Wahrheit

Drei unterschiedliche Elemente bilden ein erzählerisches Ensemble. Die Abbildung der Stoffe und Perlen in der linken Arbeit, die Proportionen und Umrisse der beiden anderen Arbeiten weisen in dem modernen Bilderrätsel auf eine weibliche Hauptdarstellerin hin. Dabei verbindet die hellblaue Farbe die linken beiden formal, die lichte Farbigkeit die äußeren beiden Arbeiten.

Ungewöhnlich ist die Ausweitung der blauen Stoffelemente in der Fotografie durch das Anfügen von seitlichen Flächen. Dadurch wächst die rechteckige Fotografie in den Raum und es können in den blauen Flächen Ärmel eines größeren Gewandes gesehen werden.  Der Bildausschnitt von vorne spielt mit der Gesamtansicht von hinten der mittleren Figur und der kleinen Gesamtansicht in der Mitte der Fotografie. Im Zentrum dieses rechteckigen Ausschnitts wird – umspielt von den Perlen eines Rosenkranzes – in einem kleinen Medaillon auf Maria hingewiesen. Als gläubige Frau hat sie uneingeschränkt JA zu Gott gesagt (Lk 1,38) und dadurch die Wahrheit erfahren, dass Gott zu seinem Wort steht und er als Schöpfer der Welt durch einen Menschen Mensch geworden ist.

So wie sich Gott „entäußert“ (Phil 2,7) hat, um Mensch zu werden, scheint die rechte Figur darauf hinzuweisen, dass sich auch der Mensch „entäußern“ muss, wenn Gott in seinem Leben Platz haben und groß werden soll. Die Frauenfigur auf Zehenspitzen und mit erhobenen Armen zeigt sich im Profil  beim Entkleiden ihres Obergewandes. Sie zieht alles Überflüssige aus, entledigt sich ihrer Kleider, kehrt das Innere nach außen oder macht es zumindest sichtbar. Es ist, als wolle sie im Gegensatz zum Artefakt ganz links sagen, dass die Wahrheit nicht in äußeren Dingen und Symbolen liegt, sondern im Innern, im Herzen verborgen. Weil bei Gott nicht die Äußerlichkeiten zählen, sondern die innere Haltung.

Die beiden Gipsfiguren sind in genähten Stoffbeuteln gegossen worden. Die textile Prägung ist ihnen nach dem Entfernen der Stoffe auf der Oberfläche geblieben. Wie auch immer wir uns Gottes Wahrheit öffnen, die Silhouette und der textile Abdruck weisen darauf hin, dass wir erdgebundene Menschen bleiben. Wohl dem, der sich entsprechend demütig verhält, sich klein macht, gering schätzt. So wie Maria. Wo wir – wie sie – unsere Menschlichkeit von Gottes Wort durchdringen und prägen lassen, wird sich uns eine Wahrheit offenbaren, die im Glauben alles irdische Erkennen übersteigen und damit das Verborgene sichtbar machen wird.

Die Arbeit von Andrea Hess war für den Kunstpreis der Erzdiözese Freiburg 2019 nominiert und im Rahmen der Ausstellung WAS IST WAHR an verschiedenen Orten Deutschlands zu sehen (siehe Ausstellungshinweise). Der Katalog zum Kunstpreis ist beim Mondo Verlag erhältlich.

Mystische Präsenz

Eine hölzerne Spindelform hängt mittig über einem tiefblauen Kreisrund. Spannungsvoll sind mehrere Gegensätze inszeniert: das hängende Längliche über dem flachen Liegenden, das helle Glatte schwebt über der dunkel aufgerauten Oberfläche der Erdschollen, die vergoldete Spitze bildet einen kraftvollen Höhepunkt gegenüber der tiefblauen Fläche unter ihr.

Die einzelnen Elemente als auch ihre Interaktionen bringen vieles zur Sprache. Das Bodenrund lässt durch seine Position an Wasser und das Meer denken, seine intensive blaue Farbe bringt zudem die unendliche Weite des Weltalls ins Spiel, die runde Form wiederum mag an Bilder aus dem Weltall erinnern, die unsere Erde als einen blau leuchtenden Planeten zeigen. Durch seine außerordentliche Farbintensität und die Kreisform wirkt das Bodenelement transzendierend.

Das zentrierende und erhebende Element in der Installation ist die Holzspindel. Ihr Material erinnert an den Kreislauf des Wachsens und Vergehens von allem Irdischen. Sein runder Querschnitt nimmt den Bodenkreis auf, die beiden spitzen Enden bilden eine vertikale Achse, die oben vom Seil fortgesetzt wird und nach unten auf die unsichtbare Mitte des Bodenkreises weist. Die absolut symmetrische und gleichmäßige Form im Längen-Breiten-Verhältnis von etwa 3:1 gibt dem Holzobjekt eine schlichte Schönheit. Zusammen mit dem leicht schwingenden Schwebezustand und der „Krönung“ mit einer Schicht Blattgold schaffen sie eine überirdische Präsenz, die durch eine unsichtbare Kraft von Oben gehalten wird und besonders ausgezeichnet wurde.

Damit ist die Installation offen für tiefergehende Deutungen. Unter anderem kann die Spindelform als stilisiertes Zeichen der Offenbarung Gottes – wie es der Mandorla zugeschrieben wird – gesehen werden. Hier ist es eine dreidimensionale Mandorla – nicht aus ungeschaffenem Licht – sondern aus irdischem Holz, entrückt und doch von oben gegeben als Tor zum Himmel. Die schlichte und makellose Erscheinung mit ein wenig Blattgold vermag damit symbolisch auf Maria und ihre Aufnahme in den Himmel und ihre Krönung hinzuweisen. Sie ist die Stella maris, der helle Stern über dem Meer, der allen auf dem „Meer des Lebens“ die richtige Richtung weist. Das Blau des Erdhügels kann sich auch auf den über der ganzen Erde ausgebreiteten Mantel Mariens beziehen, den sie wie in Kirchenliedern besungen über der ganzen Christenheit zum Schutz vor Gefahren ausbreiten soll.

Die Spindelform könnte auch ein Symbol für Jesus sein, der für uns Mensch geworden ist, damit wir durch ihn zum Vater finden. Er ist erhöht worden, damit alle zu ihm aufschauen und durch ihn gerettet werden.

Nicht zuletzt lädt die Installation zur Meditation ein, zum Ruhig-Werden mit und in all unseren Bewegungen. Sie lädt mich ein – und in dem Fall wird das Pendel zu einem Symbol für jeden von uns – mich immer wieder neu auf die geheimnisvolle Gegenwart Gottes in mir einzupendeln, in Einklang zu kommen mit Ihm, damit Er auch durch mich in der Jetzt-Zeit Gutes bewirken kann.

Die Installation war 2018 im Rahmen der Ausstellung Maria ImPuls der Zeit zum Fest Maria Himmelfahrt in Warendorf zu sehen. 

Heiliger (Frei-)Raum

Auf der Wiese neben der Michaelskirche in Gräfelfing bei München wurde mit Baumscheiben aus einem Pappelstamm ein großes lateinisches Kreuz ausgelegt. 13 x 3 Schreiben in der Länge, 9 x 3 Scheiben in der Breite. Seine Ausrichtung ist geostet. Dadurch liegt es nicht parallel zu den Grundstückgrenzen, sondern quer. So wird das Kreuz mit der aufgehenden Sonne verbunden und vermag auf eine andere, unsichtbare Wirklichkeit zu verweisen.

Die dünnen Baumscheiben künden zuerst aber von einem Baum, der über Jahrzehnte gelebt hat. In der Erde verwurzelt hat er seinen Halt gefunden, um hoch in den Himmel zu wachsen. Nun liegt sein Stamm in Scheiben geschnitten und als Kreuz ausgebreitet auf der Wiese, auf dem Boden. Man könnte meinen, dass alles Leben aus dem Holz gewichen ist und das Scheibenfeldkreuz nur noch vom Tod des einst stolzen Baumes und von den Qualen des Zersägens zu erzählen vermag.

Doch das Zusammenwirken von Erde und Himmel auf die sich im Zwischenraum Befindlichen geht weiter. Von der Erde stieg kontinuierlich die kühle Feuchtigkeit ins Holz, während vom Himmel abwechselnd Licht, mehr oder weniger große Wärme und Regen auf die Holzscheiben einwirkten. Zuerst wurde die Ringspannung so groß, dass eine Scheibe nach der anderen bis in die Mitte barst und einen V-förmigen Ausschnitt freigab. Dann begannen sich die Scheiben zu verbiegen und zu verformen. So kam neues Leben in das Holz. Es wurde gleichsam von außen dazu bewegt. Spielerisch, ohne menschliches Zutun. Sie erwecken den Eindruck eines Tanzes, als würden sie sich drehen.

Allerdings sind auch diese spannungsvollen Bewegungen begrenzt und vergänglich. Denn eines Tages werden die Scheiben entfernt und es wird nur die Zeichnung des Kreuzes im Gras übrigbleiben: gelblich weiße Grashalme, die nach Licht hungern. Und es wird wieder eine Weile dauern, dann werden auch diese Markierungen nur noch Erinnerung sein, weil wieder Gras darüber gewachsen ist.

Das mit Baumscheiben markierte Kreuz eröffnet somit einen Freiraum, der anschaulich anregt, über das Leben und die jeder Zeit eigene Schönheit nachzudenken. In den Bewegungen des Wachsens und Vergehens wird die Vergänglichkeit sichtbar und in ihrer Einzigartigkeit kostbar und schön. Unsichtbar vermag die Kreuzform zudem auf die Kraft von Glaube, Hoffnung und Liebe in unserm Leben hinzuweisen: auf die göttlichen Ressourcen, in allen Situationen des Lebens das Gute und damit das Heilige zu suchen und darin zu bestehen. Über die Zeit und die Vergänglichkeit hinaus … in IHM … und in Ewigkeit.

Diese Arbeit 2018 ist im Rahmen der Ausstellung Glaube – Hoffnung – Liebe. Kunst an sakralen Orten bei der Michaelskirche in Gräfelfing bei München entstanden. Hier finden Sie umfassende Informationen zur Ausstellung.

Niemand wird sie benutzen – oder doch?

Buch um Buch stapeln sich über 130 Bibeln in schwindelerregende Höhe. Jedes Buch liegt leicht versetzt über dem anderen, so dass sich eine dynamische Treppe ergibt, die zuerst nach hinten, dann nach links oben führt, um dann noch weiter nach hinten anzusteigen.

Von verschiedenen Seiten gesehen ist es ein sehr schiefer Turm, der sich in die Höhe schraubt. Er gleicht einer suchenden Bewegung, die sich mal nach links, dann wieder nach rechts in die Höhe wagt. Symbolisch steht die Bücherskulptur für den Menschen in seiner Gottessuche. Die Büchertreppe hat kein Zwischenpodest, auf dem zwischendurch eine Pause eingelegt werden könnte. Schritt um Schritt geht es weiter. Ohne Geländer, ohne Absturzsicherung. Was für ein Wagnis! Was braucht es für einen Glauben, sich auf so einen Weg einzulassen und zu hoffen, dass er trägt und vor allem nicht ins nirgendwo, sondern zu Gott führt.

Die Installation von Jochen Höller führt vor Augen, dass das Wort Gottes eine Stiege zum Himmel, zu Gott selbst ist. Das Wort Gottes ist eine Tritthilfe in ungeahnte Höhen und göttliche Welten. Es hilft sich zu erheben, Gott zu suchen und ihm zu vertrauen. Es hilft, sich auf den Weg zu machen.

Die Arbeit führt aber auch vor Augen, dass niemand diese Bibeln, die bislang schon nicht benutzt worden sind, benutzen wird. Ins Kunstwerk integriert, können sie nicht mehr geöffnet werden. Doch die Bibel muss ein offenes Buch sein, sonst kann Gottes Wort nicht lebendig werden. Die Bibel muss ein offenes Buch sein, damit Gottes Wort wirken kann, damit die göttliche Weisung zu den Menschen gelangen kann, damit die Menschen nicht nur menschlich miteinander umgehen, sondern göttlich.

Durch ihre Dynamik und Symbolkraft passt die Skulptur wunderbar in die 2004 von den Architekten Ulrich und Ilse Maria Königs in Burgweinting erbaute Kirche, „die sich öffnet zum Himmel und Geborgenheit gibt auf Erden”.

Jochen Höller hat mit der Skulptur seiner Himmelsleiter Mitte Mai 2018 beim Wettbewerb des Katholischen Bibelwerks Austria gemeinsam mit dem Bibelwerk Linz „Transformiert statt ausrangiert“ den 1. Preis gewonnen! “Die Schlichtheit und die spirituelle Gesamtaussage des Kunstwerks sowie die Professionalität der Umsetzung haben die Jury überzeugt”, heißt es in der Begründung.

Die Bücherskulptur war im Sommer 2018 in der Katholischen Kirche St. Franziskus in Regensburg-Burgweinting installiert.

Sich in den Frieden retten

Bilderrätsel haben es so an sich, dass ihre Elemente für den Betrachter nur Vermittler zur wesentlichen Botschaft sind. Diese ist unter den Zeichen verborgen und wird erst durch das Enträtseln des Symbols sichtbar.

In der vorliegenden Arbeit bildet der Bildausschnitt eines wie zufällig unter einem Fluchtwegschild an die Wand gelehnten Blindenstocks den Anreiz, dem Bildrätsel nachzugehen und die eigenartige Erscheinung zu ergründen. Zuerst mag auffallen, dass die Zeichen auf dem Schild verändert worden sind. Anstelle des rechteckigen Symbols für die Tür ins Freie hat der Künstler das Symbol für “peace” – Frieden gesetzt. Die Botschaft des Schildes heißt jetzt in etwa “Suche den Frieden” oder “Dein Fluchtweg ist der Frieden”, “Rette dich in den Frieden”.

Dass diese Suche des Friedens, dieses aus den mit Unfrieden angezündeten und brennenden Häusern, Räumen und Gemeinschaften Flüchten nicht so einfach ist wie auf dem Schild dargestellt, darauf weist der Blindenstock hin. Der Friede ist da, doch wie Blinde sehen wir ihn meistens nicht. Wir vermögen ihn oft nicht zu erkennen und suchen ihn wie Blinde mit den verschiedensten Hilfsmitteln, vor allem in Notsituationen, eben wenn Unfrieden im Haus ist und sein zerstörerisches Unwesen treibt.

Und doch ist der Frieden so nah. Er könnte bei mir beginnen. Es liegt in meiner Hand, es gehört zu meinem Vermögen, Frieden zu stiften. Ja, ich kann Friedensstifter sein, doch gleichzeitig ist es schwer, den Frieden zu bewahren und nach einem Bruch wiederherzustellen. Er ist so zerbrechlich …, gerade bei großer Unzufriedenheit und starken Zerwürfnissen scheint der Frieden oft eine Sehnsucht zu bleiben. Und obwohl die Sehnsucht nach Frieden grenzenlos ist, obwohl man ihn sich wie nichts anderes wünscht, tappt man bei der Suche oft im Dunkeln.

Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb u.a. die katholischen Gottesdienste wesentlich vom Erbarmen Gottes geprägt sind, das in allen Beziehungen Vergebung und Versöhnung ermöglicht. Jesus ist der Friedensstifter, der durch seine Hingabe alles Trennende wegnimmt und die Basis schafft für neue Beziehungen. Er sagt den Gläubigen zu: „Frieden hinterlasse ich Euch, meinen Frieden gebe ich euch,“ und „Gehet hin in Frieden.“

Im Gleichgewicht mit Gott und sich selbst kann das Kunststück gelingen, rücksichtsvoll zu all jenen in unserer Gesellschaft zu sein, die nicht der Norm entsprechen, ja ihnen sogar zuvorkommend zu begegnen. Frieden beginnt im zwischenmenschlichen Bereich in der gegenseitigen Achtung, im behutsamen Umgang miteinander, im Bemühen, niemanden zu verletzen, usw. Der Blindenstock erinnert uns daran, dass wir dafür immer wieder unsere Umgebung nach „Hindernissen abtasten“ und ihnen gegebenenfalls ausweichen müssen, damit der Friede bewahrt wird und niemand zu Schaden kommt. Es liegt an uns, den Frieden zu „retten“ und ihn Tag für Tag „in Sicherheit zu bringen“ vor allen zerstörerischen Kräften. Gott hat uns alle Fähigkeiten dazu gegeben.

Das Herz Jesu vor Augen

Eine Bockleiter, ein antikes Herz Jesu, das früher als ewiges Licht gebraucht wurde, und ein Ei sind zu einer eigenartigen Installation zusammengefügt worden. Jedes der drei Objekte vermag in der Kombination mit den anderen beiden beim Betrachter Irritationen und Fragen auszulösen.

Was hat ein ewiges Licht in Form eines von einem Schwert durchstochenen Herzens mit einer Leiter zu tun? Was mag der Grund sein, dass es ganz Oben aufgehängt ist? Auf der anderen Seite steht die  Leiter mit einem ihrer Holme auf einem Ei und erhält durch die Schräglage einen unsicheren Stand. Andererseits fragt man sich, wieso das Ei von der Leiter nicht zerdrückt wird. Sehrwohl wird es zerdrückt werden, wenn jemand auf die Leiter steigt. Was hat das also zu bedeuten, dass der Künstler die Leiter genau auf das Ei gestellt hat?

Vielleicht werden uns Antworten auf diese Fragen gegeben, wenn wir den Eigenheiten der einzelnen Elemente nachspüren. Eine Leiter wird zum schnellen Hochsteigen an Orten gebraucht, an denen für kurze Zeit in der Höhe gearbeitet werden muss. Deshalb muss sie leicht, flexibel und doch stabil sein. Das Oben und das Unten sind bei ihr entscheidend. Deshalb kann sie auch für eine hierarchische Struktur stehen. Für viele ist es ein Ziel, auf der Karriereleiter schnell nach oben zu kommen. Während es die einen aus eigener Kraft nach oben schaffen, befinden sich die anderen in der Position des Eies und sind auf das Erbarmen oder die Gnade der Vorgesetzten angewiesen, dass diese sie fachlich nach- und damit auch hochziehen.

Das Ei steht für werdendes Leben in seiner ganzen Zerbrechlichkeit. Es ist der überstarken Macht seiner Umwelt ausgeliefert und bedarf deshalb eines übergroßen Schutzes. Die Installation macht deutlich, dass werdendes Leben in jeder Form Umsicht, Vorsicht, Wertschätzung und in der Folge Rücksicht benötigt, um unbeschadet überleben zu können.

Das Besteigen der Leiter ist in diesem Fall nicht möglich, ohne sich vorher zu bücken (= klein zu machen) und das Ei aus der Gefahrenzone herauszunehmen. Symbolisch ist das ein barmherziges Handeln, wie es Jesus ein Leben lang vorgelebt hat.

Die in die Leiter hineingehängte Lampe bringt wie ein Rotlicht bei einer Ampel Jesu Wirken in all unsere nach Oben strebenden Tendenzen hinein. Sie gebietet Einhalt bei einem herz- und gnadenlosen Kampf um die oberste Position, ja verunmöglicht sie einzunehmen. Als ewiges Licht in der Form eines vom Schwert durchbohrten Herzens wird es allen „Emporkömmlingen“ unmissverständlich vor die Augen gehalten, dass der erste Platz Gott gehört und sie sich ihm unterordnen und verantworten müssen.

Das Herz Jesu mahnt alle Aufsteigenden, auf ihr Herz zu hören und gnädig mit Mitmensch und Umwelt umzugehen. Das durchbohrte Herz erinnert, dass nur jemand barmherzig handeln kann, dessen Herz schmerzhaft berührt worden ist, dessen Herz sich vor Mitleid krümmt und wie beim barmherzigen Samariter ein übergroßes Erbarmen bewirkt, das die betroffene Person rettet (vgl. Lk10,25-35).

So ist das Herz Jesu als Vorbild für ein barmherziges und damit gnadenvolles Handeln zu sehen. Jeder, der „nach oben“ will im Leben, soll Jesus vor Augen haben, wie er die Armen und Kleinen im Blick hatte und ihnen zu Ansehen und Leben verhalf. Jeder soll vor Augen haben, dass wahre Größe keine Überheblichkeit kennt, sondern grenzenlose Wertschätzung des Lebens bedeutet. Das gab Jesus auch dem Gesetzeslehrer zur Antwort: „Dann geh und handle du genauso!“

„Gnade walten lassen“ ist für das menschliche Herz nicht einfach, aber jeder kann es, wenn er will. Gertrud von le Fort schreibt: „Gnade ist nicht Gewalt, sondern Freiheit.“ Denn Gnade ist ein Akt der Freiheit und führt in die Freiheit. Sie ist eine wesentliche Zutat zur Erfahrung eines erfüllten Lebens.

Himmelszelt voller Gnade

Zwei weiße Hände von porzellanartiger Beschaffenheit ragen nebeneinander aus der Wand. Sie halten zwei Stricknadeln, die durch einen Draht verbunden sind, der die Maschen hält. Gestrickt wird mit zwei verschiedenfarbigen Fäden: einem mit Gold durchwirkten blauen Faden, der, wie die Hände, aus der Wand kommt, und einem dickeren roten Faden, der unten einem Fadengewirr entspringt. In dieses verstrickt sind menschliche Figuren in unterschiedlichen Körperhaltungen: still betend, im Fadenmeer versinkend oder verzweifelt sich an einem nach oben führenden Faden festhaltend, usw.

Die weißen Hände stricken eine Art Zelt, das auf seiner Außenseite blau und auf der Innenseite rot ist und dem Mantel entspricht, mit dem in traditionellen Darstellungen Maria gekleidet ist. Dabei symbolisiert das Blau den Himmel und Rot die Erde. Entsprechend entspringt der Faden für die blaue Außenseite dem Jenseits, hier ausgedrückt durch sein kontinuierliches Hervortreten aus der Wand. Demgegenüber werden die Menschen, die sich in ihrer Not an Maria wenden, durch die strickende Tätigkeit mit dem roten Faden nach oben und aus ihrer Misere gezogen, gleichzeitig wächst dadurch der Mantel in Richtung Erde und kommt ihnen schützend entgegen.

Maria wird hier nicht als Mensch mit individuellen Zügen dargestellt, sondern allein durch ihre strickenden Hände. Mit dieser typisch weiblichen Tätigkeit verbindet sie irdische Not mit himmlischem Erbarmen und fertigt damit einen weiten Mantel für die Bedürftigen. Wie ein Himmelszelt schwebt er über ihnen, beschützend, wärmend, Gottes Zuneigung und Liebe vermittelnd. Beeindruckend wird die Wandlung sichtbar, die Maria durch ihre Mittlerfunktion bewirkt. Die Menschen, die in der verwirrenden Not oder dem Chaos unterzugehen drohen, erhalten durch sie neue Hoffnung. Sie werden aufgerichtet und ihr zerstörerisches Leid wird gewandelt in den behütenden, Ruhe und Ordnung gebenden Innenmantel eingearbeitet, was sie gestärkt durchs Leben gehen lässt. Dadurch erhält der Schutzmantel Marias im Gegensatz zu traditionellen Darstellungen eine größere Eigenständigkeit, gleichzeitig wird Marias Mittlerfunktion zwischen Himmel und Erde, die bei der Marienfrömmigkeit eine große Rolle spielt, besonders deutlich.

Angst

Der Altarraum ist verändert, und so verändert sich unser gewohnter Blick auf das Kreuz auch. Das Kreuz steht nicht mehr allein auf dem Altar wie sonst in Kirchen üblich . Es hat einen “Mantel” bekommen, einen neuen Rücken. Aber der Mantel ist kein Mantel, der umhüllen will, sondern es ist eine Explosion zu sehen, ein Klecks aus Tusche mit einem dunklen schwarzen Zentrum und viel wegspritzender schwarzer Farbe, die sich vom Zentrum her nach außen auflöst. Hier entsteht eine enorme Spannung zwischen dem gewohnten braunen Altarkreuz und dem schwarzen Tuscheklecks dahinter. Vor dem großen schwarzen Klecks verschwindet das Jesuskreuz fast ganz. Oder ist es andersherum? Ja, das Kreuz mit dem leidenden Jesus steht vor der Explosion.

Was soll das bedeuten? Der schwarze Klecks hinter dem Kreuz – das sind unsere Ängste, das ist unsere eigene tief sitzende Grundangst, unsere dunklen Stellen, unsere Löcher, unsere Fehlbarkeit. Es ist unsere Furcht, die wie ein schwarzer Fleck auf unserer Seele lastet. Die sich ausbreitenden schwarzen Spritzer und Linien zeigen an, wie sehr wir uns bemühen, sie zu verteilen, sie nicht so sichtbar werden zu lassen. Aber vor dieser großen Angst des Menschen steht oder hängt Jesus am Kreuz. ER ist es, der unsere Ängste und uns schützen, umhüllen will. ER ist es, der uns bedeckt, zudeckt.

Sind es nur unsere Ängste? Und was heißt “nur”? Vielleicht kann man sagen, diese Ängste sind der Teufel, unser eigener Teufel und die bösen Mächte, unsere finsteren Seiten, die in uns wohnen und wüten und uns belasten, aus denen wir aus eigener Kraft nicht herausfinden. Aber was sind die Teufel unserer Zeit? Jeder Mensch wird da andere für sich benennen können. Ängste begleiten unser Leben, unseren Alltag auf Schritt und Tritt: zu versagen, zu vergessen, nichts richtig und gut zu machen. Und genau darum geht es: Wie kann man seine Angst bekämpfen oder gar besiegen? Niemand vermag das wirklich erfolgreich. Und darum ist Jesus vor uns und schützt uns – auch vor uns selbst. …

Die Kunstinstallation von Michael Bracht kommt nicht von ungefähr und nicht zufällig jetzt. Es ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit uns Menschen, ja des Künstlers Michael Bracht mit sich selbst und – von außen herangetragen – mit dem „Lutherjahr”, dem 500. Jubiläum der Reformation. Von Luther wissen wir, dass er eine tiefsitzende Angst vor dem Teufel und seinen Mächten hatte, dass er Schuldgefühle bis zu seinem Tod hegte. Bekannt ist die Episode auf der Wartburg, wo er bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche in der Nacht sein Tintenfass nach dem vermeintlichen Teufel an die Wand warf. Diese Überlieferung führte wohl zu der Gestaltungsidee des Themas “Angst”. Einer Angst, der sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens stellen muss, ob nun im Geheimen oder ganz offen.

Der Pfarrer der Kirchengemeinde Sankt Petri und Künstler Michael Bracht sagt dazu: “Meine Installation im Kirchraum von Sankt Petri beschäftigt sich mit der vielleicht entscheidenden Triebfeder, die schließlich zur Reformation führte: den Ängsten Martin Luthers und den Antworten, die er gefunden hat. Sie fragt zugleich nach den Ängsten der Betrachter und fordert sie auf, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und selbst Antworten zu finden.”

Michael Bracht trieb es um, dieses Thema zu gestalten. Er begann vor fünf Jahren, erste Ideen zu entwickeln und überlegte wie es wäre, viele Tintenkleckse öffentlich aufzuhängen. Daraus wurde dann nichts. Und so reduzierte er die Mehrzahl von Tintenflecken auf den einen. Er sprach somit nicht mehr vom Wir, sondern vom Ich. Nicht das Verstecken hinter der Schuld und der Angst vieler, sondern bezogen auf mich, mein Versagen, meine Unzulänglichkeit, meinen Anteil. Das ist wesentlich konzentrierter und auch ehrlicher im Bekenntnis. All diesen Überlegungen trägt die Bildgröße Rechnung; sie entspricht in etwa der Altarbreite, ist deckungsgleich mit 2 x 2 Metern, so dass die Intention von Bracht („Angst / Schuld der Menschen, die hinter dem Altarkreuz verschwindet, aber dennoch sichtbar bleibt“) sehr gut deutlich wird.

Eine tolle Idee und eine beeindruckende Umsetzung! (leicht gekürzte Vernissagerede)

Ansicht von rechts
Ansicht von links

Schiffbruch der Barmherzigkeit

Ein halbes Ruderboot liegt auf vier Rundhölzern, als ob es gerade auf ihnen nach einem Schiffbruch an Land gezogen worden wäre. Es sind keine Menschen zu sehen, nur wenige Objekte, die ihre frühere Anwesenheit bezeugen. Wer um das Boot herumgehen kann, findet eine Schwimmweste, eine schwarze Puppe, einen Teddybär, einen Geldschein und eine Muschel, die wie ein Aschenbecher auf dem Bootsrand liegt. Alle erzählen nachvollziehbar von Menschen, die eine Zeit auf diesem Boot verbracht haben, von Erwachsenen und Kindern, die mit wenigen Habseligkeiten die Überfahrt in ein Land der Verheißung gewagt hatten, um sich vor Not und Verfolgung in Sicherheit zu bringen.

Doch das Boot ist leer. Es hinterlässt nur Fragen zu seinen Passagieren: Wo sind sie nun? Wer und wie viele waren es? Woher kamen sie? Konnten sie sich retten nach dem Schiffbruch? Oder sind sie ertrunken? Übrig geblieben ist nur ein Steinkreuz mit dem Gekreuzigten. Mitten im Boot mutet es befremdend an. War es vor dem Unglück schon da oder erst danach? Wie ein abgebrochener Segelmast ragt das Kreuz in die Höhe. Ein erbärmlicher Anblick. Jesus ist hier so fremd wie die Fremden. So ist er, der Gekreuzigte, mit den Gescheiterten solidarisch .

Die fehlenden Extremitäten von Jesus sind durch Metallstücke ersetzt, was ihm noch stärker eine geschundene und bedürftige Gestalt gibt. Der linke Unterschenkel ist mit einem Winkeleisen angedeutet, der linke Arm bildet eine Stange, die mit einer Kette ans Kreuz gekettet ist, sein rechter Arm wird aus einem Stahlträger geformt. Auch das Kreuz hat verschiedene „Ecken ab“. Zudem steht auf dem Schriftband über Jesus nicht I.N.R.I., sondern „STATUS QUO“ (= bestehender aktueller Zustand). Wie um klar zu stellen, dass es nun so ist, obwohl die Flüchtlinge alles daran gesetzt haben, um der Bedrohung und Verfolgung zu entkommen und in ein Land mit besseren Lebensmöglichkeiten zu gelangen..

Die Flüchtlinge haben milde Umstände erwartet, damit ihnen die Flucht gelingt: ein ruhiges Meer, Menschen, die es gut mit ihnen meinen. Sie haben auf Barmherzigkeit gehofft. Sie haben gehofft, dass die Barmherzigkeit sie wie das Boot auf dem Wasser trage und sicher ans Ziel bringe. Vielleicht steht deshalb „BARMHERZIG“ in roter Schrift auf dem blauen Bootsrand und in ägyptischer Schrift als Name des Bootes am Rumpf.

Damit wird angedeutet, dass es weniger um die Barmherzigkeit an sich geht als vielmehr um eine barmherzige Haltung und ein entsprechendes Handeln daraus. Die Motivation dafür resultiert für den gläubigen Menschen aus der biblischen Vermittlung und Selbsterfahrung, dass Gott ein barmherzig Handelnder ist, in der Gegenwart genauso wie in der Vergangenheit (vgl. Ex 34,6 par). Wir leben durch die Liebe und Barmherzigkeit Gottes und in ihnen. Sie sind die Grundlage unseres und eines jeden Lebens. In der Haltung und in den Situationen, in denen wir uns selbst für das Leben des Nächsten einsetzen, treten wir in die Liebe und Barmherzigkeit Gottes ein, handeln wir wie ER und mit IHM zu seiner Verherrlichung. Wo oder wann das nicht geschieht, erleidet seine und unsere Barmherzigkeit „Schiffbruch“. Durch das Kunstwerk wird deutlich, dass bei unbarmherzigem Handeln etwas ganz Wesentliches und Tragendes zwischen den Menschen zu Bruch geht, das man mit Vertrauen und Solidarität beschreiben könnte. Es ruft mahnend in Erinnerung, dass dabei nicht nur der Notleidende unter Umständen mit dem Leben bezahlen muss, sondern auch der Wohlhabende an Menschlichkeit verliert.

Die Installation war im Rahmen des Projektes “Da-Sein in Kunst und Kirche” in der Kirche St. Franziskus in Regensburg-Burgweinting zu sehen.

Ent-Festung

„Es häufen sich die Anzeichen für ein neues Unbehaustsein“ – schreibt Vilem Flusser 1989 geradezu prophetisch in der Basler Zeitung unter der Überschrift „Häuser bauen“. Die Entfestung unserer Existenz ist ein sich über Jahrhunderte vollziehender Prozess. Anfangs betraf er nur unsere Stadtgrenzen, deren Sicherung durch Mauern und Türme unsinnig geworden war, weshalb sie heute nur noch pittoresken Charakter haben. Es blieben die Nationengrenzen und die privaten Häusergrenzen. Während die Menschen über Jahrhunderte versuchten, sich in festen Häusern und Nationen einzurichten (‚Festung Europa‘), begannen ihre Behausungen in neuerer Zeit immer durchlässiger und fragiler zu werden. Erst waren es die Antennen, dann die Drähte, schließlich die Kabel und Netze, die aus den massiven Abgrenzungen gegenüber der Umwelt nahezu transparente Gitter werden ließen: „Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.“ Und die globale Kommunikation macht auch die nationalen Grenzziehungen, die immateriellen Grenzen immer willkürlicher. Wir können zwar weiterhin (verbal) Festungen errichten, aber wir kommen nicht umhin, unsere zunehmend instabiler und netzartiger werdende Existenz neu zu reflektieren. Die Scholle ist heute nur noch ein Element, kein Argument mehr.

Madeleine Dietz verleiht diesem epochalen Prozess vom Sichtbar- und Bewusstwerden unseres Unbehaustseins und der Rückkehr zum Nomadischen einen künstlerischen Ausdruck. Das Material ‚Stahl‘ steht zunächst für den Schein der Sicherheit, für Konstruktion und Abgrenzung, für Undurchdringlichkeit. In dem Moment, in dem wir uns unsicher fühlen, beginnen wir Mauern zu errichten und Zäune hochzuziehen und verwandeln aber zugleich das eigene Gebiet in ein Gefängnis (weitere Ansicht). Die bei Madeleine Dietz sichtbar werdende künstliche Schichtung der Materialien, ihre an Instabilität grenzende Konstruktion verweist aber auch auf die Brüchigkeit dieses Prozesses. Ihre Objekte stehen im Weg, erzwingen Um-Wege, schließen sich aber nicht mehr. Dietz schichtet Stahlplatten, wie ehedem ihre Erdstücke, zu einem Gebilde, das bei aller scheinbaren Solidität zugleich auch fragmentarische Züge bekommt. Der Stahl behält so zwar seinen materialimmanenten konstruktiven Charakter, aber er wirkt nun vor-läufig, nicht mehr end-gültig. Er kann sich zwar noch zu einem Kubus erheben, aber die Stahlplatten rundherum lassen die Gegenkräfte erkennbar werden, die drohende tektonische Verwerfung, die Gefahr „einstürzender Neubauten“. Das Ganze wird zu einem Objekt, das Entwurfscharakter hat, weil es jederzeit sich verändernden Gegebenheiten angepasst werden muss, damit seinen Festungs-Charakter verliert und potentiell nomadisch wird. Das ist unmittelbar politisch.

Im Kontext der früheren Arbeiten von Dietz, die ebenfalls vom Ruinösen und vom Vergänglichen sprechen, tritt nun verstärkt das Element des Transitorischen, des Übergangs hervor. Es ist eine künstlerische Metapher. Die Gitterzäune, die wir heute erleben, bieten keine Sicherheit, sondern machen die Willkürlichkeit, die Künstlichkeit dieser Art der Grenzziehungen sichtbar. Die stählernen Gebilde können morgen schon andere Gehäuse bilden, aber sie können nicht mehr der End-Gültigkeit der Abgrenzung dienen, sie sind Konstruktionen, die auch dekonstruiert werden können. Gitter, Stahl, Erde gibt es weiterhin, aber sie sind nun reversible Elemente, Mittel im Prozess von Verflechtungen, Aufbrüchen und neuern Zusammenstellungen. (Text bis hierher von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.)

Damit kann die Installation als Sinnbild für die Notwendigkeit bezeichnet werden, sich stets anzupassen. Unser Umfeld verändert sich unaufhörlich und stellt immer wieder neue Herausforderungen an unsere Flexibilität. Wir können nur durch Anpassung überleben, durch das Eingehen auf diese Veränderungen und im Annehmen und Integrieren derer. Widerstand ist in Maßen möglich und will gut überlegt sein (vgl. Lk 14,25-35). Wer nicht mitmachen will oder kann, wird ausgegrenzt, was aber nicht automatisch zum eigenen Nachteil sein muss. Inmitten eines starken und manchmal fast überwältigenden Umfeldes tut ein umso stärkerer innerer Halt gut, der Orientierung gibt in allen Veränderungs- und Anpassungsprozessen.

Rudern oder treiben?

Große Holzruder liegen wie angeschwemmt im Raum. „Treibholz“ nennt der Künstler Nikodemus Löffl seine Installation, die bis zum 11. März 2016 in der Dreifaltigkeitskirche in Konstanz ausgestellt ist. Die 34 grob bearbeiteten Holzruder sind aus einem einzigen Pappelstamm gesägt. Die Diskrepanz zwischen den vereinsamten Rudern und dem Werktitel laden ein, über unser Tun und dem, was mit uns geschieht, nachzudenken. Die Hölzer fragen als Ruder, was wir aus eigenem Antrieb machen können und müssen. Als Treibholz können sie auf die verschiedensten Strömungen in unserer Welt aufmerksam machen, die mächtiger sind als wir und uns gegebenenfalls das Ruder aus der Hand zu reißen vermögen (weitere Ansicht).

Auch wenn die wenigsten von uns in ihrem Alltag Ruder verwenden, so sind sie doch sprichwörtlich in unserem Mund gegenwärtig. Wenn wir bei einer Sache nicht vorwärts kommen, so „rudern“ wir vergeblich, umgekehrt „legen wir uns in die Riemen“, wenn wir uns anstrengen und vorwärts kommen wollen. Und wenn etwas ganz außergewöhnlich ist, sagen wir, es sei „aus dem Ruder gefallen“. In ihrer Menge erzählen die Ruder von aufeinander abgestimmten Bemühungen, von Ausdauer und Rhythmus, die es braucht, um Ziele zu erreichen. So sind sie auch in der gegenwärtigen Völkerflucht aus Syrien auf dem Weg über das Wasser überlebenswichtig. Denn wer kein Ruder mehr hat, ist steuerlos der Strömung und dem Wind ausgesetzt und wird zu Treibgut.

Vorausschauende Überlegungen können helfen, Abläufe und Entwicklungen im Blick und im Griff zu behalten: In welchen Lebensphasen und Entscheidungen ist es notwendig, dass ich die „Ruder in der Hand behalte”? Wo ist es wichtig, dass ich hochkonzentriert bei der Sache bin, damit ich eine Arbeit erfolgreich und termingerecht abliefern kann? Welche Vorsichtsmaßnahmen ergreife ich, um in meinen „Unternehmungen“ nicht „Schiffbruch“ zu erleiden? Nehme ich meine Verantwortung für Mitmensch und Schöpfung wahr und setze ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften für das Erreichen der Ziele ein? Bin ich bereit, die Mühen auf mich zu nehmen, auch mal gegen den Strom oder den Wind zu rudern? Oder lasse ich mich lieber träge in den wirtschaftlichen, technischen, sozialen, politischen Strömungen treiben, welche unsere Lebensformen beeinflussen und unmerklich verändern? – Was auch immer: Ich bin gefragt!

Das Reinhold Niebuhr zugeschriebene Gelassenheitsgebet mag uns vielleicht helfen, eine gute Balance zwischen dem selbst- und dem fremdbestimmten Vorwärtskommen zu finden, mich zu engagieren als auch das Unveränderliche annehmen zu können: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Leuchtende Becher – leere Schreine

Ein ganzes “Heer” leuchtender Becher stellt Alois Neuhold hin: Unbenützbar, leer, weil deren Inhalt das Füllbare nicht ausfüllen kann, ja darf. Zu viel, zu gut, zu heilig! Es sind Gefäße für die Verwendung bei einer himmlischen Hochzeit. Im Ensemble sind es trotzdem Öffnungen für das Nichtgreifbare und Hoffnung auf ein Getränk unstillbaren Genusses. Das Bilderverbot ist das Zentrum dieser Behälter und doch ist die Inkarnation des Lichtes in der Farbe seine dialektische Durchkreuzung.

„Wir halten diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ (2 Kor 4,7), in Erdzerbrechlichkrügen …

Der Künstler selbst:

Unnützbarkeitsgefäße, Nichtbefüllbarbecher, Tabernakelchen, ein ganzes „Heer“ davon, achtzig, zehn mal acht – der achte Schöpfungstag, ein Bechermeer, Nutzlosschreine, ein Becherblumenfeld des Nichtverwertbaren, des Nichtverwendbaren, Blühbehälter, die nur dem Blühen dienen und dem bloßen Sein, dem verweilend Sein, dem empfangend Sein, farblichtschattend, offen, Empfängnistat. Ein Anflug vom Möglichkeitsparadies vielleicht …

Leer sind die Becher, Schalen und Schreine, leer müssen sie bleiben, frei von menschlichen Anfüllungen. Nur das Licht, der Schatten, Tag und Nacht, Luft, der Atem, Farben, Regenbogenoffenbarungen, die Leere wohnt in ihnen. Lichtbienen nippen daran.

„Nehmet hin und trinket!“ Das Licht ist Leib geworden.

Schlürft den Lichtwein, esst vom Schattenbrot, tanzt die Farbekstasen, trinkt Atemweite, haucht Luftgedichte, preist die Schöpfungswiese, tretet ein in die Hallen, in den Festsaal einer himmlischen Hochzeit! Feiert Auferstehung!

(Das Grab ist leer.)

Entrümpelt die Häuser, die Keller und Kapellen, die Warenkörbe, die Überfüllregale, die Übersattideen! Entrümpelt auch die Seelenstübchen und die Zuinnerstkämmerlein! Werft weg die Niederdruckgewichte, die Gottverbildungsbilder, die vielen Gott-und Weltverstellungsdogmen, das Moralingedudel, das immer-noch-Mehr-und-nie-Genug! Werft sie weg in weiten Bögen aus den Büchern, aus den Köpfen, aus den Schulen! Zieht aus die Uniformen, die Waffenröcke und all die anderen Unterdrückungs- und Machtbezeugungskittel! Verbrennt die Wortgewehre, die süßen Sonntagsreden, die Abertonnen Hass-und Aufhetzschriften! Räumt weg die ausgelatschten Glaubenssätze!

Öffnet die Fensterläden, die Auswegtüren, die verriegelten Ostertruhen, die Taborschreine, die Herzverschlüsse, die vernagelten Einzwängkästen! Befreit den Geist vom Seichtgewäsch, vom Gedankenmüll, vom Allerweltsgeplapper! Schüttet aus die Endlosjammertöpfe! Schafft endlich Raum und Leere, Entfaltungsräume, Begegnungsorte, Lichterfahrungsplätze, weite Dome, Erlösungshorizonte, denn die „Fülle des Lebens“ will Einzug halten! Der Esel steht bereit. Tempelreinigung ist angesagt.

Fassbare Gefäße des Unfassbaren. Ein Abendmahl ohne Brot und Wein.

Der Kelch ist leer. Das Blut verschüttet. Im Tabernakel keine Hostie. –

Gefäß werden, einfach Gefäß sein für das Ankommende, für das Licht,

für das Ein und Alles. Advent.

Das Licht ist Leib geworden in den Farben.

Hochgebirge

Der Regensburger Künstler präsentiert die Rauminstallation „Hochgebirge“ und übersetzt damit die Leidensgeschichte von Flüchtlingen in eine künstlerisch-abstrakte Darstellung. Die Leiter als Symbol für die Verbindung von Himmel und Erde, für den Übergang in eine andere Welt, in eine höhere Sphäre, als Zeichen des Aufstiegs und der Entwicklung, steht stellvertretend für die Hoffnung der Flüchtlinge auf ein besseres Leben. Die Sprossen, die der Mensch nur alleine erklimmen und herabsteigen kann, stehen zugleich für die Alleingelassenheit der Reisenden, die ihren Weg auf sich allein gestellt bewältigen müssen (Detailansicht). Mit Wasser gefüllte Bottiche lassen an die lebensgefährlichen „Nussschalen“ afrikanischer Flüchtlinge denken, mit denen das Mittelmeer überquert werden soll.

Kaufers Installation meint allerdings nicht eine bestimmte politische Flüchtlingskonstellation, sondern das Flüchtlingsdasein im Allgemeinen. Der Titel „Hochgebirge“ spielt auch nicht auf eine konkrete geographische Situation an, sondern bezieht sich auf die Strapazen des Flüchtlingsdaseins. Auch der Bergsteiger hat ein fernes Ziel, den Gipfel, vor Augen, muss aber bis zu seinem Erreichen Gefahren überwinden (weitere Ansicht der Installation).

Die Bottiche sind mit Wasser gefüllt, scheinen Leck geschlagen zu haben. Wasser als Quell des Lebens wird im Kontext der Flucht Spiegelbild der Zerstörung und des Todes. Die Hoffnung begegnet der Naturgewalt, der zerstörerischen Kraft des Meeres. Die Leiter wirkt hier wie ein Rettungsweg, der aus der Gefahr führt, aber nicht jeden retten wird. Ein Blick in die Bottiche offenbart eine weitere Perspektive: Durch ihre Spiegelung in der Wasseroberfläche erhalten die Leitern eine bedrohliche Doppelrolle. Sie führen nicht nur nach oben, sondern auch hinab in die Tiefe.

Der Parcours endet im Blättermeer aus Genfer Flüchtlingskonvention, EU-Richtlinien, Verwaltungsvorschriften und Gesetzen. Repräsentativ stehen diese Texte für eine auf Normen ruhende Gesellschaft, deren humanistische Ideale in Bürokratie und im Vorschriftenwust unterzugehen drohen. Der Betrachter kann die Ratlosigkeit und die Frustration der Migranten nachvollziehen. Sie sehen sich nun den Gefahren eines neuen Meeres aus Paragraphen gegenüber. Gesetze und Vorschriften sollen für Gerechtigkeit sorgen, sind ein Weg zu retten und zu helfen, sie beinhalten aber auch viele Restriktionen, die die gesellschaftliche Wertedebatte in der Flüchtlings- und Zuwanderungsfrage zu keinem Ende kommen lassen.

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Erstveröffentlichung im Ausstellungskatalog: Ich bin da. Künstlerische Perspektiven zum Thema Flucht. Regensburg 2015, S. 16.

Entwurzelt!

Die eine Hälfte eines Baumes liegt am Boden, die andere Hälfte schwebt aufgehängt im Raum. Eine verkehrte Welt: Außen befindet sich innen und was normalerweise in die Höhe ragt und tragfähig ist, liegt am Boden bzw. hängt an einem Seil in der Luft. Im Wurzelbereich finden sich zudem Schuhe, die mit Stacheldraht befestigt sind. (Großansicht) Sie weisen darauf hin, dass es hier um Menschenschicksale geht, drastisch dargestellt am Beispiel dieses Baumes.

Als Baum hat der Künstler eine Weide gewählt. Diese wachsen bevorzugt am Wasser – am Lebenselixier par excellence. Mit der Wurzel wurde sie ausgegraben und in zwei Teile zersägt in eine absolut fremde Umgebung transportiert: einen Innenraum ohne direkten Wasser- oder Luftkontakt zur Außenwelt. Die Brutalität der Entwurzelung wird gesteigert durch die Überwindung der Schwerkraft und die enge Verbindung mit den Schuhen. Durch den Stacheldraht wird ihr Schicksal untrennbar und lässt sie beide zu Treibgut der derzeitigen gesellschaftlichen Strömungen werden. (Großansicht) Ihnen beiden ist der Boden unter den Füssen weggezogen worden. Ihr Schicksal hängt an diesem „seidenen Faden“. Werden sie gehalten – oder fallen gelassen?

Die Skulptur hält uns einen Spiegel vor Augen, was mit vielen Zeitgenossen geschieht, die durch politische, religiöse oder wirtschaftliche Krisen in die Flucht getrieben werden. Sie nehmen die Entwurzelung von allem, was sie bislang umgeben und gehalten ha,t in Kauf, um ihr Leben und das ihrer Familien zu retten. Der Sprung in die Freiheit verlangt allerdings Ausdauer, er ist wie beim Baum eine lange Durststrecke, bei der in keiner Weise sicher ist, ob der Baum / Mensch je wieder Wurzeln schlagen kann oder ob er ein Entwurzelter / Heimatloser in der Fremde bleiben wird. Das deuten auch die mit Stacheldraht am Baum gefangenen Schuhe an. Diese sind mit Gewalt an den Baum gebunden, so dass ein Weitergehen in den eigenen Schuhen nicht mehr möglich ist.

Der ausgestellte Baum bringt auch schmerzvoll zum Ausdruck, dass die geflüchteten Schutzsuchenden am neuen Ort wohl Schutz erfahren, aber zu sinnloser Untätigkeit verurteilt sind. Sie sind ihrer natürlichen Handlungsfähigkeit weitgehend beraubt und „liegen“ und „hängen“ deshalb tatenlos herum.

Der sich jeder Definition entziehende Werkname „Ohne Titel“ trifft hier den Kern der Sache. Das Erschrecken über die Entwurzelung im Kontext von Flucht, Vertreibung und sozialer Entwurzelung kennt keine Worte.

Das einzig Notwendige sind mutige Entscheidungen und aktives Zupacken von unserer Seite, um Zeichen der Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit zu setzen: Die in unserem Lebensraum Angekommenen zu besuchen und sie nicht länger als „angeschwemmte“ Fremdkörper zu betrachten oder zu behandeln. Die Darniederliegenden sind aufzurichten, den Entmutigten ist Mut zuzusprechen, den Heimatlosen neuer Boden unter den Füßen zu geben, die in den Gesetzesvorschriften Gefangenen sind zu befreien und zu neuer Lebensqualität zu führen. Zu all dem und noch viel mehr kann diese eindrückliche Arbeit von Eduard Winklhofer Anstoß geben.

Die Ausstellung Ich bin da. Kulturelle Perspektiven zum Thema Flucht, Vertreibung und Migration war bis zum 12. Juli 2015 im ehemaligen Kloster St. Klara in Regensburg zu sehen. Sie gehörte zu einem reichhaltigen kulturellen Programm, das mit Ausstellungen, Konzerten, Lesungen, Kino, Exkursion und mehr … offene Blicke auf ein aktuelles Thema freigab.

> weiterer Bildimpuls dieser Ausstellung

An Gott hängen

An einem Balkengerüst hängen drei längliche, menschengroße Körper. Der linke Körper hat die Gestalt eines zusammengerollten, braunen Blattes, während sein Pendant auf der rechten Seite eine Mischung aus einer Muschel und einer Schmetterlingspuppe darstellt. Die Oberflächen beider Körper sind mit großer Sorgfalt gestaltet worden. Beim gerollten Blatt winden sich braune Linien spiralförmig um seinen bronzefarbenen Körper, bei der Muschel oder dem Kokon ist die silbern erscheinende Außenhaut mit einem wunderbar feinen Muster überzogen, während die Innenseite fleischfarben ausgestaltet ist. Damit strahlen die beiden Hüllen trotz ihrer prekären Lage eine natürliche Schönheit und Kostbarkeit aus.

Der mittlere Körper hebt sich in mehrfacher Hinsicht von den beiden äußeren Figuren ab. Zum einen hängt er an einem Strick, während die anderen mit einer Schnur an einem Fleischerhaken hängen. Zum anderen handelt es sich bei diesem Körper eindeutig um eine menschliche Gestalt, die vollständig in ein weißes Tuch eingewickelt einen Leichnam vermuten lässt. An verschiedenen Stellen sind im weißen Leinen rote Flecken erkennbar. Da sie dort sind, wo sich Hände, Füße, Seite und Stirn befinden, weist das durchsickernde Blut auf ein Opfer einer Kreuzigung und noch mehr auf einen mit Dornen Gekrönten hin: Jesus.

Die Balkenkonstruktion lässt auf den ersten Blick an eine ganz normale Hinrichtung durch Erhängen denken. Weil niemand an oder auf das Holzgerüst genagelt ist, tritt die Kreuzform in den Hintergrund bzw. wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. Dadurch kann in dieser erweiterten Kreuzform durch die zwei senkrechten Balken ein Triptychon gesehen werden, das einerseits traditionell Leiden, Tod und Auferstehung Jesu zum Inhalt hat, gleichzeitig aber auch die Kreuzigung Jesu zwischen den beiden Verbrechern rechts und links anklingen lässt.

Die Installation parallelisiert den Kreuzestod Jesu mit anderen Sterberealitäten. Links als Folge des Alters, rechts als Sterbeerfahrungen im Leben jedes Einzelnen, wo immer wieder Wandlungsprozesse wie bei einer Raupe notwendig sind, wenn wichtige Phasen im Leben zu Ende gehen und eine Umorientierung notwendig machen. Oft führt das zu einer Zeit des Rückzugs, einer Abkapselung, während derer die Trauer verarbeitet und (Über-)Lebensstrategien und neuer Lebensmut gefunden werden müssen.

Durch die Radikalität dieser Erfahrungen, die wir nicht steuern oder aufhalten können, sind wir besonders in solchen Situationen, genau wie Jesus, ganz auf Gott angewiesen. Auf ihm ruht unsere Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, das Leben nicht genommen, nur gewandelt wird und eine neue Gestalt erhält.

Der Titel der Arbeit entstammt dem 9. Vers des 63. Psalms, der lautet „Meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich fest.“ Mit diesen Worten bringt der Betende sein Ur-Vertrauen in Gottes Nähe und Kraft zum Ausdruck. Durch den starken Glauben hat sich der Beter wie ein Kind an die Hand seines Vaters gehängt. Und Gottes Hand hält ihn so fest, dass er, was auch geschieht, nie von ihr losgerissen oder verloren gehen wird. – Ob der dicke Strick als „Hand“ Gottes gedeutet werden darf? Der Strick geht ja nicht um den Hals, er hält den eingebundenen Körper in der Schwebe. Die bisherige Gestalt ist bereits verborgen, die Kommende noch nicht sichtbar. – Aber meine Seele hängt an dir, Du mein Gott!

Die Installation war 2015 im Rahmen des Concentration-Projektes in der Dreifaltigkeitskirche in Konstanz zu sehen (Ansicht 1; Ansicht 2). 

Grace: Gnade + Dank

49 weiße Körper, die an Kokons erinnern, liegen wie ausgeschüttet auf dem Boden. Alle haben eine rissartige oder rundliche Öffnung. Innen sind sie leer. Ähnliche Formen kennen wir von Schmetterlingen. Kokons sind beim Verwandlungsprozess von Raupen in Schmetterlinge nötig und bleiben quasi als Zeugen übrig.

Diese Kokonform wird in der Installation aufgegriffen und übergroß mit Materialien aus dem medizinischen Bereich dargestellt. Gips- und Mullbinden verweisen auf Zeiten, in denen unser Leben gefährdet war. Sie verweisen auf Krisenzeiten, in denen wir auf Grund von Unfällen etwas gebrochen oder uns verletzt hatten und zur Heilung einen zusätzlichen Halt und Schutz brauchten. Sie verweisen auf Verbände nach Operationen, die durch Krankheiten oder Versagen von Körperorganen nötig wurden. Die Kokonformen lassen an Lebenshüllen denken für Zeiten, in denen wir besondere Ruhe und Schutz benötigten, an einen Rückzugsort, aus dem man gestärkt und verwandelt hervorgehen kann.

Die fast transparenten und fragilen Hüllen machen bewusst, wie prekär der Aufenthalt darin war. Was wir hier sehen, sind die zurückgebliebenen Spuren geglückten Lebens. Die Kokons sind leer, weil das in ihren herangereifte Leben stark genug war, in die Welt aufzubrechen. Sie sind zurückgelassen, weil sie kein Nest sind, sondern vergängliche Notwendigkeit, darin zu reifen und fit zu werden für die vielfachen Anforderungen des Lebens, für die (fast) grenzenlose Freiheit, die wir wie Schmetterlinge entfalten dürfen.

Solche Gedanken lassen Staunen und Dankbarkeit aufkommen. Ist das nicht wunderbar? Es ist doch keine Selbstverständlichkeit, dass das Leben gelingt oder in Übergangszeiten die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Dass in der STille und Verborgenheit die Kraft für ein Comeback heranreift. Es könnte auch anders sein, wenn wir wieder einmal haarscharf an einer gefährlichen Situation vorbeigeschlittert sind, das Neugeborene vollkommen gesund, die Ernte reichlich, das Leben gut zu uns ist.

Eigentlich haben wir dieses ästhetische wie schöpferische Wunder nicht verdient. Es wird uns einfach zuteil, still und leise geschenkt. Es ist Gnade, grenzenlose Güte, unverdientes Glück! Gläubige sehen es als Geschenk Gottes. Jesus sagt: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Darauf möchte auch die Anzahl der Kokons hinweisen. Die Wurzel der Zahl 49 ist die Sieben, die Zahl der Fülle. 49 ist die Fülle im Quadrat – unfassbarer Überfluss!

„Grace“ hat die Künstlerin ihre Arbeit benannt. Nicht weil englisch immer besser klingt, sondern weil das Wort „Grace“ weitere Bedeutungen hat, die eng mit dem Begriff der Gnade verbunden sind. „Grace“ bedeutet auch Anmut und Schönheit, wie wir es ja auch im deutschen Wort „Grazie“ kennen. Und „to say grace“ meint, das Tischgebet zu sprechen, Dank zu sagen. Mille grazie!

Gnade und Schönheit werden uns geschenkt, unsere Antwort ist schlicht der Dank.

Fisch-Konserven-Kreuz

Ein Kreuz, geformt aus 96 Fischkonserven (53 senkrecht, 43 waagrecht), liegt am Boden. Ordentlich stehen die Dosen in Dreierreihen nebeneinander, vereinzelt nur zu zweit oder aber auch zu viert. Die Kombination der bunten Dosen mit dem Kreuz befremdet. Irgendwie wollen das kommerzialisierte Konsumgut Fisch und die strenge Kreuzform ästhetisch nicht zusammenpassen. Wollte der Künstler ein Mahnmal schaffen für den rücksichtslosen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt? Themen wie Überfischung, Tierquälerei oder Fischsterben durch verschmutzte Gewässer infolge menschlicher Profitgier und Marktinteressen  kommen in den Sinn. Doch was vermag uns das Fischkonservenkreuz darüber hinaus sagen? Was gibt es für inhaltliche Berührungspunkte oder sogar Parallelen zwischen den Fischen und dem Kreuz?

„Konserve“ Kreuz
Die Fische sind gefangen genommen und getötet worden, um den Menschen als Nahrung zu dienen. In den Blechdosen werden sie unverderblich gemacht, konserviert, und bleiben damit über eine längere Zeit haltbar. Dadurch können sie über große Distanzen transportiert und fast überall auf der Erde verkauft und verzehrt werden, ohne dass der Fisch geschmacklich oder gesundheitsgefährdend sich verändern würde.

Hier werden Parallelen zum Leidensweg Jesu sichtbar und seinen Worten beim letzten Abendmahl: „Nehmt und esst, das ist mein Leib. Trinkt, das ist mein Blut.“ (Mt 26,26-28) Auch wenn dem Kreuz wie den Konserven Folter und Tod anhaften (Jesus und die Fische), so tragen beide das Leben in sich. Jesus gibt sich den Seinen, „damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben“ (Joh 10,10b). Wer von den Fischen isst, dessen Leben wird gestärkt. So macht diese Arbeit deutlich, dass auch das Kreuz eine „Konserve“ ist. Denn gerade das lateinische Kreuz ist untrennbar mit dem Leiden und dem Tod Jesu verbunden. Es trägt diese Botschaft unverderblich durch Zeit und Raum, nachösterlich verbunden mit Jesu Auferstehung von den Toten und seine Rückkehr zum Vater.

„Konserve“ Bibel
Die konservierten Fische lassen zudem eine Parallele zur Bibel zu. Denn auch das Wort Gottes ist konserviert. In seiner geschriebenen Form ist es haltbar gemacht, leicht transportierbar und für alle zugänglich. Auch Gottes Wort ist Nahrung, im Gegensatz zum Fisch allerdings für Geist und Seele. Intuitiv würde man Gottes Wort vielleicht mehr mit dem Kerzenlicht vergleichen, das man unerschöpflich teilen kann, ohne dass jemanden einen Verlust erleidet. Beim Fisch kann nicht auf gleiche Weise geteilt werden. Allerdings hat Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen mehr als fünftausend Menschen gespeist und es blieben zwölf Körbe übrig (Mt 14,13-21), so dass auch Brot und Fisch als Symbole für sein grenzenloses lebenstärkendes Geben gesehen werden können.

Die Frage liegt nahe: Lässt sich im Kreuz nicht auch die Form eines Menschen sehen, der mit ausgebreiteten Armen am Boden liegt, und sich ganz dem Betrachter hingibt? Der sie in seiner ungewöhnlichen Erscheinung lockt, wie Moses am brennenden Dornbusch näher zu treten? Der einlädt, das Kreuz und durch es IHN zu schauen? Der sich dadurch als Gebender offenbart und sie einlädt, von ihm zu nehmen und zu essen?

„Konserve“ Fisch
So wie das Kreuz bis in unsere Zeit DAS Bekenntniszeichen für Christen ist, muss es der Fisch für die Christen der ersten Jahrhunderte gewesen sein. Er war DAS Erkennungszeichen für die Christen in der Verfolgung. Denn das griechische Wort für Fisch, ἰχθύς (ichthýs), enthält ein stichwortartiges Glaubensbekenntnis, in dem jeder Buchstabe auf eine Eigenschaft Jesu hinweist:

  • I – Jesus (Iēsoũs)
  • Χ – Christus  (Χριστὸς/Christòs , der Gesalbte)
  • Θ – Gottes (Θεού, theoú)
  • Υ – Sohn (Υἱὸς)
  • Σ – Erlöser (Σωτήρ, sotér)

Die eine Person zeichnete einen Bogen in den Sand, eine zweite Person ergänzte das Symbol so mit einem Gegenbogen, dass eine Fischform entstand. Damit zeigte er sich als Bruder oder Schwester im Glauben an Christus.

Die Konservendosen könnten ein modernes Glaubensbekenntnis sein. Sie enthalten Fische aus der ganzen Welt. Womit in dieser Kreuzform die ganze Welt zeichenhaft versammelt wurde. Jesus hat seine Jünger zu Menschenfischern berufen. Er hat ihnen den Auftrag gegeben, sein Wort  zu allen Völkern zu tragen, damit alle zum Glauben an den Vater, ihn und den Heiligen Geist kommen und in diesem Glauben eins werden. Dieser Auftrag lässt sich nicht konservieren. Nur leben. Weshalb jeder Gläubige zu jeder Zeit berufen ist, auf seine ihm eigene Art und Weise Zeugnis von seinem Glauben abzulegen – in einem lebendigen Glaubenszeugnis!

Sehnsucht der Seele

Zwei längliche Objekte stehen parallel nebeneinander. Sie sind von der Größe her ähnlich und geben sich doch ganz unterschiedlich. Während das linke Objekt als Behälter genutzt wird, erscheint das rechte verschlossen, unzugänglich, geheimnisvoll. Der kantige, dunkelgraue Quader aus Stahl wäre nur ein monolithischer Block, stände er nicht in Beziehung zu seinem linken Pendant und ließe sich daraus die Geschichte konstruieren, dass er als Deckel abgehoben und daneben abgesetzt wurde. Die kantige Spur in der Erde könnte daher rühren, dass er beim Öffnen kurz abgesetzt wurde und dabei einen bleibenden Eindruck in der Erde hinterließ. Merkwürdig ist allerdings, dass diese rechtwinklige Linie als feine Lichtspur die Erde zeichnet. Denn ein solches Phänomen kennen wir – abgesehen von Vulkanausbrüchen oder Lichtreflexen auf Wasseroberflächen – nicht in unseren Alltagserfahrungen. „Hier aber haben wir eine geradezu künstliche Spur von Licht, eine Art Riss in der Wirklichkeit, zugleich ein Freiraum …“ (Andreas Mertin in „Gegenüberstellung“, 2014, S. 90)

Dieser spannungsvolle Freiraum lädt ein, selbst nach Bedeutungen zu suchen, diesen „Riss in der Wirklichkeit“ zu nutzen, um zu hinterfragen und neue oder andere Welten kennenzulernen. Denn so sehr der rechte Quader verbirgt, offenbart der linke Kasten. Der Kontrast zwischen den beiden Objekten verstärkt und fördert diese Bewegung. Das Spiel mit den Texturen regt an, haptisch zu begreifen und mit allen Sinnen zu erfahren: Das dunkle, glatte, stahlharte Metall auf der einen Seite, die warme, körnige, griffige Erde mit der Lichtspur auf der anderen Seite.

Werden hier nicht Tod und Leben thematisiert? Haben die beiden Quader nicht menschenähnliche Dimensionen? Erinnern sie durch ihre Kastenform nicht an Särge, in denen wir unsere Lieben begraben, der Mutter Erde zurückgeben? – Die Erde im Behälter mag erstaunen, erinnert aber, dass wir aus „Staub sind und zu Staub zurückkehren“. Sie symbolisiert unsere Vergänglichkeit, aber auch unsere Fruchtbarkeit und das Potential, das in uns steckt. Vor allem das Potential, Licht zu werden.

Die feine Lichtspur signalisiert, dass wir es in unserem Innern schon sind. Aber dieses ungeschaffene Licht ist unter einer irdischen Hülle verborgen. Die gute Nachricht: Es ist nicht unzugänglich weggesperrt, wie es der rechte Block suggerieren könnte, sondern wird schon durch geringe Veränderungen, oft sind es gerade Verletzungen, zugänglich und sichtbar. Die feine Lichtspur sagt damit: In dir steckt mehr! Ihre leichte Hakenform: Das ist gut so! Du musst dich nicht verstecken!

Die Lichtlinie offenbart damit und verweist auf eine immaterielle Gegenwart in allem Geschaffenen. Sie vermag die Seele anzudeuten und ihre Sehnsucht, im Leben Licht zu werden und nach dem Tod ins ewige Licht einzugehen. Damit deutet sie auch Gottes Gegenwart in uns an, die Quelle und das Ziel unserer Sehnsucht.

Diese Arbeit ist abgebildet in: Gegenüberstellung – Brücke zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem und wird von Andreas Mertin auf den Seiten 90-92 hervorragend beschrieben und gedeutet. Das Buch wurde herausgegeben vom Bischöflichen Ordinariat Regensburg anlässlich der Ausstellungen zum 99. Deutschen Katholikentag 2014 in Regensburg. Erschienen bei Schnell & Steiner Regensburg, 112 Seiten, 88 farbige Illustrationen, 21 x 26 cm, Hardcover, ISBN: 978-3-7954-2895-2, 19,95 Euro

Suchen und Finden

Kontrastreich steht die glatte lichte Gebäudehülle in einem feingliedrigen dunklen Umfeld. Ihre Vorderseite ist offen, lädt zum Eintreten ein. Doch kein Weg führt durch die unwirtliche Umgebung zu ihr hin. Ringsum dieser fellartig dichte Stangenwald, schwarz verkohlte Baumstümpfe vielleicht, ast- und blattleer, ganz ohne Leben.

Mitten in dieser Einöde also das Gebäude: „hausartig, einräumig, selbst wie hineingelandet – oder herausgewachsen? Über die Maßen hoch; über den dunkelrestigen Stämmen steht es; fremd, ein Leuchtbau, ein Lichtort. Groß und große Stille. Dreiwandig; die vierte, die vordere Seite nur Öffnung. Ein Dastehen, wartendes Geschehnis, aus dem Zentrum gesetzt und doch die Mitte der Installation. Im Fundament schon erhaben: Anwesenheit. Ruhend. Mysterienhaus, ein Geheimes. Von irgendwoher beleuchtet? Aus sich selber strahlend? Ringsum dicht gereiht Stecken, ein verschwiegener Platz (Seitenansicht).

Eine anziehende Entdeckung. Dabei einfaches Material: Schwarze Drahtstücke sind in die Holzunterlage gesteckt, das Haus ist aus hellem, ausstrahlendem Kunstharz entstanden; schön und märchenhaft; ein Haus für Poesie und Musik. Und für die Feier, eine große, seltene, vielen noch unbekannte Feier müsste das sein. Und es hieße darin: Erhebet die Herzen. Für ein Kommen, für die Ankunft, die noch gar nicht ersehnte …

Der Raum erwartet, er empfängt zum Fest, zum Hören, er ist Atmen. Er lädt zur Musik. – Aber die Arbeit von Alois Achatz ist kein Traumstück, vielmehr ein Bild der Realität: Denn es steht wie im Versengten. Wie abgefackelt die Pfosten, Bäume oder was sie auch waren; eine Dunkelwelt, in der sich mühsam das Leben neu zu organisieren hat.

Wenn ich in die Stämme hineintreten will, finde ich mich am Dickichtgewirr, im Baumrestbestand. Ich suche um die Stöcke herum ins Innen. Mein Jahr in der Niemandsbucht von Peter Handke fällt mir ein: Wie der Icherzähler sucht, nach Pilzen und nach mehr, nach viel mehr. Und wie er Sucher erlebt. Wie die Menschen durch den Wald suchen, nach Pilzen. Nicht nach mehr? Handke fragt, wie man ein guter Sucher wird: Indem man nebenbei sucht, sich nicht verkrampft in lauter Absicht, auch im Unscheinbaren sucht, in Licht und Gegenlicht. Und in der Ruhe, voller Stille. Bereit für die Überraschung (vgl. Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, suhrkamp taschenbuch 3887, S. 522- 525).

Alois Achatz hat mit dieser Installation eine Suchersituation, eine Suchlockung gebaut. Und die Chance des Findens, des Mehr-Findens. Und nochmals erinnert mich sein Kunstwerk an eine Erzählung von Peter Handke: Der große Fall: Ein Schauspieler geht und läuft den Tag lang in die große Stadt, von außen her, durch die Ränder, in den Abend, zu einer Veranstaltung, zu seinem Leben. Durch das Land, an Menschen vorbei. Es überkommt ihn der Hunger, ein riesiger: Ein Hunger nach Speisen; nach der Frau; nach mehr; nach viel mehr … nach dem Geist. Der hungernde Stadteinwärtsgeher, Vorbeigeher, Menschenseher meint sterben zu müssen, wenn er nicht sofort den Geist findet. Und die Mehr-als-Speise. Veni, Creator Spiritus, so erfüllt es ihn. Glocken hört er, dem Klang geht er nach; er findet eine kleine Kirche. Und die ist offen. Und es ist Messe. Und eine Heiterkeit geht von der Eucharistiefeier aus in sein Weitergehen (vgl. Peter Handke, Der große Fall, Suhrkamp 2011, S. 173 f). Ähnlich stellt Alois Achatz uns das Suchen ins Bild. Und das Finden des Lichthauses. Er baut uns die Einladung zum Hunger, zum Hören der Glocke, zum Betreten seines Werkes. Zum Suchen des Mehr, des Noch-viel-Mehr.“ (Textzitate und -änderungen mit freundlicher Genehmigung von Josef Roßmaier aus dem Buch Gegenüberstellung, S. 42, siehe unten)

Dabei verkörpert das weiße Gebäude einen Ort der Sehnsucht, der Unversehrtheit und Reinheit, gerade für Menschen, die von Unruhe erfüllt oder bereits innerlich ausgebrannt sind. Es schützt und gibt gleichzeitig neuen Bewegungsraum. Es bildet einen Kraftort, in dem die Sehnsucht nach Leben durchatmen kann. Und allen anbietet, in den unendlich größeren Lebensgeist Gottes einzuatmen.

Gegenüberstellung – Brücke zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Hrsg. vom Bischöflichen Ordinariat Regensburg anlässlich der Ausstellungen zum 99. Deutschen Katholikentag. Regensburg 2014, 112 S., 88 Abb.,  ISBN: 978-3-7954-2895-2

Zum Gedenken an die Spurlosen

Unzählige weiße Stoffschilder hängen im Raum. In sie sind zwischen zwei Kreuzen, die wie Anführungs- und Schlusszeichen wirken, Zahlen und Namen gestickt. Schwarz ein Datum, dann in Rot ein Vorname und ein Name, danach wieder in Schwarz eine Altersangabe. (Detailbild). Jedes Schild erinnert an einen Verstorbenen. Sie alle eint, dass sie 2005 in München verstorben sind, allein und ohne Angehörige, „die Spuren seines Lebens in ihrem Leben weitertragen …“.

289 Namensschilder hängen so über den Köpfen der Besucher. Man muss den Kopf heben, zu ihnen aufschauen, um ihre Namen lesen zu können (Detailbild). Das rote Garn, mit dem der Name gestickt ist, wurde nicht direkt nach dem Namenszug abgeschnitten, sondern hängt lange in den Raum herunter. Symbolisch führt „der rote Faden“ durch den Namen und damit durch das Leben und die Persönlichkeit der Verstorbenen in unsere Welt hinein und schafft posthum Berührungspunkte, wenn er die Körper der Betrachter streift. Der Lebensfaden der Verstorbenen ist abgeschnitten, aber mit der Installation wird ihr Leben gewürdigt und geeint durch ihr Schicksal wird ihrer über den Tod hinaus gedacht.

Das genähte Stoffschild (Detailbild) erinnert an das Papierschild, das früher mit Namen und Todeszeitpunkt versehen den Leichen zur Identifizierung an den Zeh gebunden wurde. Auch schlägt das Stoffschild eine Brücke zum Vorgehen der städtischen Bestattungsbeamten. Nach der Klärung der Todesursache in der Pathologie wird der tote Körper ungewaschen in einem Plastiksack in den Sarg gelegt. Die evangelischen Gläubigen werden eingeäschert, die katholischen Gläubigen bleiben im Sarg. Die Beerdigung findet in der Regel ohne Feier statt. Nach einer kurzen Aufbahrung in der Aussegnungshalle werden die Toten als „stiller Abtrag“ zum Grab gebracht, weil meistens niemand da ist, der dem Sarg oder der Urne folgt und dem Verstorbenen damit das letzte Geleit geben würde. Die Gegenstände, mit denen der Verstorbene ein Leben lang gelebt hat, landen bei Nachlasssammlern oder im Sperrmüll. So wird die Wohnung aufgelöst, entleert, so werden alle Lebensspuren nach und nach verwischt und ausgelöscht.

Die Gedenkinstallation wirkt still gegen das Vergessen. Sie macht nachdenklich. Sie lässt an die vielen Menschen in unserer Gesellschaft denken, die ohne Verwandte oder Freunde an der Seite einsam und verlassen sterben. Sie lässt an die unzähligen Kriegs- und Flüchtlingsdramen (Stichwort Lampedusa) denken, in denen viele Menschen ähnlich spurlos verschwinden (Detailbild).

Die Namensschilder sind an einem weißen Faden aufgehängt. Sie sind von oben gehalten. Wir Christen glauben, dass Gott niemanden vergisst, niemanden fallen lässt. Das ist uns Hoffnung, darf aber keine Entschuldigung sein, im Bereich des Möglichen nicht selbst aktiv zu werden. In dem Sinne ist die Gedenkinstallation auch ein Aufruf zu mehr Mitmenschlichkeit, zu mehr Nähe, zu mehr Herzlichkeit, damit es gar nicht zu Situationen kommt, in denen Menschen spurlos verschwinden, einsam sterben oder still abgetragen werden.