diese Weise mitten in das Geschehen unter dem Kreuz hineingezogen, meint man in den intensiven Farben den fieberhaften Zustand und die Anstrengung des unter dem Kreuz Leidenden zu spüren. In den vielen Gesichtern werden seine Ängste, seine Auseinandersetzungen und Versuchungen sichtbar. Hier werden dem Betrachter auf subtile Art und Weise die psychischen Leiden des zum Tode Verurteilten bewusst gemacht. Die bedrängende Nähe all dieser Geister ist schrecklich. Offensichtlich gibt es kein Entrinnen, keinen Ausweg. Zwar taucht immer wieder der auf den Leidenden zulaufende Jugendliche auf, aber er kommt gegen die Übermacht des Bösen nicht an. Nach kurzer Zeit entschwindet er wieder den Blicken des Betrachters und man fühlt sich wieder in die Not des unter dem Kreuz Gefangenen zurückgeworfen. Ein nicht enden wollender Albtraum.

Sehnsucht nach Hoffnung mag sich breit machen. Überm Kreuz ist das Bild lichter und wie ein Halluzinierender meint man weitere Gesichter zu erkennen, freundlichere, und einen Lichtstreifen am Horizont. Aber gehören die Gesichter tatsächlich zu Hilfe eilenden Engeln? Ist das Licht ein wahrer Hoffnungsschimmer? Oder gaukelt die irrelaufende Fantasie des Gefolterten ihm all das vor, um wenigstens einen Funken Hoffnung zu haben, dass er in dieser ausweglosen Bedrängnis nicht ganz allein ist?

Dann, irgendwann, vielleicht auch schon früher, die Wahrnehmung eines noch ganz anderen Gesichtes im Kopf des Leidenden. Es zeigt sich von der Seite. Mehr oder weniger auf der unteren Kante des nach rechts aufsteigenden Kreuzbalkens (ein Symbol des aufstrebenden Lebens) lässt sich das Profil eines Gesichtes erkennen: die Stirn geht in einem Bogen in die Nase über, weiter unten die geschlossenen Lippen, ein Kinn. Die Augen sind nur ein Strich. Eine Ruhe geht von ihm aus … wie bei einem Schlafenden. Ganz in sich gekehrt, eins mit dem Kreuz, strahlt dieses Gesicht eine innere Kraft aus, die von außen gar nichts berühren, geschweige denn zerstören kann. Stark istdiese totale körperliche Auslieferung, noch stärker die das Leiden und den nahen Tod überwindende geistige Kraft, die der selige Ausdruck dieses Gesichtes ausstrahlt.

Wunden und Heilung

Spannungsvoll fügen sich die beiden langformatigen Arbeiten in den barocken Kirchenraum ein. Nahezu monochrom und rechteckig hart stehen sie im Kontrast zu den verspielten Farben und Formen der barocken Altäre. Andererseits integrieren sie sich durch Parallelen zur Länge der Kirche oder der Höhe ihrer Fenster. Vermittelnd befinden sie sich zwischen Chorraum und Kirchenschiff, ganz in der Tradition, die Botschaft von Leben, Tod und Auferstehung Jesu zu den Menschen zu tragen. Einander gegenüber positioniert erzeugen sie ein dialogisches Spannungsfeld, vor dem der Betrachter steht und in das er sich hineinziehen lassen kann.

Ein Betrachtungsraum, der unaufdringlich vom Kreuz geprägt ist und in seiner zurückhaltenden Sprache doch berührt und zur Auseinandersetzung mit existenziellen Lebenserfahrungen einlädt. In der roten Vertikalen mit den Verletzungen und offenen Wunden, die oft mit Leid, Blutvergießen und himmelschreiendem, da geradezu unerträglichem Schmerz verbunden sind. In der weißen Horizontalen mit einem Ruhe und Erlösung verheißenden, bergenden und von Licht durchfluteten Grab- und Heilsraum.

So stellt Margaret Marquardt „einander Hingabe und Erlösung, Kreuz und Heil, Tod und Leben, Sterben und Auferstehen, Vergießen und Hüllen gegenüber und bringt mit den beiden Arbeiten die Vertikale und die Horizontale des Kreuzes in Beziehung, die das Leid annimmt und heilend überwindet.“ Thematisch reihen sich die beiden Arbeiten damit in die kirchliche Grundausrichtung, „Kranke, Verletzte, Verwundete zu besuchen, Wunden zu versorgen, Leidenden beizustehen und zu heilen. Jesus selbst hat sich den Wunden, den Verletzungen der Menschen seiner Zeit gestellt, ist uns mit gutem Beispiel vorangegangen, hat sich persönlich und unmittelbar jedem Kranken gewidmet, ihn gefragt: „was willst du, das ich dir tue?“ und ihn geheilt. Er hat vom barmherzigen Samariter erzählt und das über ihn verhängte Urteil angenommen.“ (Engelbert Paulus)

In neuer Sprache bringen die beiden Arbeiten somit etwas zum Ausdruck, das uns alle bewegt. Die verwendeten Mullbinden oder Gazen verstärken die Erinnerung an Verletzungen und Verwundungen, die auf Grund ihrer Schwere verbunden werden mussten, geschützt und gepflegt, um den Heilungsprozess zu ermöglichen und zu unterstützen. Aus der roten Installation (Detailbild) sind durch die dreiteilige Anordnung auch Nachdrücklichkeit und der Ernst der Lage herauszulesen. Sie dokumentiert die noch frische Verwundung, bei der der Blutfluss den Verband durchtränkt und der Kampf um das Leben zu spüren ist. Wie die Arbeit an die Wand angelehnt ist, drückt sie zudem die mit Verletzungen einhergehende Erschöpfung und das Bedürfnis aus, sich anlehnen zu können und Hilfe zu erfahren, um bestehen zu können.

Eine ganz andere Atmosphäre entfaltet sich in der weißen Installation (Detailbild). Weite breitet sich hier aus, ein fortgeschrittener Genesungsvorgang ist zu spüren. Das Blut ist gestillt, die Wunden sind verbunden, Heilung ist im Gange – Auferstehung zu neuem Leben (Detailbild). In den Schichtungen des Verbandes kommt auch der Zeitfaktor zur Geltung. Die geduldige Pflege braucht ihre Zeit, ebenso die Heilung. Weiter erinnert die Beleuchtung von hinten, dass diese Heilung von innen heraus geschieht und geschehen muss.

So laden die Arbeiten zur Einkehr und Besinnung auf körperliche und seelische Verwundungen ein. Zu einem Verhalten, das dem der Verletzten und Verwundeten ähnlich ist, die still halten, um den Schmerz gering zu halten, aber auch, um von lieben Mitmenschen richtig versorgt werden zu können. In der Kirche ist es ein Innehalten, um der vielfältigen Verwundungen bewusst zu werden – und sie Gott hinzuhalten, damit er heilend auf sie schaue und mit seiner Liebe von innen heraus schließe.

Betrachtungen von Diakon Engelbert Paulus (Pressetexte)

Aufschrei

Es gibt Kunstwerke, vor denen man einfach stehen bleiben muss. Sei es wegen ihrer Schönheit, ihrer Ausstrahlung oder ihrer Eigenartigkeit. Diese vorliegende Arbeit gehört meines . Erachtens. zu den Letzteren. Ein Kleidungsstück, ein alter Unterrock wurde leicht nach links verschoben mittig auf das Papier gebracht und so ausgebreitet, dass ein dreifacher ovaler Kreis entstanden ist. Während der Stoff in der Mitte relativ flach aufliegt, sind die äußeren beiden Stoffkreise angekraust und durch weiße Bänder gehalten. Dadurch erhält das zentrale Geschehen eine Ausstrahlung. (Detailbild)

Ein braunes Band hält die Mitte zusammen und bildet nun eine T-Form mit zwei fast unscheinbaren Öffnungen. Unter dem Stoff sind in der Mitte, dann unter dem inneren weißen Band, nach unten auslaufend und nach oben ein Medaillon bildend kreisförmige Zellen auf das Papier gemalt worden. Was sie wohl zu bedeuten haben? Ob sie in freier Form an die Zellteilung erinnern wollen, an die Entstehung eines neuen Lebewesens und seinen verübergehenden Wohnsitz unter diesem Rock? Die kleine Öffnung in der Mitte und die Doppelschnur unten links mögen die Vermutung unterstützen, führt die Schnur doch wie eine abgetrennte Nabelschnur von der leicht eingeschobenen Ovalseite weg. Hier werden Mutter und Kind thematisiert, Geburt und Erscheinen in der Welt.

Die Doppelschnur bildet gleichzeitig den unteren Abschluss von drei mit Bleistift weit auseinander geschriebenen Worten: „Don’t swallow Me!“ Zu deutsch: „Verschluck mich nicht!“ Als müssten sie diese Worte dramatisch unterstützen, sind auf die andere Rockseite zwei geradezu unendlich lange Arme gemalt, die hilfesuchende Hände weit nach oben strecken, geradezu in den mit weißen Pinselstrichen angedeuteten Himmel hinein (Detailbild). In ihrer roten Einfärbung äußern sie einen langen und furchtbaren Hilfeschrei. In welcher Verlorenheit und Verdrängung muss sich dieser Mensch befinden, dass er sich an der Mutter vorbei derart nach Freiheit – und die weiße Farbe deutet auch Reinheit und Unschuld an – sehnt? Was ist da an Unterdrückung geschehen, dass die Hände und Arme so blutig rot sind?

Der das Bild beherrschende Frauenrock schweigt in majestätischer Dominanz und Reinheit, verdeckt so gut wie möglich, was unter ihm geschehen ist. Aber das Vergangene kann nicht verborgen bleiben. Als reales Geschehen prägt es die Betroffenen und hat Auswirkung auf ihre Umwelt.

„Verschluck mich nicht!“ ist der bittende Protestschrei des Kleinen, die Auflehnung des Machtlosen gegen das vereinnahmende Handeln der Mächtigen. Hier lehnt sich die Künstlerin gegen ihre längst verstorbene Mutter auf, aber das Geschehen kann sich in gleicher Weise wiederholen in allen zwischenmenschlichen Beziehungen, sei es in der Partnerschaft, der Familie, in Gesellschaft Politik, Wirtschaft oder der Rechtsprechung. Die Arbeit erinnert letztlich, dass es viel, viel schwerer ist, den Mitmenschen als gleichberechtigtes Wesen zu achten und zu behandeln, als sich auf seine Kosten zu profilieren. Auch wenn dies unbewusst geschieht. Die Arbeit zeigt zudem, dass Gerechtigkeit nicht einfach so geschieht, sondern immer einer Anstrengung bedarf, eines Einsatzes für den Schwächeren, der auch Wiedergutmachung nach geschehenem Unrecht beinhalten muss.

> Website der Galerie Karsten Greve in Köln