Tischgemeinschaft

Unverrückbar „sitzt“ die massive Betonplatte auf den Rücklehnen der zwölf Stühle, die beidseits des langen Holztisches stehen. Wie ein Deckel verunmöglicht sie das Sitzen und Essen am Tisch. Kein Stuhl kann herausgezogen werden. Kalter Stein breitet sich über dem warmen, einladenden Holz aus. Massive Schwere lastet auf der im Vergleich filigranen Komposition von Tisch und Stühlen. Wie eine Grabplatte liegt der Betonquader auf den Holzstühlen, schwebt er bedrohlich über der großen Tischfläche. Jegliche Tischgemeinschaft wird durch die Betonplatte verunmöglicht, das Einnehmen von Nahrung ebenso wie der Austausch von Gedanken und Worten, von Leben schlechthin (Großansicht).

Was wohl der Sinn dieser Arbeit sein kann? Was hat sie zu bedeuten? Der Künstler meint dazu: „Bedeutung kann in einem Kunstwerk aufgeschlossen werden, aber sie kann nicht als alleiniger Sinnträger ein Werk vor dem Druck der Zeit schützen. Ein Kunstwerk hat immer einen Anteil nicht entschlüsselbarer, verwehrender Aspekte. Der Betonquader hindert am Platznehmen, das stimmt, er entspricht in seinem Gewicht aber dem durchschnittlichen Gewicht von zwölf Personen. Die Arbeit streift verschiedene Assoziationen: Es könnte der Tisch des letzten Abendmahls sein, andererseits gehörten dazu dreizehn Stühle und nicht bloß zwölf. Was hier steht, hält sich also in der Nähe dieser Interpretation auf, entzieht sich ihr aber gleichzeitig. Der Betonquader erinnert vielleicht auch an eine Grabplatte. Es ist hier die Idee der Zukunftslosigkeit mitgedacht, die “no future”-Slogans der bleiernen 70er- und 80er-Jahre. Diese Idee schwingt in der Moderne eigentlich immer mit. Sie ist im Grunde ein Schatten der Moderne.” (Eduard Winklhofer 2013 im Interview mit Antonia Veitschegger und Johannes Rauchenberger, Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz)

Die Arbeit lebt durch diese Assoziationen. Sie lebt aus der Verbindung zum Menschen, der den Tisch und die Stühle für seinen Gebrauch und in Bezug auf seine menschlichen Dimensionen geschaffen hat. Die Betonplatte wirkt dazu unnatürlich, wie von einer überirdischen Macht aufgesetzt. Das Tischensemble hat dadurch seine Offenheit, seinen einladenden Charakter verloren und wirkt nun durch die Größe und die Last der Betonplatte wie ein verschlossener Komplex. Die Alltagstauglichkeit ist ihm damit genommen, es ist nun ein Schaustück, der mögliche Gast ein ausgesperrter, außen vor gelassener Betrachter. Als solches wird er gezwungen, neue Wege zu gehen, gedanklich und körperlich. Umwege. Als Stein des Anstoßes regt die Betonplatte dazu an, über die ungewöhnliche Kombination nachzudenken.

Nachfolgend drei mögliche Ansätze und Zugänge:

  • Die an das letzte Abendmahl erinnernde Tischgruppe und die Nähe der Betonplatte zu einer Grabplatte lassen in dem Kunstwerk einen möglichen Altar sehen. Durch die Betonplatte hat der Künstler einen erhöhten Tisch geschaffen, um den eine sich in der vergegenwärtigenden Feier von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi versammelte Tischgemeinschaft sichtbar zu „Umstehenden“ wird. Mit dieser Arbeit würde der „Circumstante-Gedanke“ aus der liturgischen Bewegung und Erneuerung verstärkt Ausdruck finden.
  • Durch die Verweigerung kann eine neue Wertschätzung der Tischgemeinschaft erzeugt werden. Gerade in unserer Zeit muss hinterfragt werden, welche „massiven Blockaden“ verhindern, dass Tischgemeinschaft gelebt wird. Die Betonplatte kann symbolisch für alles stehen, was Tischgemeinschaft verunmöglicht, z.B. Arbeitszeiten, welche gemeinsame Essenszeiten schwer realisierbar machen. Mediale Angebote, welche von der direkten Begegnung mit dem Mitmenschen und dem Austausch mit ihm ablenken. Individualismus, bei dem die Eigeninteressen höher gestellt werden als diejenigen der Gemeinschaft.
  • Die Arbeit kann aus dem Aspekt der „Zukunftslosigkeit“ auch Anstoß sein, sich mit scheinbar blockierten Situationen auseinandersetzen, die Gegebenheiten genau anzuschauen und neue Lösungen und Wege zu suchen. Die Apostel waren nach dem Tod Jesu auch in einer blockierten, hoffnungslosen Situation. Symbolisch lastete eine große Betonplatte auf ihnen. Erst mit der Zeit erkannten sie die Zusammenhänge und erhielten den Mut und die Kraft, die Blockade zu überwinden und einen Weg zu gehen, der bis heute Menschen ermutigt nicht aufzugeben.

Ausstrahlung

Eine menschliche Gestalt befindet sich im Zentrum eines Strahlenkranzes aus Feuerwerkskörpern. Fünfzig Holzstäbe gehen von der Brust bzw. von der Herzgegend aus in alle Richtungen, formal mit den kurzen Armierungseisen korrespondierend, aus denen die Figur zusammengeschweißt ist. Ansonsten steht die weiße Menschengestalt im Gegensatz zu den bunten Feuerwerkskörpern: Die Figur ist innen hohl, die Raketen sind mit Pulver gefüllt, sie besteht aus unbrennbarem Stahl, die vielen entfalten sich in genialen Lichteffekten, der Mensch bleibt am Boden, die Leuchtkörper verzaubern den Himmel, er hat eine große Langlebigkeit, sie verbrennen in wenigen Sekunden.

Was diese so gegensätzlichen Materialien wohl über den Menschen aussagen? Eine nähere Betrachtung der menschlichen Gestalt und vertiefte Gedanken zu den im Kreis angeordneten Feuerwerkskörpern werden Anhaltspunkte zum Verständnis dieses spannungsvollen Kunstwerks geben.

Der im Zentrum der Installation stehende Mensch ist mit den Stahlstücken plastisch skizziert. Er ist ähnlich flüchtig festgehalten wie in einem Skizzenbuch, und doch mit Eisenstäben beständig in den Raum geholt. Die verwendeten Rundstäbe werden normalerweise für die Armierung, die innere Verstärkung von Beton gebraucht. Am fertigen Bauwerk sind sie unsichtbar. Bei dieser Menschengestalt bilden sie jedoch die Außenhülle, die sich nach oben verdichtet. Und sie wirken wie ein transparenter Panzer, der Halt gibt, schützt, und doch für das Licht durchlässig ist. Da weder Hände noch Füße oder Gesichtszüge ausgearbeitet sind, kann diese Gestalt für jeden Menschen stehen.

Durch die unterschiedliche Beinlänge scheint dieser menschliche „Platzhalter“ in den Raum zu schreiten, mit den leicht nach hinten geneigten Armen den Raketenkranz wie ein Gepäckstück auf dem Rücken haltend. Assoziative Vergleiche mit einem Propeller oder einem großen bunten Flügel mögen aufsteigen und die Menschengestalt zu einem modernen Ikarus machen.

Doch die strahlende Darbietung eines Feuerwerks ist stets von kurzer Dauer, begleitet von lauten Knallern sowie starker Rauch- und Geruchsentwicklung. Neben der Erinnerung an einen an ein Wunder grenzenden Lichtzauber bleiben nur Leitstäbe und ausgebrannte Hülsen übrig. Die künstlichen Lichteffekte erregen wohl kurzfristig Aufsehen und Staunen, auf die Dauer kann sich allerdings niemand eine solch kostspielige und letztlich auch umweltbelastende und gesundheitsschädliche Inszenierung leisten. Sie ist in allen Belangen weder tragfähig noch tragbar.

Letztlich stellt die Installation die Frage, wie wir mit einfachen Mitteln, mit unseren eigenen Energien Glanzpunkte setzen können. Es geht darum, wie wir, ohne auf künstliche Effekte zurückzugreifen, mit unserem Handeln Akzente setzen können, die eine anhaltende Ausstrahlung haben.

Die fünfzig Leuchtkörper verweisen mit ihren Leitstäben bildsprachlich auf das Herz (Detail). Alles, was wir denken, reden und tun, hat seinen Ursprung im Herz. Wenn dieses Denken, Reden und Handeln gut ist, wird es eine positive Wirkung zeigen. Jesus sagt in der Bergpredigt zu seinen Zuhörern: „Ihr seid das Licht der Welt. … Euer Licht soll vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt 5,14.16) Für ihn ist die Ausstrahlung eine Folge der guten Werke und gleichzeitig eine zweifach erhellende Kraft: Nämlich, dass andere das Gute sehen und gleichzeitig Den erkennen, der im Ursprung das Gute bewirkt. Der tief im Innern der Herzen berührt und bewegt, ruhig und ohne Effekthascherei. Was Gott bewirkt, besitzt eine natürliche Leuchtkraft. Es muss nicht wie bei einem Pfau mit einem großen Rad stolz zur Schau getragen werden noch mit künstlichen Mitteln überhöht werden. Ein lateinisches Sprichwort fasst das in weltlichen Worten treffend zusammen: „Gute Taten leuchten auch im Dunkeln.“ Sie tun dies ohne Hilfsmittel – einfach, weil sie gut sind!

verBUNDen

Die Holzfigur von Jesus am Kreuz wurde 2011 in der evangelischen Stadtkirche in Tuttlingen im Rahmen der Ausstellung „malhalten“ von der Künstlerin mit weißen Stoffbinden umwickelt. Die Gestalt des Gekreuzigten ist noch deutlich sichtbar, sie befindet sich auch noch am Kreuz und in der gewohnten Umgebung (Ansicht im Kirchenraum). Aber durch den Verband wurde sein geschundener Körper verhüllt und damit den Blicken der Betrachter entzogen. Manch einer mag durch diese Veränderung erschreckt reagieren und vielleicht auch an Blasphemie denken.

Doch die Künstlerin veränderte durch ihre Intervention die Botschaft des Kreuzes nicht. Was nach Verfremdung ausschaut, ist in vielen Kirchen ein traditioneller Brauch während der Fastenzeit. Vor allem in katholischen Regionen werden die Kreuze mit einem violetten Tuch verhüllt, den Blicken der Gläubigen entzogen, damit sie nach dem „Bilderfasten“ das Kreuz und seine Botschaft mit neuen Augen sehen können.

Allerdings hat Margaret Marquardt die Verhüllung variiert, in dem sie dem Kreuz nicht nur ein „Fastentuch“ vorgehängt hat, sondern sich dem Corpus Christi zugewendet hat. Mit den Mullbinden hat sie den „Leib Jesu“ wie einen Verletzten verbunden (Detailansicht). Dadurch, dass kein Körperteil mehr zu sehen ist, erscheint er sogar als Schwerverletzter. Der Körper wird durch den Verband nicht nur geschützt, sondern auch stabilisiert. Die Verbindungen zum und mit dem Kreuz geben ihm wie bei jemandem mit einem Arm- oder Beinbruch zusätzlichen Halt.

Die Stoffbinden erzählen auch, dass sich jemand der Verlassenheit des Gekreuzigten angenommen hat. Durch die Intervention der Künstlerin wurde dem Gekreuzigten Zuwendung und Fürsorge zuteil. Er erhielt ein notdürftiges, sauberes „Kleid“, das seine Blöße bedeckt. Die Hautfarbe ist dem Weiß der Mullbinden gewichen und signalisiert Heilung. Heilung der körperlichen Wunden im Besonderen, doch auch umfassende Heilung aller verletzten Beziehungen. Arnold Stadler schreibt dazu in seinem Buch zur Arbeit von Margaret Marquardt (S.19): „Das Heile ist das Ganze. Verbinden ist immer Heilen. Ein Joint Venture aus Jenseitigem und Diesseitigem, aus Oben und Unten, Göttlichem und Menschlichem, Heilem und Heilungsbedürftigem, von Innen und Außen, hier und dort. Dem Heilsverlangen des Menschen und der ganzen Schöpfung entspricht das Heilsangebot des Kreuzes, das von der Künstlerin gesehen und einbezogen wird in ihr Heilskonzept. Der Lichtstrahl [der vor dem Kreuz vertikal den Kirchraum quert] vergegenwärtigt den Vorrang des Gnadenhaften vor dem Machbaren des Heils und des Heilens. In diesem Licht ist auch der Lichtstrahl zu sehen.“

Als rotes Band flankiert dieser „Lichtstrahl“ die Verhüllung, mit seiner Farbe an das Blut erinnernd, das pulsierende Leben, die Macht der Liebe. Eingespannt als Installation zwischen Kirchendecke und Boden, kommt es doch klar von oben herab, göttliche Verbundenheit mit seinem Sohn und durch ihn mit allen Menschen symbolisierend. Es bringt grundsätzlich den Bund, die Verbundenheit zwischen Gott und den Menschen zur Sprache. Im Zusammenhang mit dem Gekreuzigten wird insbesondere seine Wirkmächtigkeit bei allen Verachteten, Leidenden und Sterbenden sichtbar. (Detailansicht)

Das weiße Verbandsmaterial verweist über das menschliche Erbarmen hinaus auf das Erbarmen Gottes. Er ist und bleibt allen Menschen nahe, selbst in ihrer größten Verlassenheit. Der verbundene Körper verbirgt und offenbart gleichzeitig sein geheimes Wirken. Dies wird auch in der Ähnlichkeit des Verbundenen mit dem Kokon einer Raupe deutlich, in dessen Verborgenheit sie in einen Schmetterling verwandelt wird und sich ihr eine vollständig neue Lebensdimension eröffnet.

So deutet der Verband die anstehende Verwandlung an. Der Körper ist noch da, aber verborgen, nur in einer äußeren Form sichtbar. Der Verbundene stellt gewissermaßen eine Karsamstagsexistenz (vgl. Hans-Ulrich Wiese) dar, die Zeit – und den Zustand – zwischen Tod und Auferstehung charakterisierend, in der das Vergangene verhüllt und das Kommende angedeutet, aber noch nicht offenbar ist.

Dieser Arbeit von Margaret Marquardt hat Arnold Stadler ein Buch gewidmet. Es trägt den Titel: Da steht ein großes JA vor mir. Es ist 2013 im Verlag Jung und Jung erschienen und umfasst 104 Seiten sowie 14 farbige Abbildungen. ISBN-10: 3990270397.

Das Licht sehen

Temporäre Installationen bieten die außerordentliche Gelegenheit, bestehende Raumstrukturen zu verändern und aufzubrechen. Durch die Interventionen werden die Räume mit Inhalten angereichert, die einen veränderten, manchmal sogar gänzlich neuen Umgang mit dem jeweiligen Raum bedingen. Eine temporäre Installation ermöglicht eine zeitlich begrenzte Auseinandersetzung mit etwas ganz anderem. Sie öffnet die Sinne für das faszinierend und irritierend Fremde zugleich. Ihr ungewohnter Platz lässt Bestehendes aufmerksamer wahrnehmen und ungeahnte Möglichkeiten, vielleicht sogar Träume und Visionen ausprobieren, ohne sich definitiv auf eine Lösung festlegen zu müssen.

Mit ihrer Installation in der evangelischen Zwölf-Apostel-Kirche Frankenthal hat Madeleine Dietz den zentralen Bereich des ovalen Kirchenraums wesentlich verändert. Anstelle eines roten Teppichbandes füllt braune Erde den Mittelgang vom Kircheneingang über die Altarstufen bis zum Altar aus. Dieser wurde mit einem dunklen Stahlkubus überformt und damit in einen strukturellen Kontrast zur feingliedrigen Natur der Erde vor ihm und den Ästen hinter ihm gebracht. Mit ihnen hat die Künstlerin eine etwa 50 cm starke Hecke aus dornenbewehrten Ästen errichtet, die den hinteren Bereich des Chorraums unzugänglich abgrenzt.

Durch die formale Ähnlichkeit (Farbe und Dimension) vermögen sich die Erdschüttung und die Dornenhecke im Auge des Betrachters zu einer Kreuzform zu verbinden, die den ovalen Innenraum durchquert und in deren Schnittpunkt sich der Altar befindet. Als finales Element der Rauminstallation leuchtet über dem durch das Metall matt glänzenden Altar ein horizontales gelbes Licht warm durch das Geflecht aus Ästen und kündet von einer lichten Gegenwart jenseits dieser Begrenzung.

Die Installation hat den funktionalen Versammlungsraum „geerdet“ und ihm gleichzeitig eine geistige Ausrichtung gegeben. Der so wichtige Mittelgang der auf den Altar ausgerichteten und zu ihm hinführenden Wegekirche wurde mit der getrockneten Erde unbegehbar gemacht. Die Künstlerin schuf damit einen „heiligen“ Raum in der Mitte der Gläubigen, der nicht begehbar war. Mit der Erde brachte die Künstlerin die Natur in den „vergeistigten“ Raum hinein und öffnete damit u.a. Bezüge zur Schöpfung, zum Ackerland, zur Fragilität und Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Auch wurden dadurch viele Gläubigen in ihrer Gewohnheit „gestört“ und zum Gehen anderer Wege bewegt – eine sinnbildliche Ermutigung, dies auch im Glauben zu tun und dadurch „beweglich“ zu bleiben.

Die Dornenhecke führt die der Erdschüttung innewohnende Symbolik fort. Die abgeschnittenen Äste zeugen von der Wachstumskraft, die in den Pflanzen und Bäumen steckt. Als gewachsene Elemente voller Verzweigungen ist das Leben in ihnen noch zu spüren, wenngleich aller Saft aus ihnen entwichen ist. So vermögen die Äste die Fülle des Lebens, aber auch seine Grenzen darzustellen, die Dornen gleichzeitig die damit verbundenen Schmerzen und Leiden in Erinnerung zu rufen, Bezüge zum Leiden Jesu und ganz allgemein zu unserem Vergehen und Sterben herzustellen. Während im Erdboden unendlich viel Potential beheimatet ist, steht die dornenbewehrte Hecke mehr für die Endlichkeit allen Lebens, für die unüberwindbare Begrenzung, die uns umfängt und die wir nur in der Hoffnung und im Glauben zu durchdringen vermögen. Die Hecke bildet ja keine homogene Mauer, sondern lässt bescheidene Durchblicke zu, die sich durch die Helligkeit des Lichtes vornehmlich auf dieses beziehen.

Wenn die Erde das Diesseits verkörpert, unser fragiles und doch so leistungsfähiges Wesen, dann vermag die Dornenhecke das mit Schmerzen verbundene und oft leidvolle Ende unseres Erdenlebens dazustellen. Sie trennt vom Jenseits, das sich in der Installation als schwer einsehbares dunkles „Dahinter“ oder „Danach“ gibt. Während der Altar Orientierung an Gott und spirituelle Stärkung auf dem Lebensweg symbolisiert, thematisiert das gelbe Licht unsere Sehnsucht nach ewigem Leben. So lässt das Licht eine helle, warme und dadurch haltgebende Gegenwart auf der anderen Seite wahrnehmen – gerade dann, wenn es dunkel und kalt um uns wird und wir alles Liebgewonnene aufgeben müssen. Der Glaube an die Auferstehung von den Toten wird dadurch gestärkt, die Hoffnung, dass sich Gott in der Stunde unseres Todes auch unser erbarmt und uns wie seinen Sohn zu sich ins Licht holt und die wirkliche Fülle des Lebens erfahren lässt.

Befragungswürdige Zeichen

Über dem Kircheneingang der evangelischen Auferstehungskirche in Rottach-Egern am Tegernsee sind von der Künstlerin Meide Büdel fremd anmutende Zeichen angebracht worden. Eine moderne Kreuzigungsgruppe war gewünscht worden, stattdessen sieht man in der weißen Kirchenwand minimalistische Zeichen eingelassen. Befragungswürdige Zeichen! Zeichen, unter denen man nicht einfach durchgehen kann ohne zu überlegen, was sie zu bedeuten haben, worauf sie sich beziehen. Zeichen also, die aufmerken lassen, irritieren, vielleicht sogar verstören, aber auf jeden Fall nachdenklich stimmen und bewegen.

Drei auf einer Horizontalen liegende Rechtecke bilden die Basis. In ihren Proportionen erinnern sie an Ziegelsteine. Zwischen ihnen ist ein je dreifacher Abstand ihrer Länge. Auf dem mittleren Rechteck erhebt sich wie eine Stele eine senkrechte Linie, um die sich die anderen sechs Elemente gruppieren. Fünf von ihnen sind auch als waagrechte Rechtecke ausgeformt, allerdings leicht kleiner und schmaler als die Basis-Rechtecke. Zwei von ihnen liegen direkt auf Letzteren auf, zwei von ihnen mit dem gleichen seitlichen Abstand von der Senkrechten auf zweidrittel Höhe derselben, das letzte Element in der Verlängerung der Senkrechten weit oben über einem schwarzen Objekt, das ebenfalls waagrechten Charakter hat (Gesamtansicht).

Von weitem sieht das Objekt wie ein archaisches Tier aus, das über die Kirchenwand krabbelt. Doch aus der Nähe vermag man zwei schwarze rechteckige Holzformen auszumachen, die mit zwei breiten Gummibändern an und in die Wand gedrückt und von vier großen Nägeln festgehalten werden.

Für jemanden, der mit mittelalterlichen Kreuzigungsgruppen nicht vertraut ist, müssen diese schwarze Form und die waagrechten und senkrechten Reduktionen Rätsel aufgeben. Dennoch … An dieser prominenten Stelle über dem Kircheneingang muss es etwas Bedeutendes sein, das dargestellt wird. Wie Mauerreste den Ort und die Raumaufteilung eines ehemaligen Gebäudes bewahren, so vermögen die Markierungen in ihrer Anordnung an eine einzigartige und deswegen denkwürdige geschichtliche Begebenheit erinnern. Wie Ruinen lassen sie gleichzeitig ehemalige Größe und Schönheit und derzeitige Abwesenheit und Leere spüren.

Bedrückend schwebt die an die Wand gedrückte schwarze Form über den filigranen Andeutungen. Die schwarze Farbe und die Gummibänder lassen die dunklen Kräfte in dieser Welt erahnen und zusammen mit den farblich kontrastierenden Nägeln an Qualen, Folter und Tod denken. Das mit Feuer geschwärzte und in der Mitte geteilte Holzstück vermag symbolisch eine Person darzustellen, die brutal gefesselt und festgehalten wurde, die unter der unmenschlichen Behandlung gelitten und die es in dieser Anspannung innerlich zerrissen hat. Ohnmächtig, jeder äußeren Bewegungsfreiheit und Hoffnung beraubt, blieb nur der Tod.

Damit vermag dieser an die Kirchenfassade gefesselte Holzkörper eindeutig auf Jesus, den Gekreuzigten hinzuweisen, aber auch alle Menschen einzubinden, die sich in ähnlichen unfreien, bedrückenden, quälenden, folternden und letztlich das Leben zerstörenden Umständen befinden.

Wenn der Betrachter davor oder darunter steht, so nimmt er gleichsam den Platz von Maria oder Johannes ein, die damals ohnmächtig und trauernd unter dem Kreuz bei ihrem Herrn ausgeharrt, ihm dadurch aber auch Beistand gegeben haben. Mit den Markierungen seitlich der senkrechten Linie hat die Künstlerin den Platz der Mutter und des Lieblingsjüngers auf der einen Seite erinnernd angedeutet, auf der anderen Seite die Möglichkeit geschaffen, als Betrachter selbst diesen Platz bei den Gefangenen, Gefolterten, Gekreuzigten und Sterbenden einzunehmen.

Die zentrale Vertikale zieht den Blick und die Gedanken nach oben zu dieser unheilvollen dunklen Präsenz. Die Gegenwart des Kreuzes ist in den umgebenden Markierungen zu spüren. Das dunkle Objekt selbst scheint im Raum dazwischen haltlos zu schweben. Und doch wird es unsichtbar für das menschliche Auge von einem senkrechten Stahlband gehalten und durchbohrt. Es bildet in seiner Länge ein Stück, ist allerdings im Bereich des Objektes in die Mauer eingelassen. So blicken wir auf zu dem, der am Kreuz erhöht (vgl. Joh 3,14; 12,34) sein Leben für alles Leid in der Welt hingegeben hat. Und wir blicken gleichzeitig auf zu allen Menschen, die in irgendeiner Form Gewalt erleiden.

Die Befragung der auf den ersten Blick vielleicht rätselhaften Zeichen hat somit zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Leiden und qualvollen Sterben des am Kreuz Hängenden geführt, an dessen Anblick wir uns durch die fast unendliche Multiplikation des Kreuzes und seine Präsenz in vielen Räumen vielleicht gewöhnt haben. Dadurch, dass es ein offenes Objekt ist, lässt es sich nicht auf den ersten Blick erfassen und abhaken, sondern es wird fragwürdig: würdig, auf seine tiefere Bedeutung befragt zu werden. In einer Zeit der medial stetigen und sofortigen Erreichbarkeit wirkt es auch gegen den Zeitgeist, weil durch die Abwesenheit von etwas Vertrautem die Leere ausgehalten werden muss. So vermag die ungewohnt andere Darstellung zu schockieren, ja muss sie, um uns in unserer Eile auszubremsen und zum Innehalten aufzufordern. Und sie gibt dem Kreuz eine Aktualität, die aufzurütteln vermag und zum Umdenken und zu neuem Handeln anregt. Das ist gut so.

weitere Information unter www.tegernsee-evangelisch.de 

Bezwingbar?

Ein ungewöhnliches Zusammentreffen: die feingliedrige Gestalt des Gekreuzigten inmitten dieser Schraubzwingen. Beide Akteure sind uns aus anderem Umfeld gut bekannt. Der geschnitzte Jesuskorpus hängt normalerweise an einem Kreuz in den Wohnungen. Die Schraubzwingen werden in Werkstätten zum Zusammenhalten oder –pressen von Holz, Metall etc. verwendet.

Für diese Arbeit wurden sie in eine neutrale Umgebung versetzt und geringfügig zweckentfremdet. Der Jesuskorpus schwebt losgelöst vom Kreuz in der Waagrechten, fast möchte man an eine Grablegung denken. Die sieben Schraubzwingen umgeben den Korpus wie ein Zwinger. Sie umschließen ihn wie ein Gitterkäfig, halten ihn wie Fesseln, foltern ihn mit Druck und Gewicht. Dabei sind fünf Schraubzwingen an seinem Körper angesetzt, zwei von ihnen dienen der Stabilisierung.

Was für ein Gegensatz: Zerbrechliches Naturmaterial zwischen den Metallzwingen, bei denen sich der Druck stufenlos erhöhen und halten lässt. Sinnbild für den zerbrechlichen Menschen, der durch Machtinstrumente anderer Menschen in grausame Bedrängnis gekommen ist. Die Schraubzwingen stehen für alles, was sich an uns festgemacht hat, an uns angesetzt worden ist und wie auch immer Druck auf uns ausübt. Wer schon mal Schraubzwingen in der Hand gehabt hat, weiß, wie fest sie angezogen werden müssen, damit sie halten und nicht herunterfallen, wie schwer sie gerade an feinen Gegenständen zu befestigen sind.

Die Aufgabe der Schraubzwingen ist es Druck auszuüben, etwas so in eine Position zu zwingen, dass es kein Auskommen mehr gibt. Bei zu viel Druck gibt es nicht nur Druckstellen, der eingeklemmte Gegenstand zersplittert und zerbricht. Bei dieser Installation scheinen die Druckverhältnisse ausgeglichen. Die Jesusfigur wird von den Schraubzwingen so gehalten, dass nichts an ihr zerbricht. Damit vermag die Installation daran zu erinnern, dass Jesus bei der Kreuzigung die Beine nicht gebrochen wurden, weil er schon tot war (Joh 19,33).

Gleichzeitig ist in der Übermacht dieser martialischen Folterinstrumente seine Ohnmacht zu spüren, sein ausharrendes Leiden in dieser ausweglosen Situation. Während er den Kopf leicht gebeugt hält, umgeben die Zwingen den geradezu kleinen Holzkorpus hart und stetig. In der schwarzen Farbe schwingt das Dunkle des Bösen mit, das glänzende Metall erinnert an Rüstungen, die roten Griffe an das Teuflische in den Handlungen derer, die so etwas machen, an das Leid, das sie bereiten, das Blut, das sie vergießen.

Aus ihnen spricht die Macht, den Jesuskorpus wie ein Streichholz zu knicken. Doch der mit ausgestreckten Armen Daliegende stemmt sich ihnen mit der in ihm ruhenden Kraft entgegen. Diese unsichtbar in ihm gegenwärtige Kraft gibt ihm den inneren Halt, allen Bedrohungen und Zwängen standzuhalten und sie auszuhalten. Die Installation lässt spüren: die Gegner sind vielleicht mächtig, sie bedrängen Jesus sehr, aber bezwingen werden sie ihn nie.

Aufbruch zum Leben

Acht Skelette bilden auf den zwei großen Bildtafeln (Zoom) eine Art Totentanz quer durch den Chor der katholischen Kirche St. Peter und Paul in Dürbheim. Sie liegen nicht, sondern sitzen, stehen, hängen, trommeln, blasen die Fanfare. Aus dem Staub des sandigen Bodens haben sie sich erhoben, wieder menschliche Gestalt angenommen. Während die einen noch mit verschränkten Armen im Dunkeln kauern, stehen andere schon aktiv im Licht, blasen und schlagen zum Aufbruch. Sie scheinen nicht nur die im „Schatten des Todes“ Sitzenden zum Aufstehen bewegen, sondern auch alle im Kirchenraum Anwesenden wecken und aktivieren zu wollen. Damit steht die künstlerische Intervention in einer Linie mit der biblischen Erzählung von der Auferweckung der Toten im Buch Ezechiel 37,1-14. Damals stärkte Gott durch die großartige Vision sein in langjähriger Gefangenschaft entmutigtes Volk und gab ihm neue Kraft, seiner alles erneuernden Geisteskraft zu vertrauen.

Von außen nach innen bauen sich die beiden Bildtafeln auf und entwickeln über eine imaginäre Kopflinie hinweg eine ungeheure Kraft, die letztlich über die Fanfaren hinaus den Bildrand quert: Alle sollen von dieser Auferstehung hören, alle sollen von dieser Hoffnung leben. Im Gottesdienst bilden die beiden Fanfaren spielenden Skelette ein Spalier für den, der durch die Öffnung in ihrer Mitte geht: den Leiter des Gottesdienstes, den Pfarrer oder den Diakon, der den lebendigen Gott verkündet und das Brot des Lebens reicht. Und wenn der Priester am Altar steht, wird erst recht deutlich, dass die Fanfarenstöße und Trommelwirbel Christus gelten. Denn gerade während der sakramentalen Handlung am Altar handelt der Priester in „persona Christi“.

Die Bildtafeln sind eigens für diesen Chorraum gemacht. Wie eine Chorschranke trennen sie den Altarraum: vorne der aktuelle Volksaltar, hinten der barocke Hochaltar mit dem Allerheiligsten (Choransicht). Obwohl die Platten auf den ersten Blick wie eine Mauer wirken, lassen sie unzählige Durchblicke auf den Hintergrund zu. Die meisten Linien sind mit der Motorsäge „gezeichnet“ bzw. aus der Spanplatte herausgeschnitten worden. Sie finden sich bei den Schattenbereichen genauso wie bei den stern- und kreuzförmigen Gebilden, die dunkel den hellen Hintergrund strukturieren. Insbesondere fallen sie aber bei den Skeletten und der Zeichnung ihrer Knochen auf (Detailansicht). Was dem lebenden Menschen Halt gibt, ist hier Freiraum, Leere, Nichts. Durch die Schnitte wurde gleich in zweifacher Weise Trägermaterial (Spanplatte und Knochen) entfernt, was die Verwandlung zu immateriellen Wesen noch hervorhebt.

Geisterhaft, unwirklich erscheinen die Skelette so im Material der Spanplatte als skelettierte Lichtgestalten. Von den Knochen her, von ihrer tragenden Körperstruktur her löst sich ihre Körperlichkeit in Luft und Licht auf. Vollzieht sich an ihnen Auferstehung? Umgekehrt wurde die Spanplatte mit jedem Schnitt geschwächt, mit jeder Materialentfernung mehr zum Skelett ihrer selbst. Dabei hatte sie als Recyclingprodukt von Holzspänen selbst schon eine Verwandlung zu einer neuen Form erfahren. Aber diese Verwandlung von Material spielt sich in unserer Wirklichkeit ab und ist absolut verständlich und beobachtbar. Ganz anders ist es bei den Gestalten. Deren Rückkehr in bewegtes Leben, ihre Auferstehung entzieht sich unserer Beobachtung, unseren Sinneskräften und der Künstler muss zu Symbolen greifen, wenn er „anschaubar” machen möchte, was in einer anderen Dimension stattfindet. Hier kann es die Teilung des Chorraums sein, die eine Ahnung von dem vermittelt, was eigentlich verborgen ist. Der vordere Teil ist unser Lebensraum. Die Verwendung des Alltagsmaterials Holz unterstreicht das. Und dahinter, verbunden durch einen schmalen Gang, ist das Andere, das Sakrale, Auferstehung, ewiges Leben, Gott, zu dem nur Glauben und Hoffen gelangen können. Aber das Geschehen am Altar kann ein Wegweiser in diese andere Dimension sein.

Diese Installation von Hans-Jürgen Kossack wurde 2011 im Rahmen der Ausstellung malhalten – Gegenwartskunst in einundzwanzig Kirchen in der katholischen Kirche St. Peter und Paul in Dürbheim gezeigt.

Heute keine Kreuzigung

Minimal ist der künstlerische Eingriff im Chor der barocken Ruhe-Christi-Kirche in Rottweil. Und doch lässt die gelbe Tafel keinen Kirchenbesucher unberührt. „Heute keine Kreuzigung, Pilatus“ leuchtet befremdlich aus dem dunklen Hintergrund heraus (Gesamtansicht). Wie eine Bekanntmachung ist das Schild aufgestellt, so wie man Schilder zur Orientierung in Häusern mit ständig wechselnden Anlässen aufstellt oder an Orten, an denen sich immer wieder etwas verändert.

Dieses Schild richtet sich eindeutig an ein neugieriges, schaulustiges Publikum. Doch ob die Kirchen- oder Kunstbesucher mit der Absicht in die Wallfahrtskirche eingetreten sind, life eine Kreuzigung mitzuerleben? Das Hochaltarbild mit der Kreuzigung Jesu deutet wohl an, dass früher mal eine Kreuzigung stattgefunden hat, aber nicht, dass diese Praxis an diesem Ort praktiziert wurde oder wird.

„Heute“ jedenfalls findet „keine Kreuzigung“ statt. Verantwortlich für diese Bekanntmachung zeichnet ein gewisser „Pilatus“. Der Präfekt der römischen Provinz Judäa wollte dem biblischen Texten nach Jesus zunächst nicht kreuzigen lassen. Diesbezüglich könnte man seine ursprüngliche Entscheidung durchaus in dieser Kurzform dem „Volk“ bekannt machen. Allerdings liegt ein Zeitensprung von etwa 2000 Jahren zwischen damals und heute. Das Volk ist in der Zwischenzeit ein ganz anderes, auch wenn Schaulust und Sensationsgier geblieben sind.

Damals forderte das Volk gegen den Entscheid des Pilatus ein Todesopfer. Dieser beugte sich dem Volkswillen, „wusch seine Hände in Unschuld“ (Mt 27,24) und gab Jesus zur Geißelung und Kreuzigung frei. Daran erinnert an der Chorschranke eine Grafik (Pilatus, 2002, Bleistift/Schellack/Papier, 100 x 70 cm, Ansicht), auf der aus einem Krug eine gelbe Flüssigkeit in eine schwarze Schale gegossen wird. Obwohl weder Hände noch Person zu sehen sind, der diese Handwaschung gelten soll, verbinden wir sie mit Pilatus.

Doch die Kundgebung des Pilatus erinnert nicht nur an das Geschehen damals, als Pilatus sich gegenüber dem Volk zu schwach zeigte, um für Jesus ein rettender Fels in der Brandung sein zu können. Das Schild ist auch Aufforderung an uns. WIR sollen niemand kreuzigen. Denn WIR stehen im Heute und haben die Macht, uns für oder gegen Menschen einzusetzen. An uns ist es, Gerechtigkeit zu unterstützen, an uns, Barmherzigkeit walten zu lassen oder bedrohtes Leben zu schützen. „Heute keine Kreuzigung“ ist keine Eintagsfliege. Gerade durch das „Heute“ erhält die Kundgebung jeden Tag aufs neue Brisanz.

Und „Heute keine Kreuzigung“ ist prägnant genug, um sich die Worte wie einen Leitsatz einzuprägen. Auch wenn bei uns niemand mehr wie zur Zeit Jesu gekreuzigt wird, so be-gut-achten wir doch die meisten Menschen um uns herum, beurteilen sie nach unseren Kriterien, fällen oft Urteile über sie und verurteilen sie auf die eine oder andere Weise. Diesbezüglich ist „Heute keine Kreuzigung“ eine klare Aufforderung: Es geht auch anders! Jeder Tag und jeder Mensch bietet dazu Gelegenheit.

Diese Installation von Nikolaus Mohr wurde 2011 im Rahmen der Ausstellung malhalten – Gegenwartskunst in einundzwanzig Kirchen in der Wallfahrtskirche Ruhe-Christi in Rottweil gezeigt.

Impulse fürs Leben

Zwei Bilder stehen an die Wand gelehnt auf dem Boden. Sie befinden sich an der Stirnseite des Andachtsraumes im Reichstagsgebäude in Berlin. Die beiden Bildtafeln bilden mit fünf weiteren Tafeln (Ansicht 1, Ansicht 2, Ansicht 3) den visuell prägenden Schmuck dieses überkonfessionellen Andachtsraumes von Günther Uecker, in dem er zu meditativem Nachdenken anregt und Wesentliches zum Verhältnis der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam zur Sprache bringt.

Die abgebildeten beiden Tafeln sind dem Christentum zugeordnet. Mit den Nägeln und den mit Leinen auf den weiß-braunen Hintergrund applizierten Kreuzen lassen sie an den Kreuzestod Jesu denken. Doch wieso so viele Nägel, wieso zwei Kreuze? Stehen sie etwa für das Leiden und den Schmerz vieler? All derer, die genau wie die Nägel geschlagen wurden? Zusammen bilden sie auf den Kreuzen aus Leinen, das früher auch als Verbandsmaterial und als Leichentuch verwendet wurde, einen Körper, der sowohl geschunden als auch voll innerer Dynamik und Schönheit ist. Durch die Bewegung der Nägel liegt ein eigenartiger Schwung in ihnen (Detailansicht). Durch die Verdichtung der Nägel nach oben und die erhöhte Position der Kreuze wohnt ihnen trotz ihrer schweren Last etwas Leichtes inne, scheinen sie wie Blätter über der graubraunen Sandflächen in der Luft zu tanzen.

Schweben sie nicht über dem Materiellen und Schweren, über dem Dunklen und Belastenden im mit weißen Farbflächen versehenen Bereich? Beide zeigen zudem eine von links unten nach rechts oben strebende dynamische Bewegung. In diesen Kreuztafeln steckt hoffnungsvolles Leben. Was wohl der Grund dafür sein mag? Ob er letztlich im Zwischenraum liegt, der nicht nur in der Fotomontage, sondern auch im Andachtsraum der Breite einer Tafel entspricht? Der leere Platz als Sinn-Bild für denjenigen, der zwischen zwei Schächern gekreuzigt worden ist, aber als Erster von den Toten auferweckt wurde? Ja, denn wir glauben, dass Jesus alle Leiden auf sich genommen und getragen hat, damit alle durch ihn Erlösung erlangen. Sein neuer Platz ist unmittelbar vor diesem leeren Platz auf dem Altar.

Die beiden Bildtafeln erinnern also ganz konkret an die Kreuzigung auf Golgata, zeigen bildlich aber nur die Kreuze der beiden Schächer. Ein Ort für meditatives Nachdenken. Wo stehe ich? Was bewirke ich? Welche Ungerechtigkeiten, ja Verbrechen können aus meinen Entscheidungen und Handlungen entstehen und vielen Menschen unsägliches Leid und großen Schmerz zufügen? An diesem Ort mit weitreichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen stellen die Bildtafeln eine starke Erinnerung dar, ja einen steten “Nagel im Fleisch” (2Kor 12,7) der Politiker, ihre Interessen und ihre Macht gut zu bedenken, ihre Entscheidungen gut abzuwägen, damit sie für den Nächsten nicht Tod, sondern Leben und zwar möglichst gutes Leben bedeuten.

Als weiterführende Literatur zum Andachtsraum finden Sie hier einen empfehlenswerten Bericht von Dr. Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundentages, aus der Zeitschrift kunst und kirche 2/2010 (mit freundlicher Genehmigung des Autors und Dr. Johannes Stückelberger). Zum Bericht (1,4 MB PDF).

Das Sein ausloten

Ein Spiegelsaal oder Spiegelkabinett war in der Zeit des Feudalismus der Höhepunkt eines Schlosses. Er sollte die meist sehr auf Äußerlichkeiten bedachte Hofgesellschaft von allen Seiten und für alle Anwesenden repräsentieren. Es ging darum, ob die neue Robe gut kleidete und zu den Tanzschritten des Paares harmonisch schwang, ob die Perücke dazu passte, ob man eben gut aussah.

Die Spiegelkunstwerk von Christian Lippuner ist für die Art der Bespiegelung nicht geeignet. Die sechs leporelloartig sich entfaltenden Spiegelreihen fragmentieren vielmehr den davor stehenden Menschen, teilen ihn durch ihre schräge Anordnung in scheinbar unzusammenhängende Einzelteile, verdoppeln ihn bzw. werfen seinen Oberkörper nach unten und seine Beine nach oben. Kein Wunder, wenn der Betrachter verwirrt vor diesem Facettenspiegel steht, der ihn regelrecht auseinander nimmt. Sie stellt ihn über seine Erscheinung, sein So-Sein hinaus auch in seinem Dasein in Frage. Es geht hier nicht mehr um die Schönheitsfrage von Schneewittchens Stiefmutter („Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“), sondern um die entsetzte Frage eines jeden Einzelnen: „Bin ich das?“ Durch die ungewohnt verzerrte Erscheinung wird der Betrachter zum Nachdenken über sein Wesen, seine Existenz und das, was aus ihm geworden ist, angeregt.

Doch sind da nicht auch noch Texte in einzelnen Spiegelflächen zu sehen? Auf einer schwarzen Wand hinter dem Betrachter angebracht sollen sie den Besucher wohl während der Betrachtung überraschen, seine Gedanken in die beabsichtigte Richtung lenken oder sie einfach bestärken. Dass diese Texte den Intellekt ansprechen wollen, zeigt sich schon darin, dass sie von Hand seitenverkehrt aufgemalt worden sind (Detailbild), auf genau gleich große Spiegel wie diejenigen vor dem Betrachter. So wird der Betrachter von vorn und von hinten gespiegelt und gleichzeitig können die Texte erst im Spiegelleporello vor dem Betrachter gelesen werden. Denn sie betreffen ihn.

Es sind keine Fragen, sondern vielmehr Gedanken, die um das Individuum, das Unteilbare eines jeden kreisen. Gedanken, die in unserer Zeit der vielen Rollen, die wir je nach Ort und Tätigkeit annehmen und ausfüllen, zur Sammlung anregen, zum Überdenken vom Können, Dürfen, Wollen, Sollen, Müssen, Werden und Lassen unseres Seins. So weist die Installation in einer Zeit, in der die Fülle an Möglichkeiten und steigenden Ansprüche immer mehr an uns zerren, darauf hin, dass ich in meinem Geist die vielfältigen Rollen und Möglichkeiten zusammenhalte. Sie weist darauf hin, dass ich sie zu einem unteilbaren Ganzen zu gestalten und zu vereinen habe.

„Sein dürfen, was man ist“: Ich darf das sein, was ich bin. – Jedes Kind kommt mit einer „Grundausstattung“ zur Welt, mehr oder weniger vollkommen. Die erste Frage jeder Mutter ist deshalb: Ist alles in Ordnung? – Aufatmen, wenn Bejahung die Antwort ist, erdrückende Last, wenn ein Organ oder das geistige Vermögen Defizite hat … bis man begriffen hat und vor allem erfahren, dass auch dieses Leben ein Geschenk ist, ein Glücksfall, der sehr wohl sein darf.

„Sein können, was man ist“: Ich kann das, was ich bin, ausleben bzw. in mein Leben einbringen. Meine Fähigkeiten und Neigungen wurden erkannt und gefördert. Nun kann ich sie in Familie und Beruf, in soziale und politische Tätigkeiten einbringen.

„Sein sollen, was man ist“: Ich muss mich nicht verstellen, ich muss nicht anders sein, um zu gefallen. Authentizität ist gefragt. Stimmige Einheit von Denken, Sprechen und Handeln berührt, bewegt und erzeugt Achtung und Wertschätzung.

„Sein lassen, was man ist“: Manche sind sehr anspruchsvoll gegenüber ihrem Körper geworden. Gesundes Leben braucht ein dankbares Einverständnis dafür, wie es angelegt ist. Es braucht eine Zufriedenheit für das, was gut ist und Gutes bewirken kann, selbst wenn es nicht genau dem Zeitgeist oder mancher Wunschvorstellung entspricht.

„Sein werden, was man ist“, könnte als Widerspruch angesehen werden. Aber genau dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Im Tempel des Apollo in Delphi ist das „ERKENNE DICH SELBST“ eingraviert, später schreibt Angelus Silesius „Vor jedem steht ein Bild, das, was er werden soll. Solang er das nicht ist, ist nicht sein Frieden voll“. Und die Philosophie, Psychologie und Pädagogik kennen bis in unsere Tage den Appell: „Werde, der du bist“.

„Sein wollen, was man ist“, das könnte auch heißen: mit sich selbst in Einklang stehen, zu sich stehen, im Großen und Ganzen mit sich und seiner Lebensgestaltung zufrieden sein.

„Sein müssen, was man ist“: Das Müssen drückt eine Notwendigkeit aus, der zu folgen keine Wahlmöglichkeit lässt. Diese kann sich in körperlichen Einschränkungen bei Behinderungen aller Art zeigen, aber auch in geistigen Überzeugungen und Haltungen wie jener des Martin Luther zu Tage treten: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders …”

Wunden und Heilung

Spannungsvoll fügen sich die beiden langformatigen Arbeiten in den barocken Kirchenraum ein. Nahezu monochrom und rechteckig hart stehen sie im Kontrast zu den verspielten Farben und Formen der barocken Altäre. Andererseits integrieren sie sich durch Parallelen zur Länge der Kirche oder der Höhe ihrer Fenster. Vermittelnd befinden sie sich zwischen Chorraum und Kirchenschiff, ganz in der Tradition, die Botschaft von Leben, Tod und Auferstehung Jesu zu den Menschen zu tragen. Einander gegenüber positioniert erzeugen sie ein dialogisches Spannungsfeld, vor dem der Betrachter steht und in das er sich hineinziehen lassen kann.

Ein Betrachtungsraum, der unaufdringlich vom Kreuz geprägt ist und in seiner zurückhaltenden Sprache doch berührt und zur Auseinandersetzung mit existenziellen Lebenserfahrungen einlädt. In der roten Vertikalen mit den Verletzungen und offenen Wunden, die oft mit Leid, Blutvergießen und himmelschreiendem, da geradezu unerträglichem Schmerz verbunden sind. In der weißen Horizontalen mit einem Ruhe und Erlösung verheißenden, bergenden und von Licht durchfluteten Grab- und Heilsraum.

So stellt Margaret Marquardt „einander Hingabe und Erlösung, Kreuz und Heil, Tod und Leben, Sterben und Auferstehen, Vergießen und Hüllen gegenüber und bringt mit den beiden Arbeiten die Vertikale und die Horizontale des Kreuzes in Beziehung, die das Leid annimmt und heilend überwindet.“ Thematisch reihen sich die beiden Arbeiten damit in die kirchliche Grundausrichtung, „Kranke, Verletzte, Verwundete zu besuchen, Wunden zu versorgen, Leidenden beizustehen und zu heilen. Jesus selbst hat sich den Wunden, den Verletzungen der Menschen seiner Zeit gestellt, ist uns mit gutem Beispiel vorangegangen, hat sich persönlich und unmittelbar jedem Kranken gewidmet, ihn gefragt: „was willst du, das ich dir tue?“ und ihn geheilt. Er hat vom barmherzigen Samariter erzählt und das über ihn verhängte Urteil angenommen.“ (Engelbert Paulus)

In neuer Sprache bringen die beiden Arbeiten somit etwas zum Ausdruck, das uns alle bewegt. Die verwendeten Mullbinden oder Gazen verstärken die Erinnerung an Verletzungen und Verwundungen, die auf Grund ihrer Schwere verbunden werden mussten, geschützt und gepflegt, um den Heilungsprozess zu ermöglichen und zu unterstützen. Aus der roten Installation (Detailbild) sind durch die dreiteilige Anordnung auch Nachdrücklichkeit und der Ernst der Lage herauszulesen. Sie dokumentiert die noch frische Verwundung, bei der der Blutfluss den Verband durchtränkt und der Kampf um das Leben zu spüren ist. Wie die Arbeit an die Wand angelehnt ist, drückt sie zudem die mit Verletzungen einhergehende Erschöpfung und das Bedürfnis aus, sich anlehnen zu können und Hilfe zu erfahren, um bestehen zu können.

Eine ganz andere Atmosphäre entfaltet sich in der weißen Installation (Detailbild). Weite breitet sich hier aus, ein fortgeschrittener Genesungsvorgang ist zu spüren. Das Blut ist gestillt, die Wunden sind verbunden, Heilung ist im Gange – Auferstehung zu neuem Leben (Detailbild). In den Schichtungen des Verbandes kommt auch der Zeitfaktor zur Geltung. Die geduldige Pflege braucht ihre Zeit, ebenso die Heilung. Weiter erinnert die Beleuchtung von hinten, dass diese Heilung von innen heraus geschieht und geschehen muss.

So laden die Arbeiten zur Einkehr und Besinnung auf körperliche und seelische Verwundungen ein. Zu einem Verhalten, das dem der Verletzten und Verwundeten ähnlich ist, die still halten, um den Schmerz gering zu halten, aber auch, um von lieben Mitmenschen richtig versorgt werden zu können. In der Kirche ist es ein Innehalten, um der vielfältigen Verwundungen bewusst zu werden – und sie Gott hinzuhalten, damit er heilend auf sie schaue und mit seiner Liebe von innen heraus schließe.

Betrachtungen von Diakon Engelbert Paulus (Pressetexte)

GrossARTiges Totengedenken

9000 Schulranzen in blauer, roter, gelber und grüner Farbe sind während der Ausstellung „So Sorry!“ des chinesischen Künstlers Ai Weiwei vom 12. Oktober 2009 bis zum 17. Januar 2010 an der Fassade des Hauses der Kunst in München angebracht. Mit dieser monumentalen Arbeit erinnert er an die am 12. Mai 2008 bei einem Erdbeben in der Region Sichuan verschütteten Schulkinder. Mit den malerischen, aber für uns unverständlichen chinesischen Schriftzeichen verkündet er weithin sichtbar: „Sieben Jahre lebte sie glücklich in dieser Welt“ (Detailbild).

Diese Worte stammen von einer Mutter, die damit ihrer verstorbenen Tochter gedachte. Ai Weiwei hat sie mit Rucksäcken geschrieben, weil nach dem Erdbeben in der Umgebung der Schulen viele Ranzen der verschütteten Kinder gefunden worden waren. Mit seinem Kunstwerk rückt er die Verlorenen und Verschütteten jener Tage in die Weltöffentlichkeit. In buntem, frohem Farbenwechsel legt er die verschüttete Hoffnung offen. Da ist für unser Gefühl keine Trauer zu spüren, vielmehr die kindliche Freude, wie sie Schulanfängern oft eigen ist, wenn sie endlich Schreiben und Lesen lernen und anwenden können (Detailbild).

Aufgrund ihrer gewaltigen Dimension ist die Arbeit von Ai Weiwei kaum von einem Standpunkt aus zu erfassen (auch Laubbäume verunmöglichen eine direkte Gesamtansicht). Sie verlangt vom Betrachter entweder Distanz oder die Zeit, sie der Länge nach mit dem nach oben gewandten Kopf abzuschreiten. Beide Haltungen fordern Ehrfurcht, ein stilles, fassungsloses Gedenken an das Unmaß jener Katastrophe, an die unzähligen Kinder, deren Stolz, endlich zur Schule gehen zu dürfen, und an ihr Glück zu leben, das zerstört wurde (Detailbild). Die Rucksäcke weisen auf ihren kurzen Weg auf dieser Erde hin, auf die Wanderschaft, bei der jeder Erdenbürger mit seinem Bündel die verschiedenen Dimensionen des Lebens entdeckt und durchschreitet. Nun sind die Ranzen leer. Es gab nichts in die andere Welt mitzunehmen. Ihnen bleibt, Erinnerung von kindlichem Glück zu sein (Detailbild). In ihrer Gesamtheit bleiben sie ein temporäres Mahnmal, dass auch unser Leben jederzeit gefährdet ist und zu Ende gehen kann.

Diese Installation hat nichts mit unseren Grabsteinen und Denkmälern zu tun, mit denen wir unserer Verstorbenen gedenken. Sie ist eine großartige Form, in unserer globalisierten Welt auf Mitmenschen aufmerksam zu machen, die unsere Zeitgenossen waren, aber durch einen Schicksalsschlag von unserer Seite gerissen worden sind. Zwar hatte die Presse seinerzeit über das Unglück berichtet, aber wer erinnert sich noch daran? Der Künstler weckt die tiefgehende Erinnerung an seine verstorbenen Landsleute. Indem er seine Arbeit bei uns aufgebaut hat und hier ausstellt, lässt er die Kinder zu unseren Nächsten werden – über alle ethnischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder anderen möglichen Grenzen hinweg. Großartig.

Wesentliches

Isoliert vom barocken Umfeld der Klosterkirche Engelberg mag die große violette Fläche mit den paar weißen Strichen asketisch anmuten. Wenn wir uns jedoch vergegenwärtigen, dass diese Arbeit als großes Fastentuch den zentralen Hochaltar verdeckt und somit inmitten der bewegten Barockarchitektur mit ihren Zeichen einen starken Kontrapunkt setzt, dann erhält die Arbeit ein ganz anderes Gewicht. Sie lenkt in den von visuellen Reizen verwirrten und ermüdeten Blick auf das Wesentliche und schenkt ihm Momente der Ruhe. (Innenansicht der Klosterkirche)

Violett ist von alters her die Farbe der Advents- und Fastenzeit. Als Farbe zwischen Rot und Blau vermag sie das „Ringen des Geistes mit dem Fleisch und die Zerknirschung des Herzens auszudrücken.“ (G. Kranz) Violett ist damit der gefühlte farbliche Ausdruck für Leiden, Trauer, Umkehr und Buße. In der randlosen Fläche steht sie auch für das Ewige und im Hochformat des Bildes für die Verbindung zwischen Gott und Mensch.

Die im oberen Drittel angeordneten weißen Striche lassen den Betrachter aufblicken. Der möglicherweise gesenkte Kopf wird gehoben, der Blick in die Höhe gelenkt. Die fünf Linien gruppieren sich zu einem symbolischen Zeichen, das sich auf ganz unterschiedliche Weise interpretieren lässt.

In ihrer waagrechten und senkrechten Anordnung können sie ein Kreuz andeuten. Die Fünfzahl der Linien mag an die Wundmale Christi denken lassen. (Detailansicht)

Als weiße Spuren zeichnen die Linien aber auch Wege mit Unterbrechungen und Abzweigungen. Wege, die horizontal wie vertikal gegangen werden können. Wege, die links und rechts über die Grenzen des Tuches hinausweisen. Wege, die mit ihren Kurven und Brüchen unseren Lebenswegen gleichen. Die verlaufen auch nicht immer gerade. Oft genug ist Innehalten, Besinnung und Umkehr gefordert, gilt es, einen Neuanfang zu wagen. Und oft erkennen wir erst aus Distanz und unter Einbezug der Fehlstellen, dass unser Leben doch ein Ganzes ergibt.

Die gewellten Linien lassen Bewegung spüren, Bewegung, wie sie der Luft innewohnt oder auch im Wellenspiel des Wassers zu beobachten ist. Leicht schwebt so das Leben über der das Leiden andeutenden Grundfläche. Zusammen mit der weißen Farbe klingt damit bereits etwas von der Auferstehung an, bricht wie durch Risse im Grundgewebe das österliche Licht des neuen Lebens hervor.

Zum Leben befreit

Welch ein Gegensatz! Die Gemeinde befindet sich das Jahr über einem barocken Hochaltar mit gewohnten klaren, verständlichen Darstellungen gegenüber (Gesamtansicht). Sein Mittelteil wird nun in der Fastenzeit hinter einem großen Fastentuch mit moderner, verschlüsselter, anfangs nicht leicht deutbarer Bildsprache verborgen (Altaransicht). Eine Aufforderung, genau hinzuschauen und zu versuchen, über Altbekanntes in neuer Weise nachzudenken.

Ins Auge springen die Farben: violetter, in sich bewegter Hintergrund, leuchtendes Gelb, korrespondierend mit Rot.
Mittelpunkt der Darstellung ist eine gelbe Lichtsäule, die über dem Tabernakel wie aus einer anderen Dimension aufsteigt und in einer gelb-leuchtenden Lichtquelle, einer Sonnenscheibe endend, das eigentliche Zentrum des Bildes darstellt.

Rechts und links flankieren zwei schlankere Lichtsäulen die zentrale stelenartige Erscheinung. Sie sind unregelmäßig, wie zufällig, rot bebändert, so dass sie nur in ihrer Form festgelegt wirken, nicht aber in ihrer Ausgestaltung. Auch sie tragen je eine Lichtscheibe, allerdings kleiner und nicht so strahlend gelb wie die der mittleren Gestalt; auch nicht oben, sondern ungefähr in der Mitte. Im Unterschied zur mittleren Lichtquelle sind sie durch zwei augenähnliche Gebilde nach rechts orientiert, als hielten sie Ausschau. Urbild und Abbild?

Als drittes Element prägen das Tuch drei durchhängende Linien. Sie verbinden optisch die drei säulenartigen Erscheinungen und wirken wie feine, auffangende Arme, welche die Ausstrahlung der mittleren Säule weitergeben. Andererseits vermitteln sie mit ihrem durchgehenden Bogen den Eindruck, heruntergelassen worden zu sein, um Halt zu geben und ergriffen zu werden.

Das vierte Element: eine Art Schnurvorhang, der vor dem violetten Tuch pfeilförmig bis zum Tabernakel herunterhängt. Er besteht aus nah aneinander hängenden Seilen mit in unregelmäßigen Abständen geknüpften Knoten. Der erdige Farbton dämpft und stört das strahlende Gelb, doch ist er unabweislich da seiend und dazugehörend wie die Stricke und Knoten in der Natur und im Menschenleben.

Über der trennenden Waagrechten mit den Seilen findet sich das fünfte Element. Es ist ein Feld mit geheimnisvollen Zeichen, die von der Anordnung her einer Überschrift ähnlich sind. Die Farben der Zeichen sind umgekehrt zu den 3 Lichtsäulen verwendet: die Flächen sind rot, der Rand gelb. In der Mitte von zwei waagrechten Balken werden drei dünne, leicht schräge Elemente mit einer dritten, erhöhten Waagrechten zu einer Einheit zusammengefasst. Die zentrale und erhabene Anordnung lässt in dieser Chiffre ein modern gestaltetes Symbol für die Wesenheit Gottes vermuten. Besteht nicht eine stilistische Nähe zur Hand Gottes in frühchristlichen Malereien, welche andeutet, dass Gott sich vom Himmel her den Menschen zuwendet und zu ihnen spricht? Zwei augenähnliche Zeichen unterstützen diese Abwärtsbewegung – korrespondierend mit den nach oben gerichteten ähnlichen Zeichen der beiden Lichtsäulen. Warten letztere auf diese von oben kommende Ausstrahlung, diese Begeisterung aus Licht, Wärme und Liebe?

Aus dem Beobachteten werden Parallelen zur Verklärung Jesu offensichtlich. „Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden blendend weiß wie das Licht.“ Und aus der Wolke rief eine Stimme den staunenden Jüngern zu: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören.“ (Mt 17,2.5)

Noch wird dieses Bild vom davor hängenden Schnurvorhang und seinen Knoten getrübt. Seine Bewegung von oben nach unten steht im Gegensatz zur aufstrebenden Bewegung, die aus den drei Vertikalen und ihren Lichtscheiben hervorgeht. Der Dialog zwischen den verschiedenen Materialien und Ebenen, der vordergründig und materiell die Verknotungen und Verstrickungen von uns Menschen zum Ausdruck bringt, hintergründig und geistig die Verheißung Gottes sichtbar macht, wird deutlich. Vision und Knoten sind Einladung, mit Blick auf Jesus und mit seiner Hilfe Verstrickungen mit inneren und äußeren Knoten zu lösen. Eine mit dem Fastentuch zusammenhängende Arbeit (Abb.)verhüllt das Kreuz bis auf die Hände des Gekreuzigten mit dem Gebet:

Christus hat keine Hände, nur unsere Hände,
um seine Arbeit heute zu tun.
Er hat keine Füße, nur unsere Füße,
um Menschen auf den Weg zu führen.
keine Lippen, nur unsere Lippen,
um Menschen von ihm zu erzählen.
Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe,
um Menschen auf seine Seite zu bringen.

Begegnungen mit Auferstandenen, neues Leben ist angesagt. Leben, das von Gott und seiner Liebe her geprägt ist. Symbolisch dargestellt durch die beiden äußeren Säulen, die unser so unterschiedlich geprägtes Leben darstellen, das durch die bogenförmigen Verbindungen mit der zentralen Gestalt, Symbol für den da seienden, unter uns gegenwärtigen Gott, genährt und Halt gebend gesichert wird.

Metapher zu Leben und Tod

Luftballone erinnern mit ihren leuchtenden Farben und ihrer Leichtigkeit an kindliche Freude und ausgelassenes Leben. Wir verbinden sie mit Jahrmarktstimmung oder einem Fest. Solche farbigen Luftballone während der Fastenzeit in einer Kirche anzutreffen, erscheint auf den ersten Blick deplatziert. Ob sie aus der Faschings- oder Karnevalszeit oder von einem Kindergottesdienst hängen geblieben sind? Auffallend viele violette Ballone verweisen allerdings auf die vorösterliche Zeit der Besinnung und Umkehr.

In wolkenähnlichen Gebilden hängen, ja schweben die Ballone über dem Altar und verdecken das barocke Hochaltarbild. Was für ein Kontrast zur bestehenden Einrichtung: Hier leuchtend bunte, dort gedämpfte Farben, die einen erfüllt Leichtigkeit, die anderen bodenständige Schwere. Die Luftigkeit steht im Gegensatz zum fassbaren Material des Hochaltars, ebenso sind den beiden die Zeit und damit die Vergänglichkeit ganz unterschiedlich eingeschrieben.

Die Ballone stechen ins Auge, fordern zur Betrachtung heraus. Noch sind sie prall mit Luft gefüllt, glänzen und leuchten verzaubert im Licht. Sie vermitteln das Bild von erfülltem Leben. Aus Erfahrung wissen wir, dass ein winziger Nadelstich oder eine Berührung dieses aufgeblasene Wunderwerk zum Platzen bringen kann. Dann ist die Luft weg – ein paar Plastikfetzen bleiben übrig. Im besseren Fall entweicht ihre Luft langsam, lässt die dünne Plastikhaut schrumpfen und Falten bilden. Der Ballon wird dadurch immer kleiner, seine Farben matter, er unansehnlicher.

Parallelen zum menschlichen Leben werden offensichtlich. Straffe Haut, glänzendes Aussehen sind auch bei uns ein Thema. Früher oder später durchziehen Falten die individuelle Schönheit und das sichtliche Nachlassen der Körperkräfte lässt das Alter spüren. Nach und nach bleibt die Luft weg, die Atemreserven für große Leistungen schwinden. Langsamtreten ist angesagt, Haushalten mit den verbleibenden Kräften. Nicht nur im Alter. Unsere Leistungsgesellschaft fordert von uns oft derart viel, dass wir uns bis zur Erschöpfung verausgaben.

Dann kann es uns wie den Ballonen gehen und wir machen die Erfahrung, dass unser Leben oft an einem seidenen Faden hängt. So bringen die vielfarbigen Luftballone auf ungewöhnliche Weise unsere zerbrechlichen und vergänglichen Lebensbedingungen ins Blickfeld. Im Verlauf der Fastenzeit zeigen sie verkürzt den Lebenslauf des erfüllten Lebens, dem zu Beginn noch große Sprünge möglich sind, dann jedoch immer mehr die Luft ausgeht. Die Installation macht klar, dass dies ein ganz individueller Prozess ist. Und sie betont durch ihre Platzierung im Chorbereich, dass Schrumpfen und Kleinwerden nicht nur Verlust bedeutet, sondern auch Gewinn. Denn nun entstehen Durchsichten auf das Dahinterliegende, das vorher Verborgene, den Hintergrund.

Buchstäbliche Auflösung

Unzählbar viele Buchstaben türmten sich im November 2007 in der evangelisch-reformierten Kirche in Zürich-Witikon vor dem Besucher auf einer großen schwarzen Metallplatte auf. Die Buchstaben waren als Suppeneinlagen allen bekannt, vom Aussehen her sogar vertraut.

Aber das Auftauchen der Suppenbuchstaben in der Kirche war doch verwirrend. Wieso Suppenbuchstaben? Warum diese Anhäufung? Lose liegen die einzelnen Buchstaben unter-, über- und nebeneinander. Der Zufall hat kein Wort ergeben. Ohne menschliches Zutun haben diese Buchstaben ebenso wenig eine geistige Bedeutung wie die Buchstaben in einer Suppe.

Da die Suppenbuchstaben in einer Kirche – und erst recht einer Kirche der Reformation – angehäuft wurden, drängt sich die Vermutung auf, dass sie etwas mit DEM Wort zu tun haben: dem Wort Gottes. Tatsächlich wurden alle Buchstaben in der neuen Zürcher Bibel gezählt und durch die entsprechende Anzahl eines jeden Buchstabens als Suppenbuchstaben auf der Metallplatte, auf der jedes Jahr das Osterfeuer brennt, sichtbar gemacht. Am meisten kommen die Buchstaben E und G vor (571.347 x), am seltensten das X (144 x).

3.402.248 Buchstaben sind eine beeindruckende Anzahl. Doch das kann nicht alles sein. Ohne den ordnenden und sinngebenden Rahmen der biblischen Bücher wären sie bedeutungslos. Es muss also einen weiteren Grund geben, dass der Künstler die Aktion in einer Kirche durchgeführt hat. Noch haben wir nicht hinterfragt, warum der Künstler Suppenbuchstaben verwendet hat. Um die Anzahl zu visualisieren, hätte er die Buchstaben der Bibel auch ausstanzen oder in einem anderen Material sichtbar machen können.

Suppenbuchstaben sind zum Essen vorgesehen. Sie wollen verzehrt werden. Und darum ging es auch Hans Thomann. Er wollte die Gemeinde darauf aufmerksam machen, dass die Texte der Bibel nicht nur gelesen, sondern verinnerlicht, angeeignet werden, immer mehr wesentlicher Bestandteil von uns werden. Interessanterweise entspricht das Gewicht der 3,4 Millionen (Suppen)Buchstaben der Zürcher Bibel mit 74,875 kg ungefähr demjenigen eines „durchschnittlichen“ Menschen. Wie DAS Wort in Jesus Christus Mensch geworden ist, soll auch Gottes Wort in der Heiligen Schrift in uns Gestalt annehmen, uns immer mehr zu seinen Menschen gestalten.

Der Anspruch geht damit weit über den Brauch der sogenannten Fresszettel hinaus, bei dem kleine Stücke aus den Seiten der Bibel herausgerissen und gegessen wurden, um die Genesung der Patienten zu fördern. Im Rahmen des Martinimahls und dreier Suppentage im Januar wurde die Gemeinde eingeladen, sich die Bibel einzuverleiben.

Ein schönes Symbol, das viele Parallelen zur Bibelmeditation aufweist. Die Buchstaben müssen eingeweicht, essbar gemacht werden, so wie die Bibeltexte gelesen werden und ihnen ein Sinn abgerungen wird. Oft ist dabei ein wiederholtes Lesen notwendig, ähnlich dem (Wieder)Kauen im Geiste, dem Hin- und Herbewegen, um seine Bedeutung für mich zu verstehen. Dabei werden die Worte und einzelnen Buchstaben aufgelöst und erhalten – ihrem Ziel zugeführt – in Leib und Seele eine ganz neue, individuelle Bedeutung, die durchaus stärkend und heilsam sein soll.

Leidenschaftliche Bewegung

Ein geheimnisvolles Bild! Dunkelrote Bereiche überwiegen und würden das Bild recht düster machen, wären da nicht helle Bereiche, die hier und dort wie glühende Kohle aus dem Untergrund aufleuchten, und die feinen weißen Striche, die Oberfläche und Bewegung vermitteln.

Aufgrund dieser haarartigen Struktur lässt der Filmausschnitt (ganzes Video) trotz seiner farblichen Verfremdung an ein Kornfeld denken, das vom Wind hin und her bewegt wird. Selbst aus dem festgehaltenen Eindruck ist die unaufhörliche Bewegung noch herauszuspüren, die im Video das Bildformat leben lässt. So abstrakt der Bildausschnitt aus einem größeren Ganzen des Videos und auch des Kornfeldes wirkt, er behält die Charakteristika des Gesamten und vermag zumindest andeutungsweise von ihm zu erzählen.

In eine mysteriöse und verhüllende Dunkelheit gekleidet, bringt das vom Wind bewegte Kornfeld etwas zum Ausdruck, was wir üblicherweise nicht so bewusst wahrnehmen. Eine unsichtbare und von der Mächtigkeit her auch unfassbare Kraft trifft auf Millionen von Ähren. Fest in der Erde verwurzelt, wachsen sie mit eigener Kraft dem Himmel entgegen, wo sie auf den Wind treffen, sich von ihm bewegen und biegen lassen.

Könnte das Kornfeld nicht ein Gleichnis für uns Menschen sein, die auf der Erde und von ihr leben? Und der Wind Symbol für die Kraft Gottes, die uns umgibt, umwirbt und bewegen möchte? Bewegung, die nicht äußerlich bleiben, sondern gerade durch das stetige Hin- und Herwogen in uns eingehen und zu einem verinnerlichten Bestandteil von uns werden möchte?

Im Video nimmt das wie aus der Tiefe aufleuchtende rote Licht noch stärker als im Bild an der Bewegung der Ährenspitzen teil. Da sind es Wogen von feurigem Licht, die das Bild-Feld in alle Richtungen durchziehen, die aus dem Nichts in unfassbarer Intensität aufleuchten, um sich nach einem flüchtigen Augenblick gleich wieder aufzulösen.

Ein faszinierendes Schauspiel unbeschreiblicher Schönheit, das an die überwältigende Kraft der Liebe denken lässt, an Leidenschaft und Begeisterung, die mehr oder weniger intensiv unser Leben durchziehen und es zum Glühen bringen. Wie im Leben möchte man die beglückenden Erfahrungen festhalten, in ihnen verweilen, und vermag es doch nicht.

Dem Geduldigen wird allerdings die Gewissheit und die Freude geschenkt, dass solche unglaublich dichten Lebensphasen wiederkehren – unverhofft, zärtlich bewegend, überwältigend, beglückend – und durch die Erfahrung wie durch die Erwartung wesentlich dazu beitragen, dunkle oder haltlose, schwierige, leere Zeiten auszuhalten.

Österliche Verwandlung

Leicht und scheinbar ungebunden schwebt diese Installation in der Ecke eines Sakralraumes. In einem spannungsvollen Bogen bildet ein feiner Ast die tragende Horizontale für ein an ihm hängendes Objekt voller Symbolkraft, dessen Material aus der Ferne schwer zu bestimmen ist.

Oben legt es sich in ganzer Breite über den Ast, während es in der Mitte unsichtbar zusammengehalten wird. Dadurch verläuft der „Stoff“ v-förmig nach unten und bildet seitliche Falten, die letztlich nebeneinander zu hängen kommen. Dieser zu einem Korpus gefaltete „Stoff“ ist über und über mit Erde und Asche bedeckt, hier und dort farbige Spuren einer früheren Bemalung freigebend. > Detailbild

Das Trägermaterial dieses Objektes, es ist farbiges Zeitungspapier, wurde vielfach bearbeitet, um ihm die jetzige Gestalt und Geschichte zu geben, aus der Schönheit und Veränderung sprechen, Festigkeit und Vergänglichkeit. Nun hängt es als erstarrte Hülle einer Verwandlung erdenschwer im Raum, als Relikt einstigen Lebens, das es umgeben und gekennzeichnet hat. > Detailbild

Material, Form, Bearbeitung und Installation dieses fragilen Papierobjektes lassen deshalb ganz unterschiedliche Ansichten zu: Es kann in ihm einfach eine interessante ungegenständliche Plastik gesehen werden, es kann aber auch als Zeichen für den Menschen ganz allgemein gedeutet werden. Durch die ärmliche Erscheinung drängt sich in der unmittelbaren Nähe zum Altar aber der Bezug zur Kreuzigung Jesu auf. Gleich einem vom Leben gezeichneten Gewand verweist es auf den, der einst unter uns vieles erfahren und erlitten hat, nun aber zu seinem Vater im Himmel auferstanden ist.

So sehr das mit Erde gestaltete Papier, verstärkt und geerdet durch ein nach unten hängendes Seil, irdisch verhaftet ist, der durch die Faltung entstandene Leerraum vermittelt Transzendenz und lässt eine höhere Macht spüren, die bei solchen Wundern der Verwandlung am Werk sein muss. Das tröstet und erleichtert, das schenkt Hoffnung und Zuversicht – österliches Erleben!

 

Sie wirken vergänglich
Verwaschen
Labil

Doch
Zweig
Leim
Asche
Halten stabil

Sie wirken
Entleert
Verlassen
Befreit

Doch
Josef
Legt mehr
Als Winkel
Und Hobel
Hinein

Sie wirken
Leicht
Himmlisch
Entrückt

Doch
Josef
Hat sie
Erden
Bestückt

Papier
Asche
Staub
Sind des
Vergehens
Erstehens
Gewand

 

(Dr. Engelbert Paulus)

Die Arbeit von Josef Bücheler war bis zum 9. April 2007 im innovativen “Kreuzweg” des ökumenischen Ausstellungsprojektes VESTIGIA CRUCIS / Kreuzspuren – Gegenwartskunst in 14 kath. und evang. Kirchen im Landkreis Tuttlingen zu sehen. (Flyer zur Ausstellung als pdf) Der mit seinen Bildern, Texten und Gedichten einmalige Katalog (48 Seiten, ISBN 3-932764-16-1, 8 Euro) kann hier bestellt werden: projektgruppe@kreuzkirchenkunst.de.

Zuwendung

Ein Mann, der Uniform nach ein Soldat, neigt sich über einen am Boden liegenden und von einer Wolldecke bedeckten Menschen. Sein Gesicht liegt im Schatten. Durch seine dunkle Hautfarbe ist er als Afrikaner identifizierbar, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich um ein Kind oder einen Erwachsenen handelt. Der Soldat umfasst mit beiden Händen den Kopf des Gegenübers, um ihn zu stützen, zu schützen und auch zu wärmen. Der wenige Hintergrund lässt Sandboden erkennen: Strand oder Wüste? Ist der Mensch gestrandet oder heimatlos? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es sich um einen Flüchtling handelt, der für ein besseres Leben alles aufs Spiel gesetzt hatte und nun erschöpft darniederliegt. Am Ende seiner Kräfte wird er von einem Soldaten umsorgt, der abgeordert war, sich der illegalen Einwanderer aus Afrika zu wehren. Zum Kampf mit Waffen ausgebildet, legt er hier seine Herzenswärme in die Waagschale. Er hat Landesgrenzen zu verteidigen und Menschen zurückzuweisen, doch er überschreitet jegliches Anderssein und macht sich diesem Nächsten nahe. Er könnte töten, doch er setzt alles daran, das Leben dieses Menschen zu retten.

Das auf Glas reproduzierte Pressefoto öffnet dem Betrachter – wie auf den anderen 14 Stationen dieses Kreuzwegs – die Augen und schärft seinen Blick für das Leid und den Schrecken, wie sie uns täglich durch die Medien ins Haus gebracht werden: Hier das Flüchtlingsdrama an der Meerenge von Gibraltar. Die Künstler haben die Fotos mit einem diagonalen Strichraster versehen, der die Bilder geringfügig verfremdet und den Betrachter veranlasst, zum einen Abstand zu nehmen, zum anderen genauer hinzuschauen, um das ursprünglich Dargestellte zu sehen.

Alle Kreuzwegstationen sind zudem von einem breiten roten Glasstreifen aus “Antikglas” gezeichnet, der sich in unterschiedlichen Positionen transparent über die Bilder legt. Er verbindet das gegenwärtige Leiden mit dem Leiden Jesu, denn er bringt den vertikalen Kreuzbalken ins Blickfeld, die Farbe des vergossenen Blutes in die ansonsten farblosen Darstellungen. Gleichzeitig künden sie durch ihre Farbe Gottes liebende Gegenwart an, die stets größer ist als die jeweilige Situation. Transparent über dem Foto angebracht, vermitteln sie sein tröstendes Dasein in unseren schwersten Stunden, sein Mitgehen und Mitleiden in allen menschlichen Abgründen.

Die Farbstreifen können aber auch Einladung an uns sein, wie der Soldat uns mit unserer Liebe in die Nähe der Notleidenden zu bringen, durch unsere Zuwendung uns über sie zu beugen, ihnen durch unsere Anteilnahme beizustehen und ihr Leid zu teilen, sie dadurch zu entlasten. Wir alle sind aufgerufen, für das Leben zu kämpfen, das eigene und das unserer Schwestern und Brüder. Damit allen Freiraum, freier Raum, in dem das Leben befreit aufatmen kann, geschenkt wird. Die jedes Bild umgebende Leerfläche könnte Ausdruck dieses Grundrechts sein, das ihre Sehnsucht erfüllt und uns Pflicht ist, ihn zum Wohl aller Menschen auszufüllen.

Vom ganzen Kreuzweg ist ein kostengünstiges Büchlein mit 64 Seiten erschienen, in dem alle Bilder erklärt werden: Atelier Arnold + Eichler, Kreuzweg, Paperback, 64 Seiten im Format 12 x 14 cm, beidseitig ausklappbarer Umschlag mit Innendruck, 19 Farbabbildungen, Pagma-Verlag 2005, Euro 5,- / sFr 7,50, ISBN 978-3-9810758-0-9,
www.pagma-verlag.de

Erwartung

Fast unendlich viele Tonschalen stehen vor uns auf dem Boden. Schalen, die meist als Einzelstücke in der Küche und auf dem Esszimmertisch verwendet oder in einer Vitrine präsentiert werden, wurden nicht einzeln, sondern in einer auf einen Blick unfassbaren Anzahl auf den Boden gestellt. Eine, und noch eine, und noch eine und noch eine … 1111!

Jede Schale hat eine individuelle Gestalt, eine etwas andere Form als diejenige neben ihr. Einzelanfertigungen! Die Hände der Töpferin sind noch an ihnen zu spüren, wie sie aus der Mitte des Tonklumpens heraus den Boden weiten, die Seiten hochziehen und den Rand fertigen – ein Gefäß entstehen lassen. Die Glasur verlieh dann jeder Schale eine eigene Farbe sowie eine matte oder eine glänzende Oberfläche, das Brennen im Ofen Beständigkeit, Widerstandskraft und Undurchlässigkeit.

So stehen sie in schlichter Schönheit nebeneinander. Keine Schale ist mehr, keine ist weniger. Jede besitzt ihre ganz eigene „Größe“. Diese setzt sich nach außen aus dem Abstand, aus dem respektvollen Zwischenraum zu den anderen Schalen, nach innen aus der Offenheit nach oben und der ihr innewohnenden Leere zusammen.

Sie harren alle ihrer Bestimmung, etwas in sich aufzunehmen, zu halten, zu vermitteln oder zu bewahren. Sie alle sind bereit zu empfangen. Sie stehen offen und leer hier, damit sie gefüllt werden, damit ihre Erwartung erfüllt wird. Dadurch kann man den Schalen bis auf den Grund sehen, ihre innerste Mitte betrachten, aus der heraus sie entstanden sind.

Symbolisch können diese Schalen für uns Menschen stehen. Wunderbar sind wir als einander ähnliche und doch individuelle Geschöpfe geschaffen worden und besitzen eine schwer definierbare und dadurch geheimnisvolle Offenheit für alles, was uns erfüllen könnte. Wir haben die Fähigkeit, unendlich viele Erfahrungen und viel Wissen in uns aufzunehmen und in unseren Wohnungen und Ländern unendlich viele materielle „Kostbarkeiten“ zu sammeln. Wir ziehen manchmal so viel an uns, dass vor lauter Materialien und Aktivitäten kaum mehr Raum und Zeit für etwas Neues übrig bleibt.

Insofern stellen die Schalen so etwas wie ein Urbild von uns dar, ein Ideal, das wir in uns spüren und allein doch nicht erreichen können. Sie bringen indirekt eine Sehnsucht zum Ausdruck, dass jemand zu uns kommt, der uns von der selbstverursachten Überfülle zu entlasten und zu befreien vermag, damit bei uns wie bei diesen Schalen unsere Mitte wieder sichtbar wird: Die Handspuren unseres Schöpfers, den Fingerabdruck Gottes, der uns eine einzigartige Schönheit und Würde ins Leben gegeben hat.

Dass diese Schönheit und Würde äußerst anfällig sind, führen uns die auf den Boden des Alltags gestellten Tongefäße vor Augen. Es braucht nicht viel, vielleicht nur einen gedankenlosen Fußtritt, um sie zu zerschlagen. So lehren uns die Schalen auch Achtsamkeit und Sorgfalt, damit wir mit den Mitmenschen um uns herum noch achtsamer und sorgfältiger umgehen als mit einzigartigen Kunstwerken!

Die 1111 Schalen waren im Herbst 2016 / Januar 2007 in der Rotunde der Pinakothek der Moderne in München ausgestellt. Dazu war im Verlag Hatje Cantz ein bildstarker schöner Katalog erschienen: Young-Jae Lee, 1111 Schalen. ISBN 3-7757-1852-4