Trio natale – Verborgene Gegenwart

Verwirrt und irritiert wandert der Blick zwischen den verschiedenen Elementen dieser Krippeninstallation hin und her. Irgendwie will so gar nichts in die gängigen Bildvorlagen und -erfahrungen von Weihnachtskrippen passen: weder der sperrige Wäscheständer noch die festgeklammerten Bildtafeln mit den Umrissen von Krippenfiguren, noch das vergoldete Wandbild darüber, dessen Mitte leer ist.

Immerhin sind auf den Bildtafeln mit etwas Glück in Leserichtung die heiligen drei Könige, der Esel, die Hirten, der Ochs, Josef, Maria mit dem Jesuskind, ein Stall und der Engel zu erkennen. Wie Wäschestücke sind sie mit Holzklammern am Draht befestigt, nicht hängend, sondern stehend, auch wenn die Schatten einen anderen Eindruck vermitteln.

Die Befestigung der Bildtafeln wirkt improvisiert, vorübergehend, so wie dieser Ständer nicht als Bleibe für die Wäsche vorgesehen ist. Der mobile Wäscheständer mit X-Beinen bietet der heimatlosen Truppe einen vorübergehenden Ort zum Verweilen. Er gibt denen, die in sozial labilen Strukturen leben, trotz seiner wackeligen Konstruktion einen festen Halt, damit sie auf ihm stehen, sich zeigen und sichtbar werden können.

Von unten nach oben betrachtet bildet die Installation ein „Trio natale“, ein „Weihnachtstrio“: Wäscheständer, Krippenfiguren, vergoldetes Wandbild. Der Wäscheständer steht für unsere Zeit, für die Gegenwart. Wäschewaschen gehört zu unserem Lebensalltag wie Essen und Schlafen. Die bescheidene Konstruktion und die kreuzförmigen Beine rücken die knappen Mittel vieler Haushalte und die Mühe und Last der Hausarbeit an die Krippe heran.

Doch genau an diesem Ort, unerwartet inmitten unseres Alltags offenbart sich Gottes Gegenwart in der Geburt seines Sohnes durch Maria. Völlig überraschend, wie bei einem Wunder, stehen die Bildtafeln und weisen unauffällig auf das Wandbild darüber. Die in Umrissen gezeichneten Figuren stehen stellvertretend für Arme und Reiche, für die Menschen vom Land wie aus der Stadt. Die Silhouetten sind Werken berühmter Künstler entnommen und gleichzeitig so offen, dass der Betrachter in den einzelnen Figuren eigene Bilder sehen kann, ja in ihre Rolle schlüpfend einen Platz unmittelbar an der Krippe, beim Jesuskind, finden kann.

Jesus will in dieser Installation gesucht werden, auch wenn er wie Maria zweimal dargestellt ist: Geborgen bzw. verborgen in der Gestalt seiner Mutter ist auf der hell beleuchteten Bildtafel vorne rechts und im goldenen Wandbild jeweils links vom Kopf Mariens eine Auswölbung zu sehen, die im Original vom Kopf Jesu stammt. Die Frage bleibt: Wieso ist Jesus gerade da, wo sich alles um ihn dreht, kaum bis gar nicht zu sehen? Ist er nur noch abwesend gegenwärtig? Ist er in unserem durch eine allgegenwärtige Informationsflut und materielle Fülle gekennzeichneten Leben nur noch in den Zwischenräumen als Negativbild da? Unsichtbar in den aus einer fernen Epoche, mit der wir nicht mehr viel gemein haben, entlehnten „Krippenfiguren“?

Das quadratische Wandbild mit der ausgesparten Abbildung der Sixtinischen Madonna von Raphael bildet den Höhepunkt im vertikalen Aufwärtsstreben. Im Gegensatz zum ärmlichen Wäscheständer, der geerdet auf dem Boden der Tatsachen steht, bringt das goldglänzende Wandbild eine überirdische Komponente in die Installation. Außergewöhnlich in seiner Leuchtkraft, erhoben über der bescheidenen Krippe auf dem Wäscheständer, bewirkt das Bild eine Verherrlichung der Gottesmutter und ihres Kindes. Die schwebende Darstellung verknüpft die abwesende Figur der freien Bildmitte mit der apokalyptischen Frau, deren Kind nach der Geburt zu Gott und zu seinem Thron entrückt wurde, um es vor dem Drachen zu schützen (Offb 12,1-6).

Ähnlich dem Goldgrund einer Ikone weist der vergoldete Rahmen auf die Heiligkeit seiner Mitte hin. Einer Mitte, die offen ist für das sichtbare oder unsichtbare Bild, das durch uns hineingelegt wird: Unsere Vision des Jesuskindes, unser verinnerlichtes Bild des menschgewordenen Gottessohnes, der mitten unter uns gewohnt hat und der durch uns weiterhin in unserer Welt wohnen und wirken will. Wo sich die Zwischenräume füllen, wo die Krippenfiguren lebendig werden, da ist auch für uns das Kind geboren.

„Darum jubelt, ihr Himmel und alle, die darin wohnen.“ (Offb 12,12)

Die Arbeit von Jörg Länger ist im Original bis zum 23. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” target=“_blank“ im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen. Sehr empfehlenswert! 

Momentum der Unendlichkeit

Wenn natürliches Licht in Form von Strahlen sichtbar wird, ist das an sich schon ein Ereignis, denn das Licht selbst ist unsichtbar. In der Architektur geschieht eine sichtbare Lichtführung in der Regel durch Maueröffnungen. Und wenn in Kirchen das Sonnenlicht durch die Fenster gebündelt hereinbricht und choreografiert durch die großen Räume wandert, ist das ein besonderes Schauspiel.

Für die Künstlerin Elke Maier bilden solche Beobachtungen die Vorarbeit für Ihre Installationen, in denen sie Fäden durch den Luft- und Freiraum von Kirchen wie Christ-König in Bochum spannt. Sie sagt dazu: „Ich entwickle meine Arbeiten von Anfang an im kontinuierlichen Dialog mit dem Raum wie mit dem im Raum wandernden Licht, wobei die Form der Werke noch die prozessuale Bewegung ihrer Entstehung erkennen lässt.“ (Maier) Aus diesem Dialog heraus haben sich der solitäre Höhepunkt der Fäden an der Decke und die beiden Kreiselemente mit den vielen kegelförmigen Erhöhungen am Boden ergeben. Dazwischen loten die weißen Garnfäden „den Raum diagonal aus und kulminieren in radialen Strahlenbündeln. Die energetische Fadenführung wirkt ambivalent, da sie sowohl eine Aufwärts- als auch eine Abwärtsrichtung impliziert, die auf dieses Kraftfeld zuläuft bzw. von dort ausstrahlt.“ (Kessler-Slotta)

Als Betrachter steht man zwischen den beiden sichtbaren Polen der Installation und kann den extrem feinen Raumkörper umschreiten und aus unterschiedlichen Perspektiven in wechselndem Licht und vor verschiedenen Hintergründen betrachten. Wie bei einem Spinnennetz ist eine erstaunliche Raumpräsenz bei den dünnen Seidenfäden zu beobachten. Je nach Hintergrund sind sie mehr oder weniger sichtbar, aber dennoch wahrnehmbar. Doch wenn das Sonnenlicht sie kreuzt, beginnen sie zu leuchten und im Reigen ihrer Abstände durch den Raum zu tanzen. Dabei lassen sie den Betrachter in einer künstlerischen Interpretation etwas von dem erleben, was den Kirchen genuin eingeschrieben ist: den Dialog des einzelnen als auch der vielen mit dem einen Gott. Beziehung wird sichtbar. Von oben her kommend können die Fäden als Gnade, Segen, Liebe, Leben oder Barmherzigkeit Gottes gesehen werden. Von unten her als die Antwort der Menschen durch das Leben, ihre Liebe zu Gott, die Gebete, den Dank oder den Lobpreis Gottes.

Dieser durch die gespannten Seidenfäden sichtbar in den Raum eingeschriebene und strahlende Dialog der vielen mit dem Einen ist nicht auf den Kirchenraum begrenzt. Er setzt sich zeitlich und räumlich in ungebundener Form fort. Wie das Licht sich temporär in den dünnen Seidenfäden verfängt und sie zum Leuchten bringt, so lässt Elke Maier mit ihrer Installation ein Geschehen sichtbar und sinnlich anders erlebbar werden, das unsichtbar überall gegenwärtig ist. Darauf weist die spiralförmige Entwicklung der Bodenkreise hin. Entsprechend können auch die geraden Fadenlinien ohne Anfang und ohne Ende gedacht werden – sich im Boden wie über der Decke endlos fortsetzend.  So gesehen lässt die Künstlerin mit ihrer Installation ein Momentum der Unendlichkeit aufleuchten. Sie macht einen Ausschnitt von etwas unendlich Größerem sichtbar und lässt den Betrachter spüren, dass auch er oder sie gleichermaßen ein Momentum der Unendlichkeit am Horizont oder der Schwelle von der sichtbaren zur unsichtbaren Dimension unserer Welt ist.

Weitere Bilder und Einführungstext von Dr. Elisabeth Kessler-Slotta auf der Website der Christ-König-Kirche Bochum

Diese Fadeninstallation „ins Licht geatmet“ war bis zum 8. November 2019 in der Studienkirche St. Josef in Burghausen (Bayern) zu sehen. Hier finden Sie umfangreiche Informationen, Bilder und ein Video zur Installation.

Aufstieg in Frage gestellt

Eine Leiter ragt von der Chorstufe aus in den leeren Kirchenraum. Sie ist mit einem roten Seil am Altar befestigt, von ihm quasi gehalten. Auf ihren Sprossen sind mit Kabelbindern Küchenmesser festgebunden, die auf jeder Sprosse die Richtung wechseln. Ganz oben sind fünf farbige Ballone angebracht.

… es geht aufwärts … hat Hans Thomann seine Arbeit zur Fastenzeit 2020 betitelt. Er spielt damit auf einen Leitgedanken in unserer Gesellschaft an, der tief in unserer Leistungsgesellschaft verankert ist: Wachstum, grenzenloses Wachstum, es soll immer nur aufwärts gehen, alles nur besser werden. Wer nicht immer mehr, wer nicht immer höher hinaus will und mehr aus dem Leben herausholt, gilt schon mal als Spielverderber. Es ist doch erstrebenswert und so gewinnbringend, auf der Karriereleiter Sprosse um Sprosse hochzusteigen, um am Ende Spaß ohne Ende und schier grenzenlose Freiheit zu haben.

Doch die Messer auf den Sprossen erzählen etwas anderes und stellen ein solches Denken in Frage. Wer diese Leiter hochsteigen will, begibt sich auf einen gefährlichen Weg. Jeder Schritt wird einschneidende Konsequenzen haben, wenn er nicht mit Bedacht gemacht wird. Wer diese Leiter hochsteigen will, wird der Selbstverständlichkeit des Könnens beraubt. Er wird vor die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich ist und wenn ja, ob es sich überhaupt lohnt. Was ist der Preis des Aufstiegs, mit welchen Mühen oder Gefahren ist er verbunden? Geht meine Karriere zu Lasten meiner Mitmenschen, der Natur oder gar meiner Gesundheit? Wer muss den Preis für meinen Aufstieg bezahlen?

Die Leiter führt zudem ins Leere. Sie lehnt oben nirgends an, sie endet im Nichts. Wo soll denn der stetige Aufstieg hinführen? Was ist das Ziel meines Tuns? Und nicht zuletzt ist die Leiter nur mit einem roten Seil gesichert, das wie ein seidener Faden am Altar befestigt ist. Wenn die Leiter zu stark belastet wird, kann das Seil reißen oder sich lösen.

Hier wird bildhaft die Gottverbundenheit zur Sprache gebracht und in Frage gestellt: Von was werde ich gehalten, was gibt mir die Kraft, wer gibt mir das Leben? Auf einmal ist die Leiter nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern ein Symbol meiner selbst und die Messer werden zu Symbolen von einschneidenden Ereignissen in meinem Leben, von Hindernissen, die zu überwinden waren, von Verletzungen und Wunden. Sie sind mir auf meinem Lebensweg, in meinem Wachstum und in meiner Entwicklung zugefügt worden. Sie gehören zu mir, sind ein Teil von mir geworden.

Das vom Altar ausgehende rote Seil mutet wie eine verbindende Nabelschnur zu unserem Schöpfer an. Es kann für die haltgebende Liebe Gottes, für die alle Wunden heilende und Sünden vergebende Hingabe seines Sohnes und ebenso für die Führung und Kraft des Heiligen Geistes stehen.

Eindrücklich wird unser Denken, Verhalten und Glauben in Frage gestellt. Im Kontext der globalen Corona-Pandemie hat diese Arbeit geradezu prophetischen Charakter: Wir erfahren, wie klein und verletzlich wir sind. Wir erleben die Kehrseite und Grenzen unserer Fortschritte und Errungenschaften und stellen uns neu die Fragen: Wer leitet mich? Woran halte ich mich fest? Oder vielmehr: wer gibt mir den Halt und die Kraft dazu?

Flyer zur Ausstellung

Text und Bilder zur Installation in der Peterskapelle in Luzern

… dazwischen …

Ein erdfarbener Kreis aus feinster Asche markiert einen beachtenswerten Ort. In ihm findet sich der Fußabdruck eines Menschen. Es ist ein golden leuchtender Freiraum in der Wüste, eine kostbare Hinterlassenschaft, eine fast unvergängliche Spur inmitten der alles beherrschenden Endlichkeit im irdischen Kreislauf. Wie eine staubige Aura umgibt die Asche die beiden goldenen Fußabdrücke, die Zeugen einer königlichen Existenz, eines wunderbaren Lebens. Sie erinnern an die Vergänglichkeit unseres Menschseins, von dem nur Asche und Fußabdrücke übrigbleiben.

Die Gegenüberstellung von Asche und Fußabdrücken bildet ein memento mori und regt an, über den Tod hinauszudenken. Was werde ich der Nachwelt hinterlassen? Etwas Leuchtendes, zu Bewahrendes – oder etwas Verbranntes, Zerstörtes? Leben oder Tod? Wie auch immer hinterlassen wir mit unserem luxuriösen Lebensstil auf der Erde Fußabdrücke, Schritt für Schritt zerstörte Erde, ausgebeutete Natur, Asche!

War das unser Ziel? Glanz und Herrlichkeit auf Kosten der Mitmenschen und des die Erde bevölkernden Lebens? Quo vadis? Wo wollen wir hin in Zeiten des Klimawandels und der sich zuspitzenden Umweltzerstörung?

Umkehr tut Not, Umkehr, wie Jesus sie den Menschen zugerufen hat, die ihm nachfolgten: „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) Eine radikale Lebenswende, die sich auf der Grundlage des Glaubens an den dreieinigen Gott im praktischen Leben auswirken muss. Dass die Fußabdrücke vom Altar wegführen und nicht auf ihn zu, deutet auf die vollzogene Wende hin. Eine von Gott herbeigeführte und bewirkte Wandlung des Lebens, weil die meisten von uns aus eigener Kraft nicht fähig sind, sich demütig klein zu machen und auf die anderen und die Natur Rücksicht zu nehmen.

„Bedenke Mensch, dass du aus Staub bist und zu Staub zurückkehrst“ wird den Gläubigen bei der Zeichnung mit der Asche am Aschermittwoch zugesprochen. „Geburt, Tod, dazwischen“ nennt der Künstler sein Werk. Geburt und Tod liegen nicht in unserer Hand, aber das „Dazwischen“. Nutzen wir es! Denn so vergänglich es auch ist, dieses Dazwischen ist das Leben und der Glanz der Ewigkeit.

Geht es nicht das ganze Leben hindurch darum, für andere Leben zu sein, ihnen Lebenswerte zu vermitteln? Das, was das Leben einzigartig, besonders und kostbar macht? Ist es da nicht naheliegend, in Jesu Fußspuren zu treten, seinem Lebenswandel zu folgen und als Abbild von IHM in meiner Zeit Vorbild ewigen Lebens zu sein?

ASCHENGOLD

Immer gibts Asche, es brennt ja in der Welt, die Welt brennt.
Sie wird also Asche und was nicht brennt, fällt zu Staub.
Aus Staub ist der Mensch und wird wieder zu Staub.
Und verweht. Dann, irgendwann, wie eben Staub.
Selbst wenn er glänzte im Gold.
Er verstaubt und verascht, Tod wird nicht Gold.
Aus Asche wird niemals das Gold.
Goldleer auch jene vom Mensch.
Der ist dann wertlos, heißt es sehr schnell.
Auch wenn er viel galt zu seiner Zeit
und im Fleisch voller Geist.

Man sagt, er ist Asche und Staub. Trotz massenhaft Gold.

Aber vielleicht liegt in der Asche noch Gold?
Und man scharrt´s aus.
Und hat Gold.
Und hat dennoch verspielt.
Man hat ja nur zeitkurz das Gold: Nur bis Asche aus Tod.

Denn keiner ist Gold. Wer wär schon goldwert und goldlang?

Gold ist brandzäh. Es bleibt liegen im Brand,
es hält die Glut aus,
es übersteht und glänzt auf und gilt neu,
es ist nicht zur Asche verhitzt.
Nicht Asche das Gold.
Es zeigt Spuren von dem, was einst war, das zur Asche verdarb.
Es bleibt Gold.

Gold verascht nicht. Und vergeht doch, es verbleicht.
Am Ende ist Nichts. Auch Gold nicht mehr da.
Selber weg. Ohne Spur. Wie verzischt.

Weg? Alles weg? Selbst das Gold und sein Wert. Und der Mensch?
Mehr wert als jegliches Gold ist der Mensch, heißt es auch:
Der Mensch, der viel eher verglüht als das Gold:
Er gilt mehr. Er ist Mensch und er lebt. Der Mensch liebt.
Er macht was aus Gold. Und verascht doch. Der Mensch stirbt.
Er ist tot – wie auch Gold.
Er ist nicht einmal Gold. Asche ist er. Und Asche wird nicht zu Gold.
Gold hält viel aus und glänzt lang. Es ist aber tot und verliert mal den Wert.

Doch der goldleere, tote Mensch lebt. Er bleibt anders als Gold. Noch im Tod.
Er ersteht. Verwandelt ist er in GOTT. Er setzt Spuren in aschigen Staub:
Gottes Spuren und Bild und Realität.

(Josef Roßmaier)

Gottes Liebe ist ausgegossen

Visionär ist die Schau, in der sich das Licht aus der Höhe in die menschliche Dunkelheit ergießt und sternförmig über einer winzigen Menschengruppe aufstrahlt. Denn dass ein Gott, der per se überirdisch, ewig und damit transzendent ist, sich entäußert und Menschengestalt annimmt, ist schlichtweg unvorstellbar.

Doch weil bei Gott nichts unmöglich ist, kam er in Jesus Christus zu uns auf die Erde und wurde durch Maria Mensch. Diesem Wunder nähert sich die Künstlerin ebenso wie die Heilige Schrift in Symbolen.

Gott ist Licht. Seine Ewigkeit wird durch die Kreisform, die keinen Anfang und kein Ende hat, beschrieben. Im Innern dieses Kreises erzählen wunderbar bewegte rote und gelbe Linien, dass Gott die Quelle des Lebens ist. Im weißen Herz kommt zum Ausdruck, dass Er reine schöpferische Liebe ist, die über sich hinauswachsen will. Davon erzählt die Schöpfungsgeschichte, die mit der Erschaffung des Lichts begann und mit der der Menschen endet (Gen 1,1-31).

Jesus ist das Licht der Welt, weil er aus dem Licht kommt. Durch die Parallelen zur Schöpfungsgeschichte verankert der Evangelist Johannes im Prolog seines Evangeliums Jesus in Gott, wenn er schreibt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,1-4)

Mit Jesus schenkt Gott seiner Schöpfung einen Neuanfang. Doch dieses Mal geht es nicht um die Erschaffung einer materiellen Welt, sondern um die Erneuerung des Menschen. Deshalb schreibt Johannes: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. […] Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut […], sondern aus Gott geboren sind.“ (Joh 1,9.12.13d)

Jesus ist der Erstgeborene dieser neuen Schöpfung. Im Bild ergießt sich das Licht in die Dunkelheit hinein. Es bahnt sich einen bleibenden Weg durch die Dunkelheit und explodiert förmlich in einem großen leuchtenden Stern über der kleinen Menschengruppe. Diese ist aus Wachs geformt und vor dem unteren Bildrand auf einer Zündholzschachtel erhöht angeordnet. Maria im blau-roten Kleid kniet anbetend vor der Krippe ihres Neugeborenen, Josef steht als Hirte gekleidet daneben.

Die Künstlerin hat mit dem gekneteten Wachs symbolisch den neuen Adam geschaffen. Indem sie ihn figürlich geschaffen hat, ließ sie das (gemalte) Licht Materie annehmen. Sie bildet damit ab, wie „das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14a).

Die Streichholzschachtel ist ein Hinweis, dass wir uns aufmachen, uns begeistern und anzünden lassen, und so Licht werden sollen. Sein Licht will wie der Stern im Bild in uns leuchten. Denn die schwarze Fläche im Bild ist mehr als ein effektvoller Hintergrund. Sie ist die symbolische Darstellung alles Dunklen in unserem Leben. Sie ist Ausdruck unserer Verlorenheit ohne Retter. Sie zeigt unsere Sehnsucht nach Licht, nach Erleuchtung und Orientierung, letztlich nach Gott.

Carola Wedell führt uns mit ihrer visionären Schau erneut die großen Zusammenhänge der Geburt Jesu vor Augen. Und alle, die von seinem Licht erleuchtet sind, die sein Wort in sich aufnehmen und ihm Wohnung geben, können staunend in das Bekenntnis des Johannes einstimmen: „Wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14b).

Die Arbeit von Carola Wedell war in der 79. Telgter Krippenausstellung „Auf der Suche nach dem Licht der Welt“ im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen. 

Wahrheit

Drei unterschiedliche Elemente bilden ein erzählerisches Ensemble. Die Abbildung der Stoffe und Perlen in der linken Arbeit, die Proportionen und Umrisse der beiden anderen Arbeiten weisen in dem modernen Bilderrätsel auf eine weibliche Hauptdarstellerin hin. Dabei verbindet die hellblaue Farbe die linken beiden formal, die lichte Farbigkeit die äußeren beiden Arbeiten.

Ungewöhnlich ist die Ausweitung der blauen Stoffelemente in der Fotografie durch das Anfügen von seitlichen Flächen. Dadurch wächst die rechteckige Fotografie in den Raum und es können in den blauen Flächen Ärmel eines größeren Gewandes gesehen werden.  Der Bildausschnitt von vorne spielt mit der Gesamtansicht von hinten der mittleren Figur und der kleinen Gesamtansicht in der Mitte der Fotografie. Im Zentrum dieses rechteckigen Ausschnitts wird – umspielt von den Perlen eines Rosenkranzes – in einem kleinen Medaillon auf Maria hingewiesen. Als gläubige Frau hat sie uneingeschränkt JA zu Gott gesagt (Lk 1,38) und dadurch die Wahrheit erfahren, dass Gott zu seinem Wort steht und er als Schöpfer der Welt durch einen Menschen Mensch geworden ist.

So wie sich Gott „entäußert“ (Phil 2,7) hat, um Mensch zu werden, scheint die rechte Figur darauf hinzuweisen, dass sich auch der Mensch „entäußern“ muss, wenn Gott in seinem Leben Platz haben und groß werden soll. Die Frauenfigur auf Zehenspitzen und mit erhobenen Armen zeigt sich im Profil  beim Entkleiden ihres Obergewandes. Sie zieht alles Überflüssige aus, entledigt sich ihrer Kleider, kehrt das Innere nach außen oder macht es zumindest sichtbar. Es ist, als wolle sie im Gegensatz zum Artefakt ganz links sagen, dass die Wahrheit nicht in äußeren Dingen und Symbolen liegt, sondern im Innern, im Herzen verborgen. Weil bei Gott nicht die Äußerlichkeiten zählen, sondern die innere Haltung.

Die beiden Gipsfiguren sind in genähten Stoffbeuteln gegossen worden. Die textile Prägung ist ihnen nach dem Entfernen der Stoffe auf der Oberfläche geblieben. Wie auch immer wir uns Gottes Wahrheit öffnen, die Silhouette und der textile Abdruck weisen darauf hin, dass wir erdgebundene Menschen bleiben. Wohl dem, der sich entsprechend demütig verhält, sich klein macht, gering schätzt. So wie Maria. Wo wir – wie sie – unsere Menschlichkeit von Gottes Wort durchdringen und prägen lassen, wird sich uns eine Wahrheit offenbaren, die im Glauben alles irdische Erkennen übersteigen und damit das Verborgene sichtbar machen wird.

Die Arbeit von Andrea Hess war für den Kunstpreis der Erzdiözese Freiburg 2019 nominiert und im Rahmen der Ausstellung WAS IST WAHR an verschiedenen Orten Deutschlands zu sehen (siehe Ausstellungshinweise). Der Katalog zum Kunstpreis ist beim Mondo Verlag erhältlich.

Mystische Präsenz

Eine hölzerne Spindelform hängt mittig über einem tiefblauen Kreisrund. Spannungsvoll sind mehrere Gegensätze inszeniert: das hängende Längliche über dem flachen Liegenden, das helle Glatte schwebt über der dunkel aufgerauten Oberfläche der Erdschollen, die vergoldete Spitze bildet einen kraftvollen Höhepunkt gegenüber der tiefblauen Fläche unter ihr.

Die einzelnen Elemente als auch ihre Interaktionen bringen vieles zur Sprache. Das Bodenrund lässt durch seine Position an Wasser und das Meer denken, seine intensive blaue Farbe bringt zudem die unendliche Weite des Weltalls ins Spiel, die runde Form wiederum mag an Bilder aus dem Weltall erinnern, die unsere Erde als einen blau leuchtenden Planeten zeigen. Durch seine außerordentliche Farbintensität und die Kreisform wirkt das Bodenelement transzendierend.

Das zentrierende und erhebende Element in der Installation ist die Holzspindel. Ihr Material erinnert an den Kreislauf des Wachsens und Vergehens von allem Irdischen. Sein runder Querschnitt nimmt den Bodenkreis auf, die beiden spitzen Enden bilden eine vertikale Achse, die oben vom Seil fortgesetzt wird und nach unten auf die unsichtbare Mitte des Bodenkreises weist. Die absolut symmetrische und gleichmäßige Form im Längen-Breiten-Verhältnis von etwa 3:1 gibt dem Holzobjekt eine schlichte Schönheit. Zusammen mit dem leicht schwingenden Schwebezustand und der „Krönung“ mit einer Schicht Blattgold schaffen sie eine überirdische Präsenz, die durch eine unsichtbare Kraft von Oben gehalten wird und besonders ausgezeichnet wurde.

Damit ist die Installation offen für tiefergehende Deutungen. Unter anderem kann die Spindelform als stilisiertes Zeichen der Offenbarung Gottes – wie es der Mandorla zugeschrieben wird – gesehen werden. Hier ist es eine dreidimensionale Mandorla – nicht aus ungeschaffenem Licht – sondern aus irdischem Holz, entrückt und doch von oben gegeben als Tor zum Himmel. Die schlichte und makellose Erscheinung mit ein wenig Blattgold vermag damit symbolisch auf Maria und ihre Aufnahme in den Himmel und ihre Krönung hinzuweisen. Sie ist die Stella maris, der helle Stern über dem Meer, der allen auf dem „Meer des Lebens“ die richtige Richtung weist. Das Blau des Erdhügels kann sich auch auf den über der ganzen Erde ausgebreiteten Mantel Mariens beziehen, den sie wie in Kirchenliedern besungen über der ganzen Christenheit zum Schutz vor Gefahren ausbreiten soll.

Die Spindelform könnte auch ein Symbol für Jesus sein, der für uns Mensch geworden ist, damit wir durch ihn zum Vater finden. Er ist erhöht worden, damit alle zu ihm aufschauen und durch ihn gerettet werden.

Nicht zuletzt lädt die Installation zur Meditation ein, zum Ruhig-Werden mit und in all unseren Bewegungen. Sie lädt mich ein – und in dem Fall wird das Pendel zu einem Symbol für jeden von uns – mich immer wieder neu auf die geheimnisvolle Gegenwart Gottes in mir einzupendeln, in Einklang zu kommen mit Ihm, damit Er auch durch mich in der Jetzt-Zeit Gutes bewirken kann.

Die Installation war 2018 im Rahmen der Ausstellung Maria ImPuls der Zeit zum Fest Maria Himmelfahrt in Warendorf zu sehen. 

Heiliger (Frei-)Raum

Auf der Wiese neben der Michaelskirche in Gräfelfing bei München wurde mit Baumscheiben aus einem Pappelstamm ein großes lateinisches Kreuz ausgelegt. 13 x 3 Schreiben in der Länge, 9 x 3 Scheiben in der Breite. Seine Ausrichtung ist geostet. Dadurch liegt es nicht parallel zu den Grundstückgrenzen, sondern quer. So wird das Kreuz mit der aufgehenden Sonne verbunden und vermag auf eine andere, unsichtbare Wirklichkeit zu verweisen.

Die dünnen Baumscheiben künden zuerst aber von einem Baum, der über Jahrzehnte gelebt hat. In der Erde verwurzelt hat er seinen Halt gefunden, um hoch in den Himmel zu wachsen. Nun liegt sein Stamm in Scheiben geschnitten und als Kreuz ausgebreitet auf der Wiese, auf dem Boden. Man könnte meinen, dass alles Leben aus dem Holz gewichen ist und das Scheibenfeldkreuz nur noch vom Tod des einst stolzen Baumes und von den Qualen des Zersägens zu erzählen vermag.

Doch das Zusammenwirken von Erde und Himmel auf die sich im Zwischenraum Befindlichen geht weiter. Von der Erde stieg kontinuierlich die kühle Feuchtigkeit ins Holz, während vom Himmel abwechselnd Licht, mehr oder weniger große Wärme und Regen auf die Holzscheiben einwirkten. Zuerst wurde die Ringspannung so groß, dass eine Scheibe nach der anderen bis in die Mitte barst und einen V-förmigen Ausschnitt freigab. Dann begannen sich die Scheiben zu verbiegen und zu verformen. So kam neues Leben in das Holz. Es wurde gleichsam von außen dazu bewegt. Spielerisch, ohne menschliches Zutun. Sie erwecken den Eindruck eines Tanzes, als würden sie sich drehen.

Allerdings sind auch diese spannungsvollen Bewegungen begrenzt und vergänglich. Denn eines Tages werden die Scheiben entfernt und es wird nur die Zeichnung des Kreuzes im Gras übrigbleiben: gelblich weiße Grashalme, die nach Licht hungern. Und es wird wieder eine Weile dauern, dann werden auch diese Markierungen nur noch Erinnerung sein, weil wieder Gras darüber gewachsen ist.

Das mit Baumscheiben markierte Kreuz eröffnet somit einen Freiraum, der anschaulich anregt, über das Leben und die jeder Zeit eigene Schönheit nachzudenken. In den Bewegungen des Wachsens und Vergehens wird die Vergänglichkeit sichtbar und in ihrer Einzigartigkeit kostbar und schön. Unsichtbar vermag die Kreuzform zudem auf die Kraft von Glaube, Hoffnung und Liebe in unserm Leben hinzuweisen: auf die göttlichen Ressourcen, in allen Situationen des Lebens das Gute und damit das Heilige zu suchen und darin zu bestehen. Über die Zeit und die Vergänglichkeit hinaus … in IHM … und in Ewigkeit.

Diese Arbeit 2018 ist im Rahmen der Ausstellung Glaube – Hoffnung – Liebe. Kunst an sakralen Orten bei der Michaelskirche in Gräfelfing bei München entstanden. Hier finden Sie umfassende Informationen zur Ausstellung.

Niemand wird sie benutzen – oder doch?

Buch um Buch stapeln sich über 130 Bibeln in schwindelerregende Höhe. Jedes Buch liegt leicht versetzt über dem anderen, so dass sich eine dynamische Treppe ergibt, die zuerst nach hinten, dann nach links oben führt, um dann noch weiter nach hinten anzusteigen.

Von verschiedenen Seiten gesehen ist es ein sehr schiefer Turm, der sich in die Höhe schraubt. Er gleicht einer suchenden Bewegung, die sich mal nach links, dann wieder nach rechts in die Höhe wagt. Symbolisch steht die Bücherskulptur für den Menschen in seiner Gottessuche. Die Büchertreppe hat kein Zwischenpodest, auf dem zwischendurch eine Pause eingelegt werden könnte. Schritt um Schritt geht es weiter. Ohne Geländer, ohne Absturzsicherung. Was für ein Wagnis! Was braucht es für einen Glauben, sich auf so einen Weg einzulassen und zu hoffen, dass er trägt und vor allem nicht ins nirgendwo, sondern zu Gott führt.

Die Installation von Jochen Höller führt vor Augen, dass das Wort Gottes eine Stiege zum Himmel, zu Gott selbst ist. Das Wort Gottes ist eine Tritthilfe in ungeahnte Höhen und göttliche Welten. Es hilft sich zu erheben, Gott zu suchen und ihm zu vertrauen. Es hilft, sich auf den Weg zu machen.

Die Arbeit führt aber auch vor Augen, dass niemand diese Bibeln, die bislang schon nicht benutzt worden sind, benutzen wird. Ins Kunstwerk integriert, können sie nicht mehr geöffnet werden. Doch die Bibel muss ein offenes Buch sein, sonst kann Gottes Wort nicht lebendig werden. Die Bibel muss ein offenes Buch sein, damit Gottes Wort wirken kann, damit die göttliche Weisung zu den Menschen gelangen kann, damit die Menschen nicht nur menschlich miteinander umgehen, sondern göttlich.

Durch ihre Dynamik und Symbolkraft passt die Skulptur wunderbar in die 2004 von den Architekten Ulrich und Ilse Maria Königs in Burgweinting erbaute Kirche, „die sich öffnet zum Himmel und Geborgenheit gibt auf Erden“.

Jochen Höller hat mit der Skulptur seiner Himmelsleiter Mitte Mai 2018 beim Wettbewerb des Katholischen Bibelwerks Austria gemeinsam mit dem Bibelwerk Linz „Transformiert statt ausrangiert“ den 1. Preis gewonnen! „Die Schlichtheit und die spirituelle Gesamtaussage des Kunstwerks sowie die Professionalität der Umsetzung haben die Jury überzeugt“, heißt es in der Begründung.

Die Bücherskulptur war im Sommer 2018 in der Katholischen Kirche St. Franziskus in Regensburg-Burgweinting installiert.

Sich in den Frieden retten

Bilderrätsel haben es so an sich, dass ihre Elemente für den Betrachter nur Vermittler zur wesentlichen Botschaft sind. Diese ist unter den Zeichen verborgen und wird erst durch das Enträtseln des Symbols sichtbar.

In der vorliegenden Arbeit bildet der Bildausschnitt eines wie zufällig unter einem Fluchtwegschild an die Wand gelehnten Blindenstocks den Anreiz, dem Bildrätsel nachzugehen und die eigenartige Erscheinung zu ergründen. Zuerst mag auffallen, dass die Zeichen auf dem Schild verändert worden sind. Anstelle des rechteckigen Symbols für die Tür ins Freie hat der Künstler das Symbol für „peace“ – Frieden gesetzt. Die Botschaft des Schildes heißt jetzt in etwa „Suche den Frieden“ oder „Dein Fluchtweg ist der Frieden“, „Rette dich in den Frieden“.

Dass diese Suche des Friedens, dieses aus den mit Unfrieden angezündeten und brennenden Häusern, Räumen und Gemeinschaften Flüchten nicht so einfach ist wie auf dem Schild dargestellt, darauf weist der Blindenstock hin. Der Friede ist da, doch wie Blinde sehen wir ihn meistens nicht. Wir vermögen ihn oft nicht zu erkennen und suchen ihn wie Blinde mit den verschiedensten Hilfsmitteln, vor allem in Notsituationen, eben wenn Unfrieden im Haus ist und sein zerstörerisches Unwesen treibt.

Und doch ist der Frieden so nah. Er könnte bei mir beginnen. Es liegt in meiner Hand, es gehört zu meinem Vermögen, Frieden zu stiften. Ja, ich kann Friedensstifter sein, doch gleichzeitig ist es schwer, den Frieden zu bewahren und nach einem Bruch wiederherzustellen. Er ist so zerbrechlich …, gerade bei großer Unzufriedenheit und starken Zerwürfnissen scheint der Frieden oft eine Sehnsucht zu bleiben. Und obwohl die Sehnsucht nach Frieden grenzenlos ist, obwohl man ihn sich wie nichts anderes wünscht, tappt man bei der Suche oft im Dunkeln.

Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb u.a. die katholischen Gottesdienste wesentlich vom Erbarmen Gottes geprägt sind, das in allen Beziehungen Vergebung und Versöhnung ermöglicht. Jesus ist der Friedensstifter, der durch seine Hingabe alles Trennende wegnimmt und die Basis schafft für neue Beziehungen. Er sagt den Gläubigen zu: „Frieden hinterlasse ich Euch, meinen Frieden gebe ich euch,“ und „Gehet hin in Frieden.“

Im Gleichgewicht mit Gott und sich selbst kann das Kunststück gelingen, rücksichtsvoll zu all jenen in unserer Gesellschaft zu sein, die nicht der Norm entsprechen, ja ihnen sogar zuvorkommend zu begegnen. Frieden beginnt im zwischenmenschlichen Bereich in der gegenseitigen Achtung, im behutsamen Umgang miteinander, im Bemühen, niemanden zu verletzen, usw. Der Blindenstock erinnert uns daran, dass wir dafür immer wieder unsere Umgebung nach „Hindernissen abtasten“ und ihnen gegebenenfalls ausweichen müssen, damit der Friede bewahrt wird und niemand zu Schaden kommt. Es liegt an uns, den Frieden zu „retten“ und ihn Tag für Tag „in Sicherheit zu bringen“ vor allen zerstörerischen Kräften. Gott hat uns alle Fähigkeiten dazu gegeben.

Das Herz Jesu vor Augen

Eine Bockleiter, ein antikes Herz Jesu, das früher als ewiges Licht gebraucht wurde, und ein Ei sind zu einer eigenartigen Installation zusammengefügt worden. Jedes der drei Objekte vermag in der Kombination mit den anderen beiden beim Betrachter Irritationen und Fragen auszulösen.

Was hat ein ewiges Licht in Form eines von einem Schwert durchstochenen Herzens mit einer Leiter zu tun? Was mag der Grund sein, dass es ganz Oben aufgehängt ist? Auf der anderen Seite steht die  Leiter mit einem ihrer Holme auf einem Ei und erhält durch die Schräglage einen unsicheren Stand. Andererseits fragt man sich, wieso das Ei von der Leiter nicht zerdrückt wird. Sehrwohl wird es zerdrückt werden, wenn jemand auf die Leiter steigt. Was hat das also zu bedeuten, dass der Künstler die Leiter genau auf das Ei gestellt hat?

Vielleicht werden uns Antworten auf diese Fragen gegeben, wenn wir den Eigenheiten der einzelnen Elemente nachspüren. Eine Leiter wird zum schnellen Hochsteigen an Orten gebraucht, an denen für kurze Zeit in der Höhe gearbeitet werden muss. Deshalb muss sie leicht, flexibel und doch stabil sein. Das Oben und das Unten sind bei ihr entscheidend. Deshalb kann sie auch für eine hierarchische Struktur stehen. Für viele ist es ein Ziel, auf der Karriereleiter schnell nach oben zu kommen. Während es die einen aus eigener Kraft nach oben schaffen, befinden sich die anderen in der Position des Eies und sind auf das Erbarmen oder die Gnade der Vorgesetzten angewiesen, dass diese sie fachlich nach- und damit auch hochziehen.

Das Ei steht für werdendes Leben in seiner ganzen Zerbrechlichkeit. Es ist der überstarken Macht seiner Umwelt ausgeliefert und bedarf deshalb eines übergroßen Schutzes. Die Installation macht deutlich, dass werdendes Leben in jeder Form Umsicht, Vorsicht, Wertschätzung und in der Folge Rücksicht benötigt, um unbeschadet überleben zu können.

Das Besteigen der Leiter ist in diesem Fall nicht möglich, ohne sich vorher zu bücken (= klein zu machen) und das Ei aus der Gefahrenzone herauszunehmen. Symbolisch ist das ein barmherziges Handeln, wie es Jesus ein Leben lang vorgelebt hat.

Die in die Leiter hineingehängte Lampe bringt wie ein Rotlicht bei einer Ampel Jesu Wirken in all unsere nach Oben strebenden Tendenzen hinein. Sie gebietet Einhalt bei einem herz- und gnadenlosen Kampf um die oberste Position, ja verunmöglicht sie einzunehmen. Als ewiges Licht in der Form eines vom Schwert durchbohrten Herzens wird es allen „Emporkömmlingen“ unmissverständlich vor die Augen gehalten, dass der erste Platz Gott gehört und sie sich ihm unterordnen und verantworten müssen.

Das Herz Jesu mahnt alle Aufsteigenden, auf ihr Herz zu hören und gnädig mit Mitmensch und Umwelt umzugehen. Das durchbohrte Herz erinnert, dass nur jemand barmherzig handeln kann, dessen Herz schmerzhaft berührt worden ist, dessen Herz sich vor Mitleid krümmt und wie beim barmherzigen Samariter ein übergroßes Erbarmen bewirkt, das die betroffene Person rettet (vgl. Lk10,25-35).

So ist das Herz Jesu als Vorbild für ein barmherziges und damit gnadenvolles Handeln zu sehen. Jeder, der „nach oben“ will im Leben, soll Jesus vor Augen haben, wie er die Armen und Kleinen im Blick hatte und ihnen zu Ansehen und Leben verhalf. Jeder soll vor Augen haben, dass wahre Größe keine Überheblichkeit kennt, sondern grenzenlose Wertschätzung des Lebens bedeutet. Das gab Jesus auch dem Gesetzeslehrer zur Antwort: „Dann geh und handle du genauso!“

„Gnade walten lassen“ ist für das menschliche Herz nicht einfach, aber jeder kann es, wenn er will. Gertrud von le Fort schreibt: „Gnade ist nicht Gewalt, sondern Freiheit.“ Denn Gnade ist ein Akt der Freiheit und führt in die Freiheit. Sie ist eine wesentliche Zutat zur Erfahrung eines erfüllten Lebens.

Himmelszelt voller Gnade

Zwei weiße Hände von porzellanartiger Beschaffenheit ragen nebeneinander aus der Wand. Sie halten zwei Stricknadeln, die durch einen Draht verbunden sind, der die Maschen hält. Gestrickt wird mit zwei verschiedenfarbigen Fäden: einem mit Gold durchwirkten blauen Faden, der, wie die Hände, aus der Wand kommt, und einem dickeren roten Faden, der unten einem Fadengewirr entspringt. In dieses verstrickt sind menschliche Figuren in unterschiedlichen Körperhaltungen: still betend, im Fadenmeer versinkend oder verzweifelt sich an einem nach oben führenden Faden festhaltend, usw.

Die weißen Hände stricken eine Art Zelt, das auf seiner Außenseite blau und auf der Innenseite rot ist und dem Mantel entspricht, mit dem in traditionellen Darstellungen Maria gekleidet ist. Dabei symbolisiert das Blau den Himmel und Rot die Erde. Entsprechend entspringt der Faden für die blaue Außenseite dem Jenseits, hier ausgedrückt durch sein kontinuierliches Hervortreten aus der Wand. Demgegenüber werden die Menschen, die sich in ihrer Not an Maria wenden, durch die strickende Tätigkeit mit dem roten Faden nach oben und aus ihrer Misere gezogen, gleichzeitig wächst dadurch der Mantel in Richtung Erde und kommt ihnen schützend entgegen.

Maria wird hier nicht als Mensch mit individuellen Zügen dargestellt, sondern allein durch ihre strickenden Hände. Mit dieser typisch weiblichen Tätigkeit verbindet sie irdische Not mit himmlischem Erbarmen und fertigt damit einen weiten Mantel für die Bedürftigen. Wie ein Himmelszelt schwebt er über ihnen, beschützend, wärmend, Gottes Zuneigung und Liebe vermittelnd. Beeindruckend wird die Wandlung sichtbar, die Maria durch ihre Mittlerfunktion bewirkt. Die Menschen, die in der verwirrenden Not oder dem Chaos unterzugehen drohen, erhalten durch sie neue Hoffnung. Sie werden aufgerichtet und ihr zerstörerisches Leid wird gewandelt in den behütenden, Ruhe und Ordnung gebenden Innenmantel eingearbeitet, was sie gestärkt durchs Leben gehen lässt. Dadurch erhält der Schutzmantel Marias im Gegensatz zu traditionellen Darstellungen eine größere Eigenständigkeit, gleichzeitig wird Marias Mittlerfunktion zwischen Himmel und Erde, die bei der Marienfrömmigkeit eine große Rolle spielt, besonders deutlich.

Angst

Der Altarraum ist verändert, und so verändert sich unser gewohnter Blick auf das Kreuz auch. Das Kreuz steht nicht mehr allein auf dem Altar wie sonst in Kirchen üblich . Es hat einen „Mantel“ bekommen, einen neuen Rücken. Aber der Mantel ist kein Mantel, der umhüllen will, sondern es ist eine Explosion zu sehen, ein Klecks aus Tusche mit einem dunklen schwarzen Zentrum und viel wegspritzender schwarzer Farbe, die sich vom Zentrum her nach außen auflöst. Hier entsteht eine enorme Spannung zwischen dem gewohnten braunen Altarkreuz und dem schwarzen Tuscheklecks dahinter. Vor dem großen schwarzen Klecks verschwindet das Jesuskreuz fast ganz. Oder ist es andersherum? Ja, das Kreuz mit dem leidenden Jesus steht vor der Explosion.

Was soll das bedeuten? Der schwarze Klecks hinter dem Kreuz – das sind unsere Ängste, das ist unsere eigene tief sitzende Grundangst, unsere dunklen Stellen, unsere Löcher, unsere Fehlbarkeit. Es ist unsere Furcht, die wie ein schwarzer Fleck auf unserer Seele lastet. Die sich ausbreitenden schwarzen Spritzer und Linien zeigen an, wie sehr wir uns bemühen, sie zu verteilen, sie nicht so sichtbar werden zu lassen. Aber vor dieser großen Angst des Menschen steht oder hängt Jesus am Kreuz. ER ist es, der unsere Ängste und uns schützen, umhüllen will. ER ist es, der uns bedeckt, zudeckt.

Sind es nur unsere Ängste? Und was heißt „nur“? Vielleicht kann man sagen, diese Ängste sind der Teufel, unser eigener Teufel und die bösen Mächte, unsere finsteren Seiten, die in uns wohnen und wüten und uns belasten, aus denen wir aus eigener Kraft nicht herausfinden. Aber was sind die Teufel unserer Zeit? Jeder Mensch wird da andere für sich benennen können. Ängste begleiten unser Leben, unseren Alltag auf Schritt und Tritt: zu versagen, zu vergessen, nichts richtig und gut zu machen. Und genau darum geht es: Wie kann man seine Angst bekämpfen oder gar besiegen? Niemand vermag das wirklich erfolgreich. Und darum ist Jesus vor uns und schützt uns – auch vor uns selbst. …

Die Kunstinstallation von Michael Bracht kommt nicht von ungefähr und nicht zufällig jetzt. Es ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit uns Menschen, ja des Künstlers Michael Bracht mit sich selbst und – von außen herangetragen – mit dem „Lutherjahr“, dem 500. Jubiläum der Reformation. Von Luther wissen wir, dass er eine tiefsitzende Angst vor dem Teufel und seinen Mächten hatte, dass er Schuldgefühle bis zu seinem Tod hegte. Bekannt ist die Episode auf der Wartburg, wo er bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche in der Nacht sein Tintenfass nach dem vermeintlichen Teufel an die Wand warf. Diese Überlieferung führte wohl zu der Gestaltungsidee des Themas „Angst“. Einer Angst, der sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens stellen muss, ob nun im Geheimen oder ganz offen.

Der Pfarrer der Kirchengemeinde Sankt Petri und Künstler Michael Bracht sagt dazu: „Meine Installation im Kirchraum von Sankt Petri beschäftigt sich mit der vielleicht entscheidenden Triebfeder, die schließlich zur Reformation führte: den Ängsten Martin Luthers und den Antworten, die er gefunden hat. Sie fragt zugleich nach den Ängsten der Betrachter und fordert sie auf, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und selbst Antworten zu finden.“

Michael Bracht trieb es um, dieses Thema zu gestalten. Er begann vor fünf Jahren, erste Ideen zu entwickeln und überlegte wie es wäre, viele Tintenkleckse öffentlich aufzuhängen. Daraus wurde dann nichts. Und so reduzierte er die Mehrzahl von Tintenflecken auf den einen. Er sprach somit nicht mehr vom Wir, sondern vom Ich. Nicht das Verstecken hinter der Schuld und der Angst vieler, sondern bezogen auf mich, mein Versagen, meine Unzulänglichkeit, meinen Anteil. Das ist wesentlich konzentrierter und auch ehrlicher im Bekenntnis. All diesen Überlegungen trägt die Bildgröße Rechnung; sie entspricht in etwa der Altarbreite, ist deckungsgleich mit 2 x 2 Metern, so dass die Intention von Bracht („Angst / Schuld der Menschen, die hinter dem Altarkreuz verschwindet, aber dennoch sichtbar bleibt“) sehr gut deutlich wird.

Eine tolle Idee und eine beeindruckende Umsetzung! (leicht gekürzte Vernissagerede)

Ansicht von rechts
Ansicht von links

Schiffbruch der Barmherzigkeit

Ein halbes Ruderboot liegt auf vier Rundhölzern, als ob es gerade auf ihnen nach einem Schiffbruch an Land gezogen worden wäre. Es sind keine Menschen zu sehen, nur wenige Objekte, die ihre frühere Anwesenheit bezeugen. Wer um das Boot herumgehen kann, findet eine Schwimmweste, eine schwarze Puppe, einen Teddybär, einen Geldschein und eine Muschel, die wie ein Aschenbecher auf dem Bootsrand liegt. Alle erzählen nachvollziehbar von Menschen, die eine Zeit auf diesem Boot verbracht haben, von Erwachsenen und Kindern, die mit wenigen Habseligkeiten die Überfahrt in ein Land der Verheißung gewagt hatten, um sich vor Not und Verfolgung in Sicherheit zu bringen.

Doch das Boot ist leer. Es hinterlässt nur Fragen zu seinen Passagieren: Wo sind sie nun? Wer und wie viele waren es? Woher kamen sie? Konnten sie sich retten nach dem Schiffbruch? Oder sind sie ertrunken? Übrig geblieben ist nur ein Steinkreuz mit dem Gekreuzigten. Mitten im Boot mutet es befremdend an. War es vor dem Unglück schon da oder erst danach? Wie ein abgebrochener Segelmast ragt das Kreuz in die Höhe. Ein erbärmlicher Anblick. Jesus ist hier so fremd wie die Fremden. So ist er, der Gekreuzigte, mit den Gescheiterten solidarisch .

Die fehlenden Extremitäten von Jesus sind durch Metallstücke ersetzt, was ihm noch stärker eine geschundene und bedürftige Gestalt gibt. Der linke Unterschenkel ist mit einem Winkeleisen angedeutet, der linke Arm bildet eine Stange, die mit einer Kette ans Kreuz gekettet ist, sein rechter Arm wird aus einem Stahlträger geformt. Auch das Kreuz hat verschiedene „Ecken ab“. Zudem steht auf dem Schriftband über Jesus nicht I.N.R.I., sondern „STATUS QUO“ (= bestehender aktueller Zustand). Wie um klar zu stellen, dass es nun so ist, obwohl die Flüchtlinge alles daran gesetzt haben, um der Bedrohung und Verfolgung zu entkommen und in ein Land mit besseren Lebensmöglichkeiten zu gelangen..

Die Flüchtlinge haben milde Umstände erwartet, damit ihnen die Flucht gelingt: ein ruhiges Meer, Menschen, die es gut mit ihnen meinen. Sie haben auf Barmherzigkeit gehofft. Sie haben gehofft, dass die Barmherzigkeit sie wie das Boot auf dem Wasser trage und sicher ans Ziel bringe. Vielleicht steht deshalb „BARMHERZIG“ in roter Schrift auf dem blauen Bootsrand und in ägyptischer Schrift als Name des Bootes am Rumpf.

Damit wird angedeutet, dass es weniger um die Barmherzigkeit an sich geht als vielmehr um eine barmherzige Haltung und ein entsprechendes Handeln daraus. Die Motivation dafür resultiert für den gläubigen Menschen aus der biblischen Vermittlung und Selbsterfahrung, dass Gott ein barmherzig Handelnder ist, in der Gegenwart genauso wie in der Vergangenheit (vgl. Ex 34,6 par). Wir leben durch die Liebe und Barmherzigkeit Gottes und in ihnen. Sie sind die Grundlage unseres und eines jeden Lebens. In der Haltung und in den Situationen, in denen wir uns selbst für das Leben des Nächsten einsetzen, treten wir in die Liebe und Barmherzigkeit Gottes ein, handeln wir wie ER und mit IHM zu seiner Verherrlichung. Wo oder wann das nicht geschieht, erleidet seine und unsere Barmherzigkeit „Schiffbruch“. Durch das Kunstwerk wird deutlich, dass bei unbarmherzigem Handeln etwas ganz Wesentliches und Tragendes zwischen den Menschen zu Bruch geht, das man mit Vertrauen und Solidarität beschreiben könnte. Es ruft mahnend in Erinnerung, dass dabei nicht nur der Notleidende unter Umständen mit dem Leben bezahlen muss, sondern auch der Wohlhabende an Menschlichkeit verliert.

Die Installation war im Rahmen des Projektes „Da-Sein in Kunst und Kirche“ in der Kirche St. Franziskus in Regensburg-Burgweinting zu sehen.

Ent-Festung

„Es häufen sich die Anzeichen für ein neues Unbehaustsein“ – schreibt Vilem Flusser 1989 geradezu prophetisch in der Basler Zeitung unter der Überschrift „Häuser bauen“. Die Entfestung unserer Existenz ist ein sich über Jahrhunderte vollziehender Prozess. Anfangs betraf er nur unsere Stadtgrenzen, deren Sicherung durch Mauern und Türme unsinnig geworden war, weshalb sie heute nur noch pittoresken Charakter haben. Es blieben die Nationengrenzen und die privaten Häusergrenzen. Während die Menschen über Jahrhunderte versuchten, sich in festen Häusern und Nationen einzurichten (‚Festung Europa‘), begannen ihre Behausungen in neuerer Zeit immer durchlässiger und fragiler zu werden. Erst waren es die Antennen, dann die Drähte, schließlich die Kabel und Netze, die aus den massiven Abgrenzungen gegenüber der Umwelt nahezu transparente Gitter werden ließen: „Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.“ Und die globale Kommunikation macht auch die nationalen Grenzziehungen, die immateriellen Grenzen immer willkürlicher. Wir können zwar weiterhin (verbal) Festungen errichten, aber wir kommen nicht umhin, unsere zunehmend instabiler und netzartiger werdende Existenz neu zu reflektieren. Die Scholle ist heute nur noch ein Element, kein Argument mehr.

Madeleine Dietz verleiht diesem epochalen Prozess vom Sichtbar- und Bewusstwerden unseres Unbehaustseins und der Rückkehr zum Nomadischen einen künstlerischen Ausdruck. Das Material ‚Stahl‘ steht zunächst für den Schein der Sicherheit, für Konstruktion und Abgrenzung, für Undurchdringlichkeit. In dem Moment, in dem wir uns unsicher fühlen, beginnen wir Mauern zu errichten und Zäune hochzuziehen und verwandeln aber zugleich das eigene Gebiet in ein Gefängnis (weitere Ansicht). Die bei Madeleine Dietz sichtbar werdende künstliche Schichtung der Materialien, ihre an Instabilität grenzende Konstruktion verweist aber auch auf die Brüchigkeit dieses Prozesses. Ihre Objekte stehen im Weg, erzwingen Um-Wege, schließen sich aber nicht mehr. Dietz schichtet Stahlplatten, wie ehedem ihre Erdstücke, zu einem Gebilde, das bei aller scheinbaren Solidität zugleich auch fragmentarische Züge bekommt. Der Stahl behält so zwar seinen materialimmanenten konstruktiven Charakter, aber er wirkt nun vor-läufig, nicht mehr end-gültig. Er kann sich zwar noch zu einem Kubus erheben, aber die Stahlplatten rundherum lassen die Gegenkräfte erkennbar werden, die drohende tektonische Verwerfung, die Gefahr „einstürzender Neubauten“. Das Ganze wird zu einem Objekt, das Entwurfscharakter hat, weil es jederzeit sich verändernden Gegebenheiten angepasst werden muss, damit seinen Festungs-Charakter verliert und potentiell nomadisch wird. Das ist unmittelbar politisch.

Im Kontext der früheren Arbeiten von Dietz, die ebenfalls vom Ruinösen und vom Vergänglichen sprechen, tritt nun verstärkt das Element des Transitorischen, des Übergangs hervor. Es ist eine künstlerische Metapher. Die Gitterzäune, die wir heute erleben, bieten keine Sicherheit, sondern machen die Willkürlichkeit, die Künstlichkeit dieser Art der Grenzziehungen sichtbar. Die stählernen Gebilde können morgen schon andere Gehäuse bilden, aber sie können nicht mehr der End-Gültigkeit der Abgrenzung dienen, sie sind Konstruktionen, die auch dekonstruiert werden können. Gitter, Stahl, Erde gibt es weiterhin, aber sie sind nun reversible Elemente, Mittel im Prozess von Verflechtungen, Aufbrüchen und neuern Zusammenstellungen. (Text bis hierher von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.)

Damit kann die Installation als Sinnbild für die Notwendigkeit bezeichnet werden, sich stets anzupassen. Unser Umfeld verändert sich unaufhörlich und stellt immer wieder neue Herausforderungen an unsere Flexibilität. Wir können nur durch Anpassung überleben, durch das Eingehen auf diese Veränderungen und im Annehmen und Integrieren derer. Widerstand ist in Maßen möglich und will gut überlegt sein (vgl. Lk 14,25-35). Wer nicht mitmachen will oder kann, wird ausgegrenzt, was aber nicht automatisch zum eigenen Nachteil sein muss. Inmitten eines starken und manchmal fast überwältigenden Umfeldes tut ein umso stärkerer innerer Halt gut, der Orientierung gibt in allen Veränderungs- und Anpassungsprozessen.

Rudern oder treiben?

Große Holzruder liegen wie angeschwemmt im Raum. „Treibholz“ nennt der Künstler Nikodemus Löffl seine Installation, die bis zum 11. März 2016 in der Dreifaltigkeitskirche in Konstanz ausgestellt ist. Die 34 grob bearbeiteten Holzruder sind aus einem einzigen Pappelstamm gesägt. Die Diskrepanz zwischen den vereinsamten Rudern und dem Werktitel laden ein, über unser Tun und dem, was mit uns geschieht, nachzudenken. Die Hölzer fragen als Ruder, was wir aus eigenem Antrieb machen können und müssen. Als Treibholz können sie auf die verschiedensten Strömungen in unserer Welt aufmerksam machen, die mächtiger sind als wir und uns gegebenenfalls das Ruder aus der Hand zu reißen vermögen (weitere Ansicht).

Auch wenn die wenigsten von uns in ihrem Alltag Ruder verwenden, so sind sie doch sprichwörtlich in unserem Mund gegenwärtig. Wenn wir bei einer Sache nicht vorwärts kommen, so „rudern“ wir vergeblich, umgekehrt „legen wir uns in die Riemen“, wenn wir uns anstrengen und vorwärts kommen wollen. Und wenn etwas ganz außergewöhnlich ist, sagen wir, es sei „aus dem Ruder gefallen“. In ihrer Menge erzählen die Ruder von aufeinander abgestimmten Bemühungen, von Ausdauer und Rhythmus, die es braucht, um Ziele zu erreichen. So sind sie auch in der gegenwärtigen Völkerflucht aus Syrien auf dem Weg über das Wasser überlebenswichtig. Denn wer kein Ruder mehr hat, ist steuerlos der Strömung und dem Wind ausgesetzt und wird zu Treibgut.

Vorausschauende Überlegungen können helfen, Abläufe und Entwicklungen im Blick und im Griff zu behalten: In welchen Lebensphasen und Entscheidungen ist es notwendig, dass ich die „Ruder in der Hand behalte“? Wo ist es wichtig, dass ich hochkonzentriert bei der Sache bin, damit ich eine Arbeit erfolgreich und termingerecht abliefern kann? Welche Vorsichtsmaßnahmen ergreife ich, um in meinen „Unternehmungen“ nicht „Schiffbruch“ zu erleiden? Nehme ich meine Verantwortung für Mitmensch und Schöpfung wahr und setze ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften für das Erreichen der Ziele ein? Bin ich bereit, die Mühen auf mich zu nehmen, auch mal gegen den Strom oder den Wind zu rudern? Oder lasse ich mich lieber träge in den wirtschaftlichen, technischen, sozialen, politischen Strömungen treiben, welche unsere Lebensformen beeinflussen und unmerklich verändern? – Was auch immer: Ich bin gefragt!

Das Reinhold Niebuhr zugeschriebene Gelassenheitsgebet mag uns vielleicht helfen, eine gute Balance zwischen dem selbst- und dem fremdbestimmten Vorwärtskommen zu finden, mich zu engagieren als auch das Unveränderliche annehmen zu können: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Leuchtende Becher – leere Schreine

Ein ganzes „Heer“ leuchtender Becher stellt Alois Neuhold hin: Unbenützbar, leer, weil deren Inhalt das Füllbare nicht ausfüllen kann, ja darf. Zu viel, zu gut, zu heilig! Es sind Gefäße für die Verwendung bei einer himmlischen Hochzeit. Im Ensemble sind es trotzdem Öffnungen für das Nichtgreifbare und Hoffnung auf ein Getränk unstillbaren Genusses. Das Bilderverbot ist das Zentrum dieser Behälter und doch ist die Inkarnation des Lichtes in der Farbe seine dialektische Durchkreuzung.

„Wir halten diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ (2 Kor 4,7), in Erdzerbrechlichkrügen …

Der Künstler selbst:

Unnützbarkeitsgefäße, Nichtbefüllbarbecher, Tabernakelchen, ein ganzes „Heer“ davon, achtzig, zehn mal acht – der achte Schöpfungstag, ein Bechermeer, Nutzlosschreine, ein Becherblumenfeld des Nichtverwertbaren, des Nichtverwendbaren, Blühbehälter, die nur dem Blühen dienen und dem bloßen Sein, dem verweilend Sein, dem empfangend Sein, farblichtschattend, offen, Empfängnistat. Ein Anflug vom Möglichkeitsparadies vielleicht …

Leer sind die Becher, Schalen und Schreine, leer müssen sie bleiben, frei von menschlichen Anfüllungen. Nur das Licht, der Schatten, Tag und Nacht, Luft, der Atem, Farben, Regenbogenoffenbarungen, die Leere wohnt in ihnen. Lichtbienen nippen daran.

„Nehmet hin und trinket!“ Das Licht ist Leib geworden.

Schlürft den Lichtwein, esst vom Schattenbrot, tanzt die Farbekstasen, trinkt Atemweite, haucht Luftgedichte, preist die Schöpfungswiese, tretet ein in die Hallen, in den Festsaal einer himmlischen Hochzeit! Feiert Auferstehung!

(Das Grab ist leer.)

Entrümpelt die Häuser, die Keller und Kapellen, die Warenkörbe, die Überfüllregale, die Übersattideen! Entrümpelt auch die Seelenstübchen und die Zuinnerstkämmerlein! Werft weg die Niederdruckgewichte, die Gottverbildungsbilder, die vielen Gott-und Weltverstellungsdogmen, das Moralingedudel, das immer-noch-Mehr-und-nie-Genug! Werft sie weg in weiten Bögen aus den Büchern, aus den Köpfen, aus den Schulen! Zieht aus die Uniformen, die Waffenröcke und all die anderen Unterdrückungs- und Machtbezeugungskittel! Verbrennt die Wortgewehre, die süßen Sonntagsreden, die Abertonnen Hass-und Aufhetzschriften! Räumt weg die ausgelatschten Glaubenssätze!

Öffnet die Fensterläden, die Auswegtüren, die verriegelten Ostertruhen, die Taborschreine, die Herzverschlüsse, die vernagelten Einzwängkästen! Befreit den Geist vom Seichtgewäsch, vom Gedankenmüll, vom Allerweltsgeplapper! Schüttet aus die Endlosjammertöpfe! Schafft endlich Raum und Leere, Entfaltungsräume, Begegnungsorte, Lichterfahrungsplätze, weite Dome, Erlösungshorizonte, denn die „Fülle des Lebens“ will Einzug halten! Der Esel steht bereit. Tempelreinigung ist angesagt.

Fassbare Gefäße des Unfassbaren. Ein Abendmahl ohne Brot und Wein.

Der Kelch ist leer. Das Blut verschüttet. Im Tabernakel keine Hostie. –

Gefäß werden, einfach Gefäß sein für das Ankommende, für das Licht,

für das Ein und Alles. Advent.

Das Licht ist Leib geworden in den Farben.

Hochgebirge

Der Regensburger Künstler präsentiert die Rauminstallation „Hochgebirge“ und übersetzt damit die Leidensgeschichte von Flüchtlingen in eine künstlerisch-abstrakte Darstellung. Die Leiter als Symbol für die Verbindung von Himmel und Erde, für den Übergang in eine andere Welt, in eine höhere Sphäre, als Zeichen des Aufstiegs und der Entwicklung, steht stellvertretend für die Hoffnung der Flüchtlinge auf ein besseres Leben. Die Sprossen, die der Mensch nur alleine erklimmen und herabsteigen kann, stehen zugleich für die Alleingelassenheit der Reisenden, die ihren Weg auf sich allein gestellt bewältigen müssen (Detailansicht). Mit Wasser gefüllte Bottiche lassen an die lebensgefährlichen „Nussschalen“ afrikanischer Flüchtlinge denken, mit denen das Mittelmeer überquert werden soll.

Kaufers Installation meint allerdings nicht eine bestimmte politische Flüchtlingskonstellation, sondern das Flüchtlingsdasein im Allgemeinen. Der Titel „Hochgebirge“ spielt auch nicht auf eine konkrete geographische Situation an, sondern bezieht sich auf die Strapazen des Flüchtlingsdaseins. Auch der Bergsteiger hat ein fernes Ziel, den Gipfel, vor Augen, muss aber bis zu seinem Erreichen Gefahren überwinden (weitere Ansicht der Installation).

Die Bottiche sind mit Wasser gefüllt, scheinen Leck geschlagen zu haben. Wasser als Quell des Lebens wird im Kontext der Flucht Spiegelbild der Zerstörung und des Todes. Die Hoffnung begegnet der Naturgewalt, der zerstörerischen Kraft des Meeres. Die Leiter wirkt hier wie ein Rettungsweg, der aus der Gefahr führt, aber nicht jeden retten wird. Ein Blick in die Bottiche offenbart eine weitere Perspektive: Durch ihre Spiegelung in der Wasseroberfläche erhalten die Leitern eine bedrohliche Doppelrolle. Sie führen nicht nur nach oben, sondern auch hinab in die Tiefe.

Der Parcours endet im Blättermeer aus Genfer Flüchtlingskonvention, EU-Richtlinien, Verwaltungsvorschriften und Gesetzen. Repräsentativ stehen diese Texte für eine auf Normen ruhende Gesellschaft, deren humanistische Ideale in Bürokratie und im Vorschriftenwust unterzugehen drohen. Der Betrachter kann die Ratlosigkeit und die Frustration der Migranten nachvollziehen. Sie sehen sich nun den Gefahren eines neuen Meeres aus Paragraphen gegenüber. Gesetze und Vorschriften sollen für Gerechtigkeit sorgen, sind ein Weg zu retten und zu helfen, sie beinhalten aber auch viele Restriktionen, die die gesellschaftliche Wertedebatte in der Flüchtlings- und Zuwanderungsfrage zu keinem Ende kommen lassen.

> weiterer Bildimpuls zu diesem Thema

Erstveröffentlichung im Ausstellungskatalog: Ich bin da. Künstlerische Perspektiven zum Thema Flucht. Regensburg 2015, S. 16.

Entwurzelt!

Die eine Hälfte eines Baumes liegt am Boden, die andere Hälfte schwebt aufgehängt im Raum. Eine verkehrte Welt: Außen befindet sich innen und was normalerweise in die Höhe ragt und tragfähig ist, liegt am Boden bzw. hängt an einem Seil in der Luft. Im Wurzelbereich finden sich zudem Schuhe, die mit Stacheldraht befestigt sind. (Großansicht) Sie weisen darauf hin, dass es hier um Menschenschicksale geht, drastisch dargestellt am Beispiel dieses Baumes.

Als Baum hat der Künstler eine Weide gewählt. Diese wachsen bevorzugt am Wasser – am Lebenselixier par excellence. Mit der Wurzel wurde sie ausgegraben und in zwei Teile zersägt in eine absolut fremde Umgebung transportiert: einen Innenraum ohne direkten Wasser- oder Luftkontakt zur Außenwelt. Die Brutalität der Entwurzelung wird gesteigert durch die Überwindung der Schwerkraft und die enge Verbindung mit den Schuhen. Durch den Stacheldraht wird ihr Schicksal untrennbar und lässt sie beide zu Treibgut der derzeitigen gesellschaftlichen Strömungen werden. (Großansicht) Ihnen beiden ist der Boden unter den Füssen weggezogen worden. Ihr Schicksal hängt an diesem „seidenen Faden“. Werden sie gehalten – oder fallen gelassen?

Die Skulptur hält uns einen Spiegel vor Augen, was mit vielen Zeitgenossen geschieht, die durch politische, religiöse oder wirtschaftliche Krisen in die Flucht getrieben werden. Sie nehmen die Entwurzelung von allem, was sie bislang umgeben und gehalten ha,t in Kauf, um ihr Leben und das ihrer Familien zu retten. Der Sprung in die Freiheit verlangt allerdings Ausdauer, er ist wie beim Baum eine lange Durststrecke, bei der in keiner Weise sicher ist, ob der Baum / Mensch je wieder Wurzeln schlagen kann oder ob er ein Entwurzelter / Heimatloser in der Fremde bleiben wird. Das deuten auch die mit Stacheldraht am Baum gefangenen Schuhe an. Diese sind mit Gewalt an den Baum gebunden, so dass ein Weitergehen in den eigenen Schuhen nicht mehr möglich ist.

Der ausgestellte Baum bringt auch schmerzvoll zum Ausdruck, dass die geflüchteten Schutzsuchenden am neuen Ort wohl Schutz erfahren, aber zu sinnloser Untätigkeit verurteilt sind. Sie sind ihrer natürlichen Handlungsfähigkeit weitgehend beraubt und „liegen“ und „hängen“ deshalb tatenlos herum.

Der sich jeder Definition entziehende Werkname „Ohne Titel“ trifft hier den Kern der Sache. Das Erschrecken über die Entwurzelung im Kontext von Flucht, Vertreibung und sozialer Entwurzelung kennt keine Worte.

Das einzig Notwendige sind mutige Entscheidungen und aktives Zupacken von unserer Seite, um Zeichen der Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit zu setzen: Die in unserem Lebensraum Angekommenen zu besuchen und sie nicht länger als „angeschwemmte“ Fremdkörper zu betrachten oder zu behandeln. Die Darniederliegenden sind aufzurichten, den Entmutigten ist Mut zuzusprechen, den Heimatlosen neuer Boden unter den Füßen zu geben, die in den Gesetzesvorschriften Gefangenen sind zu befreien und zu neuer Lebensqualität zu führen. Zu all dem und noch viel mehr kann diese eindrückliche Arbeit von Eduard Winklhofer Anstoß geben.

Die Ausstellung Ich bin da. Kulturelle Perspektiven zum Thema Flucht, Vertreibung und Migration war bis zum 12. Juli 2015 im ehemaligen Kloster St. Klara in Regensburg zu sehen. Sie gehörte zu einem reichhaltigen kulturellen Programm, das mit Ausstellungen, Konzerten, Lesungen, Kino, Exkursion und mehr … offene Blicke auf ein aktuelles Thema freigab.

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An Gott hängen

An einem Balkengerüst hängen drei längliche, menschengroße Körper. Der linke Körper hat die Gestalt eines zusammengerollten, braunen Blattes, während sein Pendant auf der rechten Seite eine Mischung aus einer Muschel und einer Schmetterlingspuppe darstellt. Die Oberflächen beider Körper sind mit großer Sorgfalt gestaltet worden. Beim gerollten Blatt winden sich braune Linien spiralförmig um seinen bronzefarbenen Körper, bei der Muschel oder dem Kokon ist die silbern erscheinende Außenhaut mit einem wunderbar feinen Muster überzogen, während die Innenseite fleischfarben ausgestaltet ist. Damit strahlen die beiden Hüllen trotz ihrer prekären Lage eine natürliche Schönheit und Kostbarkeit aus.

Der mittlere Körper hebt sich in mehrfacher Hinsicht von den beiden äußeren Figuren ab. Zum einen hängt er an einem Strick, während die anderen mit einer Schnur an einem Fleischerhaken hängen. Zum anderen handelt es sich bei diesem Körper eindeutig um eine menschliche Gestalt, die vollständig in ein weißes Tuch eingewickelt einen Leichnam vermuten lässt. An verschiedenen Stellen sind im weißen Leinen rote Flecken erkennbar. Da sie dort sind, wo sich Hände, Füße, Seite und Stirn befinden, weist das durchsickernde Blut auf ein Opfer einer Kreuzigung und noch mehr auf einen mit Dornen Gekrönten hin: Jesus.

Die Balkenkonstruktion lässt auf den ersten Blick an eine ganz normale Hinrichtung durch Erhängen denken. Weil niemand an oder auf das Holzgerüst genagelt ist, tritt die Kreuzform in den Hintergrund bzw. wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. Dadurch kann in dieser erweiterten Kreuzform durch die zwei senkrechten Balken ein Triptychon gesehen werden, das einerseits traditionell Leiden, Tod und Auferstehung Jesu zum Inhalt hat, gleichzeitig aber auch die Kreuzigung Jesu zwischen den beiden Verbrechern rechts und links anklingen lässt.

Die Installation parallelisiert den Kreuzestod Jesu mit anderen Sterberealitäten. Links als Folge des Alters, rechts als Sterbeerfahrungen im Leben jedes Einzelnen, wo immer wieder Wandlungsprozesse wie bei einer Raupe notwendig sind, wenn wichtige Phasen im Leben zu Ende gehen und eine Umorientierung notwendig machen. Oft führt das zu einer Zeit des Rückzugs, einer Abkapselung, während derer die Trauer verarbeitet und (Über-)Lebensstrategien und neuer Lebensmut gefunden werden müssen.

Durch die Radikalität dieser Erfahrungen, die wir nicht steuern oder aufhalten können, sind wir besonders in solchen Situationen, genau wie Jesus, ganz auf Gott angewiesen. Auf ihm ruht unsere Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, das Leben nicht genommen, nur gewandelt wird und eine neue Gestalt erhält.

Der Titel der Arbeit entstammt dem 9. Vers des 63. Psalms, der lautet „Meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich fest.“ Mit diesen Worten bringt der Betende sein Ur-Vertrauen in Gottes Nähe und Kraft zum Ausdruck. Durch den starken Glauben hat sich der Beter wie ein Kind an die Hand seines Vaters gehängt. Und Gottes Hand hält ihn so fest, dass er, was auch geschieht, nie von ihr losgerissen oder verloren gehen wird. – Ob der dicke Strick als „Hand“ Gottes gedeutet werden darf? Der Strick geht ja nicht um den Hals, er hält den eingebundenen Körper in der Schwebe. Die bisherige Gestalt ist bereits verborgen, die Kommende noch nicht sichtbar. – Aber meine Seele hängt an dir, Du mein Gott!

Die Installation war 2015 im Rahmen des Concentration-Projektes in der Dreifaltigkeitskirche in Konstanz zu sehen (Ansicht 1; Ansicht 2).