Strecken zum Licht

Ein alltäglicher Moment begegnet uns auf diesem Bild. Ein Mann streckt sich mit erhobenen Armen ganz weit nach hinten. Gerade scheint er die maximale Dehnung erreicht zu haben und in dieser Stellung zu verharren. Aus den geschlossenen Augen und dem nach hinten geneigten Kopf darf geschlossen werden, dass der Mann dieses Strecken mit jeder Faser seines Körpers genießt.

In Bezug auf den Raum oder die Zeit lässt der Bildausschnitt keine Aussage zu, wo sich dieser Mensch oder in welcher Tages- oder Jahreszeit er sich befindet. Mit einem Unterhemd bekleidet ist er einfach da, in der Bewegung seinen Körper erlebend und im Wechsel von Spannung und Entspannung ihm nachspürend. Gleichzeitig scheint er sich einem für uns unsichtbaren Licht zu öffnen, das von links her helle Stellen auf seiner gewölbten Brust und seinem Gesicht hinterlässt.

Auf der anderen Seite lässt sich hinter ihm ein dunkler Schatten an der Wand ausmachen, ein Schatten, bei dem nach einer gewissen Zeit die Form eines Kreuzes sichtbar wird. In diesem Zusammenspiel von Vorder- und Hintergrund scheint sich der Mann an das Kreuz zu lehnen und aus der Dunkelheit dieses Kreuzes heraus das Licht in sich aufzunehmen. Ja, wie er mit ausgebreiteten Armen vor dem Schatten eines Kreuzes steht, weckt er Assoziationen an den Gekreuzigten, aber auch an den im Morgengrauen Auferstandenen und sich nach dem Licht Ausstreckenden.

So lässt das Bild eine ganze Reihe von Ansichten und Interpretationen zu. Viele auf den ersten Blick unbedeutende Details lassen eine Motivtiefe entdecken, die weit über einen Mann beim Frühturnen oder bei der Morgengymnastik hinausgeht. In seinem Strecken und Dehnen ist genauso die Spannung des sich vom Schlaf erhebenden Körpers zu spüren wie jene des neuen Tages, dem er sich entgegenstreckt und dessen Licht und Frische er tief in sich einzuatmen scheint. In beiden ist etwas von der Auferstehung spürbar, die wir im Glauben am Ende unserer Tage erwarten. Insofern ist dieses frühmorgendliche Strecken Gebet mit Leib und Seele, körperlicher Ausdruck einer Geisteshaltung, die sich ganz auf das Licht ausrichtet. Es ist ein Einüben auf das letzte große Aufstehen und Strecken, das Auferstehen zum ewigen Leben.

Das weiße Hemd

Durch den Besuch der choreographierten Version der Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg inspiriert hat Andreas Felger dieses Bild gemalt. So hat das erste der „Ballette der weißen Hemden“, wie John Neumeier seine Inszenierungen der Matthäus-Passion (1980), des Magnificats (1987), des Mozart-Requiems (1991), des Messias (1999) und des Weihnachtsoratoriums (2007) gerne bezeichnet, eindrückliche Spuren im Werk eines anderen Künstlers hinterlassen.

Nur ein Gegenstand ist auf der roten Bildfläche dargestellt: ein stilisiertes, weißes Hemd. Der Halsausschnitt ist mit einem halbrunden Strich angedeutet, darunter zwei Knöpfe zum Schließen der Öffnung. Es erinnert an ein einfaches Gewand und gleichzeitig an ein Kreuz.

Erhöht, ja erhaben thront es in der roten Fläche, ganz wenig nach rechts aus der Mitte gerückt. Mit diesem einfachen, aber symbolhaften Bildaufbau lässt Andreas Felger ganz verschiedene Sichtweisen zu. Die weite rote Fläche und das zentrale Kreuzmotiv lassen beim ersten Blick vielleicht an eine Schweizer Fahne denken. Doch dann macht das einsame weiße Hemd im roten Umfeld nachdenklich. Unschuld und Blut kommen zur Sprache. Fragen gehen durch den Kopf. Wen es wohl getroffen hat? Was mag wohl der Träger des Hemdes erlebt haben, dass es blutig rot befleckt ist? Befleckt mit der gleichen roten Farbe, welche auch sein Umfeld aufwühlt? Oder bildet die rote Fläche vielmehr einen weiten Mantel, der seine Einsamkeit kleidet und seine Erniedrigung königlich erhöht?

Wir wissen es nicht. Jeder ist aufgefordert, seinen Zugang zum Dargestellten zu finden. Aus dem leuchtenden Rot spricht die von Blut gezeichnete menschliche Leidenschaft gegen den Einzelnen genauso wie die von der Liebe bewegte göttliche Zuwendung für den Einzelnen. Gerade in der angedeuteten Situation der Anklage, in der im Kreuz bereits das Schicksal des Angeklagten aufleuchtet, ist auch im Rot die beruhigende Gegenwart Gottes zu spüren.

So wird Er, der Unschuldige, mit seinem Tod alle Schuld der Menschen, auf welche Weise sie auch geschehen sein mag, sühnen. Das weiße Hemd bringt zum Ausdruck, dass der Mensch gewordene Gottessohn gerade wegen seiner Reinheit die Blutschuld der ganzen Welt zu tragen vermag. Denn das Gewicht der roten Fläche scheint dem zarten Hemd nichts anhaben zu können. Schwebt es nicht gleichsam über dem roten Feld? Sieht es nicht so aus, als sei in die Komposition auch die Auferstehung eingeschrieben, die Hoffnung und der Glaube, dass Er alle Lebenden, Verletzten und Blutenden zu sich zieht, um sie zu erlösen?

Blick in die Weite

Geometrisch abstrakt ist dieses Bild aufgebaut und so würde es auch wirken, wenn der Pinselstrich nicht sichtbar wäre und feine Unregelmäßigkeiten aufweisen würde. Anders als die deckende Flächenfüllung eines Piet Mondrian hat Maria Maier mit transparenten Farben gearbeitet. Dadurch sind Schichten entstanden, haben sich Durchsichten ergeben, Raumtiefe. Seit Jahren hält sie so tagebuchartig Stimmungen und Eindrücke mit einfachen Farblegungen fest. Einsichten und Empfindungen erhalten dadurch eine neue Fassung, einen neuen Ausdruck.

Was die Künstlerin bei diesem Bild wohl bewegt haben mag? Das Aquarell füllt sich von außen nach innen mit Farbe. Nur im unteren Drittel ist ein Rechteck frei geblieben. In seiner weißen Erscheinung gründet die größte Raumtiefe. Die blauen waagrechten Flächen darunter und darüber geben ihm eine lichte Weite; begrenzt wie vom Wasser des Meeres und einem Stück Himmel. Doch dazwischen … nahezu Unendlichkeit!

Während ganz unten ein schmaler blauer Streifen den Grund der Komposition bildet, nimmt oben ein mit Blau versetztes Violett über ein Drittel der Bildfläche ein. Mystisch mag es das geheimnisvoll über allem Waltende und durch alles Wirkende bezeichnen.

Vertikale Farbbahnen überlagern im rechten Winkel und goldenen Schnitt die horizontalen Farbflächen der ersten Farbschicht. Dunkelgrau wäßerig links, ockerfarben golden rechts, verdecken sie wie ein halb zurückgezogener Vorhang das Dahinterliegende. Gleichzeitig geben sie den Blick frei – und verstärken ihn noch – auf die asymmetrisch leicht verschobene Mitte mit ihren klaren lichtdurchdrungenen Farben.

Aus den farblich getrübten und verfremdeten, seitlichen Überlagerungen wird das Auge so Stufe um Stufe in die Bildtiefe hineingeführt. Der Blick durch die Mitte läßt harmonische Schönheit wahrnehmen, Reinheit. Eine mystische Schau. Nicht hoch angelegt, sondern unten, auf der imaginären Augenhöhe von kleinen Leuten. Dieser gewaltige Ausblick soll allen möglich sein. Alle sollen aus ihm Kraft schöpfen können.

Der verheißene Nachfolger

Ein gewaltiges, in mehreren Schichten aufgetragenes Geschehen scheint das Bildformat sprengen zu wollen: Im Vordergrund ein feuriges Wolkenband, das diagonal die Bildfläche durchzieht. Dahinter eine weiße Kreuzform, die mächtig die ganze Höhe und Breite des Papiers einnimmt. Noch hebt sie sich mit harten Kanten vom blauen Hintergrund ab oder wird von diesem rechts unten teilweise umfangen. Noch steht sie in ihrer gedrungenen Form, die auch einen stehenden Menschen in ihr sehen lässt, da.

Doch das Kreuz hat seine Macht verloren. Bereits hat Licht seine Oberfläche erfasst und die schwarze Dunkelheit an den Rand gedrängt. Gleichzeitig werden durch das Feuerband die schwarzen Überreste in seiner Mitte verglüht, die Kreuzgestalt in die zweite Reihe geschoben und in einen linken unteren und einen rechten oberen Teil aufgelöst.

So sind von diesem Kreuz nur noch Fragmente übrig, die allerdings durch unser Auge als Ganzes wahrnehmbar sind. Doch die Feuerbahn durchkreuzt es und lässt uns die neue Wirklichkeit spüren: die göttliche Kraft, die bereits alles Dunkle und Schwere vom Kreuz genommen und es auferstehungsleicht gemacht hat. Erich Krian schreibt dazu: „Das lässt uns das Kreuz als erneuerbare Freude begreifen. Das anfänglich Unmögliche bricht auf. Das anfänglich Unglaubliche schafft stillen Glauben.“

Das Feuerband lässt uns die Kraft des Heiligen Geistes wahrnehmen, welche die Welt durchweht und verändert. Sie erscheint in einer zeitlichen Reihenfolge zum Kreuz, ja in der Nachfolge, wie Jesus sie in seinen Abschiedsworten angesprochen hat (vgl. Joh 14,16-27).

Und das Feuerband lässt erahnen, wie kraftvoll Gott das im Zeichen des Kreuzes wie gescheitert aussehende Wirken seines Sohnes fortsetzt. Blockierte Herzen werden zu neuem Leben erweckt und fassen Zuversicht, blinde Augen sehen alles in neuem Licht, stumme Zungen bewegen sich und die ganze Welt, weil sie mit begeisterten Worten das Unerhörte verkünden.

Licht zum Leben

Eine Lichtexplosion dominiert das Bild. Wie bei einem Feuerwerk formen die fallenden Funken einen Schweif bis zur Erde. In der Mitte dieses Sterns, der an die Erscheinung in Bethlehem zu erinnern vermag, die Andeutung eines Menschen, die wie damals der Stern die Geburt eines neuen Menschen und eines neuen Zeitalters ankündigt.

Die aufstrebende Lichtgestalt überdeckt rote Farbspuren auf dem Malgrund. Das lässt spüren: es gab ein schmerzhaftes und blutiges Davor. Ein Davor, ohne welches Auferstehung nicht möglich gewesen wäre.

Erstaunlich, dass der Hintergrund nicht himmelblau gemalt, sondern im Holz des Untergrundes belassen wurde. Erstaunlich auch die weiße Silhouette, die eine Stadt und durch den einsamen Wanderer gleichzeitig eine Wüsten- oder Hügellandschaft anklingen lässt.

Auf der anderen Seite der grünende Baum, Zeichen nach dem Winter aufblühenden neuen Lebens. Aber sind es nicht zwei Stämme? Ein heller und ein dunkler, die sich kreuzend zum Andreaskreuz formen?

Das Ereignis lässt sich mit den wenigen Angaben nicht in Raum und Zeit lokalisieren. Dennoch spannt es von links nach rechts einen Bogen von den Anfängen der Menschheit bis in unsere Zeit. Die zwei sich nahe stehenden Bäume vermögen an das biblische Paradies zu erinnern, in deren Mitte die Bäume des Lebens und der Erkenntnis von Gut und Böse standen (Gen 2,9). Damit weisen sie auch auf Adam und Eva, auf den Sündenfall hin. In der Mitte ist dann als kosmisches Ereignis, und damit für alle sichtbar und gültig, die Auferstehung Jesu dargestellt, die gleichzeitig Himmelfahrt, Erhöhung und Geistausgießung ist.

In der rechten, freieren Bildhälfte kommt eher unsere Zeit zur Sprache. Mit der einsamen Gestalt des Herkules am Scheideweg ist eine Figur aus der griechischen Mythologie dargestellt, die letztlich für jeden von uns steht. Denn er wird vor die Wahl gestellt, den verlockenden, bequemen, aber vergänglichen Weg der Lust oder aber den beschwerlichen, mühevollen Weg der Tugend zu gehen. Herkules wählt Letzteres. In der Leere der weißen Fläche ist im erhobenen Arm seine Entschlossenheit zu spüren, den steinigen, mühsamen Weg in die Berge einzuschlagen, der ihn zur Unsterblichkeit führt.

Was haben die drei Bildelemente nun miteinander zu tun? Fassen sie nicht in einem grandiosen Überblick entscheidende Eckpunkte menschlicher Erkenntnis in dieser Welt zusammen? Der grünende Baum erzählt, wie sich die ersten Menschen von seinem Urbild im Paradies das Recht auf Unterscheidung und damit auf Entscheidung holten. Herkules steht als Prototyp für alle Menschen, die von diesem Recht auf Entscheidung vielfach Gebrauch machen müssen. Und dominierend in allem Leben das Sinnbild der Auferstehung, die den in eine andere, dauerhafte Wirklichkeit führt, der sich glaubend für diesen Weg entscheidet.

Erfahrungsräume des Glaubens

Ungewohnt frei hängt die Leinwand im Raum. Kein Rahmen und kein Glas trennt den Betrachter vom Kunstwerk. Vielmehr trennt die Leinwand selbst den Raum wie ein Flächenvorhang. Damit signalisiert die Arbeit einen Zugang, bei dem der Betrachter entweder betrachtend davor bleiben oder sich in den Raum dahinter begeben kann. Es gibt kein Dazwischen.

Das auf die Leinwand gemalte Motiv zeigt keine festen, eindeutigen, sondern geschichtete, durchscheinende, andeutende Flächen. Graublauschwarz dominiert das Bildformat in ganzer Höhe und halber Breite eine Kreuzform. Dem rechten Querbalken nach ist die Senkrechte aber nicht nur zur Hälfte, sondern in ganzer Breite abgebildet. So hängt das Kreuz frei schwebend, dem Luftstrom ausgesetzt am Kircheneingang und tritt mannshoch dem Betrachter gegenüber, den rechten Arm wie zum Empfang ausgebreitet. Das ihn teilweise überlagernde rote Feld kompensiert durch seine formale Ähnlichkeit den fehlenden Kreuzesarm und verstärkt in seiner nach außen nachlassenden Farbintensität die vom Kreuz ausgehende Ausstrahlung, die sicher auch als Herzenswärme gedeutet werden darf. Wer diesem Kreuz begegnet, darf trotz des eingeschriebenen Leids auf Zuneigung und Liebe hoffen.

Und wer sich auf die Auseinandersetzung mit diesem Kreuz einlässt, den erwarten – wie es die an Menschenkörper und -köpfe erinnernden Schattierungen im obersten Viertel und in der unteren Hälfte andeuten – ganz unterschiedliche Begegnungs- und Erfahrungsräume.

Unten links gibt warmes, hinter dem Kreuz hervorleuchtendes Licht den Schatten einer stehenden Person frei, welche wartet, nachdenkt, aber nicht den Schritt auf das Kreuz zu und in es hinein zu wagen scheint. Ist es, weil sie die durch die Spachteltechnik erzeugten Spuren, die undeutlichen Schatten menschlicher und tierischer Köpfe nicht zu deuten vermag? Oder ist es ihr zu dunkel oder chaotisch, einfach zu unklar, wohinein sie da genommen wird, wenn sie gehen würde?

Wie als Gegenüber zum Zaudernden ist im oberen Bildbereich der Kopf einer Person zu sehen, die gerade dabei ist, sich in den Kreuzraum hineinzubegeben. Die offenen Augen und der Farbwechsel suggerieren, dass sie sich auf eine andere Wirklichkeit einlässt. Die blaue Farbe und der Kopf deuten an, dass diese Wirklichkeit mit geistigen und himmlischen Werten verbunden ist und sich im Glauben erschließt. Das lässt die dargestellten Augen Zuversicht ausstrahlen.

So vermag das Kreuztuch von Gottes und des Menschen Kreuzweg zu erzählen. Von Gottes Leid, dass er die Menschen bedingungslos liebt, sie diese Liebe aber nicht vorbehaltlos annehmen. Von der menschlichen Zerrissenheit erzählen die Eindrücke auf diesem modernen „Schweißtuch der Veronika“, weil unser Verstand nach Sicherheit und Gewissheit strebt, sich die ganze Wirklichkeit und nachhaltiges, erfüllendes Glück aber nur dem erschließen, der im Glauben und Vertrauen in einen Anderen lebt. Denn nicht allein das, was mit den Augen gesehen, mit den Händen gefühlt und mit dem Verstand begriffen wird, zählt, sondern das mit dem Herzen Gespürte und damit im und durch das Leben und Handeln Gott Geantwortete – und damit auch Verantwortete.

Baustelle des Lebens

Viele fragmentarische Teile bilden dieses Triptychon. Das Auge weiß nicht so recht, wo es mit dem Schauen anfangen soll, um die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzuführen. Der gemeinsame Hintergrund ist mit den Holzstrukturen lebendig, aber unruhig, die gerüstartigen Konstruktionen auf den Seitenteilen wunderschön in warmem Licht liegend, aber diffus, mit viel Angefangenem, Ungeordnetem … Lediglich in der Zusammenschau der beiden Außenteile ist eine klare Zuordnung zur Mitte zu beobachten.

Dort scheint auf den ersten Blick die größte Klarheit zu herrschen. Im Zentrum steht eine weiße Leiter, die an ein Kreuz gelehnt ist. Ein Kreuz, das sich farblich kaum vom Hintergrund abhebt. Ein Kreuz, das mehr durch die Vertikale der Leiter und eine lange weiße, die Kreuzarme untergreifende Horizontale in Erscheinung tritt. Dieser die drei Bildteile verbindende Balken macht einen sammelnden, wohltuend umfassenden Eindruck. Das Kreuz steht auf keinem festen Boden, in keinem wirklichen Raum, sondern schwebt – nur von der durchgebogenen weißen Waagrechten gehalten – in einem undefinierbaren Raum. Soll es Haltlosigkeit vermitteln oder mehr auferstehungsgleiche Leichtigkeit?

Die hellen Grüntöne und die warmen roten Farben im Kreuz lassen zu Letzterem tendieren. Auch die Leiter lässt vermuten, dass die Kreuzabnahme des Leichnams Jesu schon stattgefunden hat. So können die Frühlingsfarben, das Herz und die fünf krönenden x-Zeichen als „Erinnerungen“ oder „Abdrücke“ dessen gesehen werden, der ein Herz für die Menschen hatte und mit einer Dornenkrone verspottet am Kreuz starb. Sie künden von der Auferstehung dessen, der hier vor kurzem den Boden unter den Füßen verloren hat.

Das Bild lässt viele Lesemöglichkeiten zu. Traditionelle Kompositionen von Kreuzigungsdarstellungen aufnehmend, gehen die drei Bildteile doch ganz neue Wege. So sehr die Holzteile in den Seitenflügeln an die Kreuze der beiden Schächer erinnern, zu finden sind sie nicht wirklich, obwohl sich in den schwer bestimmbaren Teilen der Bilder auch Gestalten oder Teile davon entdecken ließen.

Die Holzkonstruktionen bilden vielmehr das Gerüst für den schmalen waagrechten weißen Balken, auf dem das Kreuz nun zu ruhen scheint, nachdem unter ihm der Boden weggebrochen ist. Will damit angedeutet werden, dass der bisherige Boden nicht mehr tragbar war und deshalb eine neue Basis für eine unfassbar neue Botschaft nötig war?

Das Leben hat durch Jesu Tod und Auferstehung neue Dimensionen erhalten: es endet nicht mehr mit dem Tod. Gott ist in das Reich der Toten hinabgestiegen und hat sie erlöst (Der unter dem Kreuz liegende Kopf erinnert an Adam – Detailbild). In einem fast versteckten Detail verwebt der Künstler im Mittelbild das einmalige Kreuzereignis mit jedem Leben: der Querbalken des Kreuzes schiebt sich elastisch lebend zwischen die Sprossen der Leiter vor den rechten Holmen. Die Leiter lässt sich als Symbol für menschliches Leben sehen, in das sich das Kreuz wie es der Einzelne erkennt, einschiebt. Mit seiner dunklen, schweren Seite sicherlich, aber auch in seiner befreienden.

Geben und Empfangen

Auf einem geradezu glühenden Quadrat begegnen uns vordergründig zwei einander zugeordnete Zeichen: das untere u-förmig offen, bergend; das obere schwebend, astförmig ausgreifend. Das untere Zeichen streckt sich außen dem oberen entgegen, das obere Zeichen taucht mit drei Ausformungen in den Bereich des unteren ein. Die weiße, stellenweise ins Braun wechselnde Farbe gibt den Zeichen vor dem gelb-rötlichen Hintergrund etwas Körperhaftes, Materielles, Hölzernes. Während im Hintergrund durch die Holzstruktur und die Farbe das Leben pulsiert, sind die beiden Zeichen eher von fahler Vergänglichkeit geprägt.

Was sie wohl darstellen mögen? Das untere Zeichen gleicht einer Schale, einem nach oben offenen Gefäß. Das obere Zeichen hat eine waagrechte Ausrichtung, aus der die drei Ausformungen fingerförmig diagonal nach unten weisen. – Eine stilisierte Hand, die von oben her in die Schüssel greift? Oder deutet die U-Form vielleicht auch zwei offene Hände an?

In der Mitte dieser Begegnung lässt sich ein geradezu unscheinbares drittes Symbol beobachten. Goldfarben und kugelförmig befindet es sich genau in der Mittelachse des Bildes. Majestätisch schwebt die Kugel in und über der U-Form und erweckt den Eindruck von Erhabenheit. Wurde die goldene Kugel von oben in das Gefäß hineingelegt? Oder bieten die unteren Hände dieses kostbare Unendliche dem über ihm an? Auch scheint das obere Zeichen wie mit Zeigefinger und Daumen nach diesem runden Zeichen greifen zu wollen. Der Bildtitel könnte „Geben und Nehmen“ heißen. Doch der Künstler hat sich für „Geben und Empfangen“ entschieden.

Diese Bildbezeichnung ist offener. So schwingt im Geben und Empfangen der Aspekt der Freiheit mit. Da wird keiner zum Verlierer oder zum Gewinner. Da ist eher ein wechselseitiger Austausch zu beobachten, ein ausgeglichenes und stetes Hin und Her von Anbieten und Entgegennehmen. Hier wird eine Grundhaltung thematisiert, die etwas Großes, ja Göttliches beinhaltet. Aus dem Dunkel heraus leuchtet diese Weisheit auf und will sich glühend in unser Herz einbrennen. Diese Ikone göttlichen Handelns vermag uns zu lehren, dass Austausch nach gerechten Grundsätzen zu erfolgen hat. Das lässt sich unendlich lange und immer wieder meditieren – in allen Lebensbezügen.

Allein

Was hier wohl geschehen ist, dass sich der Junge setzen musste und seinen Kopf in den Händen verbirgt? Ist etwas eingestürzt, was als haltbar galt? Ereignete sich ein kriegerischer Angriff, eine Bombenexplosion, die sein Zuhause zerstört hat? Oder hat sich die Erde bewegt, eine Naturkatastrophe stattgefunden? Aus dem Bild ist nicht zu ersehen, ob die Zerstörung vor kurzem geschah oder schon länger zurückliegt. So etwas wie die großen Gräser zwischen den Trümmern könnten auf Letzteres hindeuten. Andererseits könnten die Farbläufe auch einfach auf etwas Zerrinnendes hinweisen – einen Traum vielleicht, eine Lebensvision von einer heilen Familie, ein intaktes Zuhause.

Derzeit scheint es keinen Weg aus dieser Katastrophe zu geben. Wie der Hintergrund es andeutet muss es im Jungen drin Dunkel sein, ein undurchdringliches Dickicht. Die Verzweiflung spricht aus seinem ganz in sich gekehrten Körper. Dadurch mag er auch den breiten Weg hinter sich nicht zu sehen, der, von der Sonne beschienen, zumindest ein Stück weiter führen könnte.

Der auf dem Boden zusammengekauerte Junge bildet einen seltsamen Gegensatz zu seiner Umgebung. In seiner äußerlichen Unversehrtheit erscheint er unwirklich in dem verwüsteten Umfeld. Aber aus seiner Haltung spricht die seelische Verstörtheit und Zerstörung durch das, was hier geschah. Er wehrt es von sich, er will und kann es nicht sehen, zumindest jetzt noch nicht. Keine Angehörigen stehen ihm bei, kein Hab und Gut ist zu sehen. Nur das Leben scheint ihm geblieben. Aber mit dem weiß er momentan nichts anzufangen.

Das Bild ist so anrührend, dass man beinahe das Bildhafte vergisst, um ihm beizustehen, wortlos bei ihm zu sein, damit er nicht so zurückgeworfen ist in die Einsamkeit und in die zerstörte Natur. Er wird viel Zeit brauchen, bis die Zerstörung überwunden, die Wunden verheilt sind, das Leben wieder ein Fundament gefunden hat, auf dem es sich entfalten kann. Er wird viel Zeit und viele Helfer brauchen, bis es auch auf seinem Lebensweg wieder licht wird und sich der Horizont wieder weitet.

Zweifacher Lichtspalt

Es gibt Bilder, die beim Betrachten einfach gut tun. Dieses Aquarell mit seinen lichtvollen Blautönen gehört meines Erachtens dazu. Nicht, weil es viel darstellen würde oder besonders virtuos gemalt wäre, nein, es sind seine Einfachheit, sein Licht und seine Blautöne, die faszinieren.

So sehr die einzelnen Farbquader passgenau ineinandergreifen, sind sie doch voller Leben. In jedem Feld gibt es hellere und dunklere Bereiche, an ihren Begrenzungen leuchtet da und dort ein heller Spalt und lässt Luft (zum Atmen) dazwischen ahnen.

Die Farbabstufungen führen wie über Treppenstufen von außen nach innen zum Licht. Das äußerste Blau bildet als größtes zusammenhängendes Feld ein Gefäß und den tragenden Rahmen. Da fallen vier große, dunkle und, bis auf einen, quadratische Würfel auf, die wie Kontrapunkte den zentralen Lichtspalt flankieren. Zwischen ihnen sind drei mittelblaue und zwei hellblaue Flächen angeordnet. Sie bilden gleichsam eine zweite oder dritte Ebene und lassen das Aquarell durch den Blick in die Tiefe dreidimensional erscheinen.

Es ist das zentrale Licht, das die einzelnen Farbkörper in Ihrer Farbigkeit aufleuchten lässt. Es ist der eine schmale Lichteinlass, der den zentralen Raum so hell macht, dass er als bergender Raum wahrgenommen werden kann, als Raum, der auch eine Öffnung zum Himmel hat. Und es ist dieses von hinten durchstrahlende eine Licht, welches mit Erstaunen die Zwei-, Drei- und Vierzahl der Farbflächen entdecken lässt. Es ist, als würde erst das ungeschaffene Licht unsere geschaffene Welt und ihre Möglichkeiten richtig erkennen lassen.

Der Lichtspalt vermittelt den Eindruck eines größeren, allerdings mehrfach verdeckten Durchgangs. Er kann als  Einladung gesehen werden, in diesen Farbraum einzutreten und darin zu verweilen. Die Farbe Blau verkörpert hier Sympathie und Harmonie, Vertrauen und Freundschaft. Blau steht auch für den Himmel und das Göttliche, das wir dort verorten. So vermag dieser Farbraum, so kerkerhaft und karg er wirken mag, einen Ort der Geborgenheit zu vermitteln. Einen Ort, an dem göttliches und menschliches Vertrauen zusammentreffen und im Hier und Jetzt schon himmlische Zustände schaffen.

Dennoch wird der Farbraum eine Zwischenstufe und der helle Lichtspalt Verheißung bleiben. Denn in uns lebt die Sehnsucht, eines Tages hinter das Geschaffene schauen zu dürfen und IHN, von seinem ewigen Licht erhellt, durchleuchtet und erleuchtet, von Angesicht zu Angesicht zu schauen.

Anbetendes Verweilen vor Gott

Diese Krippe umgibt weder das Licht noch der Glanz und erst recht nicht die Unruhe unseres heutigen Weihnachtsfestes. Aus der Schlichtheit der Darstellung geht vielmehr eine Armut und Ruhe hervor, die betroffen macht, eine Hingabe und Anbetung, die einen als Betrachter veranlasst, es gleich zu tun (vergrößertes Bild) .

Dabei ist kein Neugeborenes zu sehen und die beiden Gestalten haben wenig menschliche Individualität. Wie zwei eckige Klammern ein Wort, so umgeben sie die Krippe in ihrer Mitte, und geben ihr durch die eigene Stärke Schutz und Geborgenheit. Die beiden Großen, die sich klein gemacht haben vor dem Kleinen, lassen viel Spielraum zwischen sich. Dieses Knien und die gebeugte Haltung ihrer Köpfe bringt in hohem Maße Staunen und Zuneigung, Hingabe und Verehrung zum Ausdruck. Während der weiße Hintergrund auf ein ort- und zeitloses Geschehen hinweist, bringt die spontane und lebendige Pinselführung eine gegenwärtige Dimension in das Bild. So dunkel die Gestalten auch sein mögen, sie sind im Verharren vor dem Wunder in ihrer Mitte dennoch voller Leben und innerer Bewegung. Durch die frischen Farbspuren wird das Gefühl vermittelt, dass das auf dem Bild Dargestellte jetzt geschieht. Jetzt, während ich das Bild anschaue. Jetzt sind sie da, vor mir, ganz gegenwärtig.

In der feineren, helleren Gestalt links mag man Maria sehen, auf der anderen Seite, dunkler und maskuliner geprägt, Josef. Wie bereits festgestellt, ist das Kind in ihrer Mitte nicht zu sehen. Vor der hölzernen Futterkrippe, die auf beiden Seiten mit Steinen gefasst ist, fällt allerdings der aus drei feinen Linien gebildete rote Kreis auf, der mit den Köpfen von Maria und Josef korrespondiert, sich in der Farbe jedoch von ihnen unterscheidet. Zusammen ergeben sie ein nach unten weisendes Dreieck, dessen untersten Punkt eben dieser rote Kreis bildet: Die unendliche Liebe Gottes macht sich klein und gibt sich in Menschenhand.

Weihnachten – anbetendes Verweilen vor Gott, der sich in seinem Sohn klein und arm gemacht hat, um uns mit dem Reichtum seiner Liebe zu beschenken.

Aufschrei

Es gibt Kunstwerke, vor denen man einfach stehen bleiben muss. Sei es wegen ihrer Schönheit, ihrer Ausstrahlung oder ihrer Eigenartigkeit. Die vorliegende Arbeit gehört meines Erachtens zu den Letzteren. Ein Kleidungsstück, ein alter Unterrock wurde leicht nach links verschoben mittig auf das Papier gebracht und so ausgebreitet, dass ein dreifacher ovaler Kreis entstanden ist. Während der Stoff in der Mitte relativ flach aufliegt, sind die äußeren beiden Stoffkreise angekraust und durch weiße Bänder gehalten. Dadurch erhält das zentrale Geschehen eine Ausstrahlung.

Ein braunes Band hält die Mitte zusammen und bildet nun eine T-Form mit zwei fast unscheinbaren Öffnungen. Unter dem Stoff sind in der Mitte, dann unter dem inneren weißen Band, nach unten auslaufend und nach oben ein Medaillon bildend kreisförmige Zellen auf das Papier gemalt worden. Was sie wohl zu bedeuten haben? Ob sie in freier Form an die Zellteilung erinnern wollen, an die Entstehung eines neuen Lebewesens und seinen vorübergehenden Wohnsitz unter diesem Rock? Die kleine Öffnung in der Mitte und die Doppelschnur unten links mögen die Vermutung unterstützen, führt die Schnur doch wie eine abgetrennte Nabelschnur von der leicht eingeschobenen Ovalseite weg. Hier werden Mutter und Kind thematisiert, Geburt und Erscheinen in der Welt.

Die Doppelschnur bildet gleichzeitig den unteren Abschluss von drei mit Bleistift weit auseinander geschriebenen Worten: „Don’t swallow Me!“ Zu deutsch: „Verschluck mich nicht!“ Als müssten sie diese Worte dramatisch unterstützen, sind auf die andere Rockseite zwei geradezu unendlich lange Arme gemalt, die hilfesuchende Hände weit nach oben strecken, geradezu in den mit weißen Pinselstrichen angedeuteten Himmel hinein. In ihrer roten Einfärbung äußern sie einen langen und furchtbaren Hilfeschrei. In welcher Verlorenheit und Verdrängung muss sich dieser Mensch befinden, dass er sich an der Mutter vorbei derart nach Freiheit – die weiße Farbe deutet auch Reinheit und Unschuld an – sehnt? Was ist da an Unterdrückung geschehen, dass die Hände und Arme so blutig rot sind?

Der das Bild beherrschende Frauenrock schweigt in majestätischer Dominanz und Reinheit, verdeckt so gut wie möglich, was unter ihm geschehen ist. Aber das Vergangene kann nicht verborgen bleiben. Als reales Geschehen prägt es die Betroffenen und hat Auswirkung auf ihre Umwelt.

„Verschluck mich nicht!“ ist der bittende Protestschrei des Kleinen, die Auflehnung des Machtlosen gegen das vereinnahmende Handeln der Mächtigen. Hier lehnt sich die Künstlerin gegen ihre längst verstorbene Mutter auf, aber das Geschehen kann sich in gleicher Weise wiederholen in allen zwischenmenschlichen Beziehungen, sei es in der Partnerschaft, der Familie, in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft oder der Rechtsprechung. Die Arbeit erinnert letztlich, dass es viel, viel schwerer ist, den Mitmenschen als gleichberechtigtes Wesen zu achten und zu behandeln, als sich auf seine Kosten zu profilieren. Auch wenn dies unbewusst geschieht. Die Arbeit zeigt zudem, dass Gerechtigkeit nicht einfach so geschieht, sondern immer einer Anstrengung bedarf, eines Einsatzes für den Schwächeren, der auch Wiedergutmachung nach geschehenem Unrecht beinhalten muss.

Erholung

Große Einfachheit zeichnet dieses Bild aus. Abstraktion, denn die Farbfelder lassen die Erkennung eines konkreten Gegenstandes nicht zu. Ist es deswegen ein geistiges Bild? Seine Struktur ist uns nicht unbekannt. Nicht nur von Mark Rothko, der als erster in dieser Weise große Arbeiten malte. Im Bild können sich vielfache Erfahrungen aus unserem Leben spiegeln.

Da ist eine markante, waagrechte Trennung zwischen Unten und Oben, wie wir sie auch in der Natur in der Trennung von Erde und Himmel erfahren. Die Horizontale erinnert an flache Landschaften wie große Ebenen, Wüsten oder den Meeresstrand. Ihnen wohnt eine besondere Weite und Ruhe inne. Es sind für Körper und Seele erholsame Orte, weil wir an ihnen Freiheit erfahren und tief durchatmen können. Da ist von der kleingliedrigen und ermüdenden Alltagsstruktur nichts mehr zu spüren.

Die horizontale Linie, sie ist selbst dreigeteilt, lässt auch die Erfahrung des Liegens, des Entspannens und Ausruhens spüren, die wir täglich brauchen. Sie findet ursprünglich auf dem Horizont statt, an der Grenze zwischen Erde und Himmel. Aber im Schlaf geben wir uns ganz der Erdkraft hin, und öffnen uns doch der Unendlichkeit über uns. Im Urlaub suchen wir oft ähnliche Erfahrungen: Orte und Situationen, in denen wir dem Alltag entfliehen, dabei Körper und Seele hängen lassen und gleichzeitig auftanken können.

Die helle Linie spricht weiter eine Dualität an: eine Dies- und Jenseitigkeit, ein Hier und Dort, ein Jetzt und ein Danach. Beide sind voll und ganz gegenwärtig, gehören zusammen. Mal mag der eine Teil größer sein oder mehr Raum im Leben einnehmen, mal der andere. Aber so wie die Horizontale proportional im goldenen Schnitt des Bildes liegt, suchen wir bei der Erholung – egal, wie sie umgesetzt wird – das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Lebensbereichen zu stärken, ihre Harmonie wiederherzustellen.

Wie der obere Bereich mehr Platz im Bild einnimmt, gibt man bei der Erholung dem Ersehnten, dem Wohltuenden mehr Raum und Zeit. Seine goldene Farbe mag andeuten, dass Erholung in jeder Form (Urlaub, Auszeit, Feierabend, Pause) eine heilige Zeit ist. Sie ist kostbar und verlangt einen wertschätzenden Umgang. Ebenso ist das Geheimnis dieser ganz anderen Zeit- und Lebenserfahrung spürbar, das Göttliche in ihr.

Dieser obere, lichte Farbraum, in dessen Zeichnung man auch eine Kreuzform, ein Gesicht, ja göttliches Leben ahnen kann, lässt den unteren, sich vom Hintergrund nur schwach abhebenden roten Bereich, der für uns Menschen und unseren Lebensraum stehen mag, ganz anders wahrnehmen. Geerdet strahlt er eine wohltuende Ruhe aus. Nicht nur in der Vision des ganz anderen, sondern in seiner gegenwärtigen Erfahrung spricht lebendige Stärke aus ihm, Lebenskraft.

Gottes Geist als Beistand

Ein farbstarkes Bild, voller Bewegung und Lebendigkeit, dessen Inhalt sich wesentlich von der Beachtung der Farbgebung her erschließt. Dreiviertel des Bildraums sind von Farbspielen in feurigem Rot mit gelben und weißlichen Einschüben erfüllt. Ein Sturm wirbelt wie bei einer Feuersbrunst Gegenstände hoch in die sich herabstürzenden glühenden Luftmassen. Aber dieses Schauspiel wirkt nicht beängstigend und zerstörerisch, sondern im Gegenteil machtvoll, wie ein gewaltiger Impuls die Menschen erfassend und berührend, die im Blau des unteren Viertels nach vorne streben. Hier unten scheint die Bühne des Geschehens zu sein, hier unten scheint sich eine Veränderung zu vollziehen. Denn ähnlich wie bei einem Prisma teilt sich das Feuerrot, das von oben kommt, in mehrere Farben: leuchtendes Gelb, welches das Blau von unten stellenweise aufhellt oder sich mit ihm zu zartem Grün verbindet, das Rot, das mit dem Blau als kräftiges Violett erscheint. Jede der zwölf Personen erfährt eine Veränderung durch die Zugabe einer neuen Farbe zur bisherigen.

Es ist ein geistiges Schauspiel, bei dem sich Jenseits und Diesseits verbinden, das die Künstlerin überzeugend und respektvoll dargestellt hat. Sie folgt der Erzählung der Apostelgeschichte, dass die elf Apostel, zusammen mit Jesu Mutter von Gottes Geist erfüllt werden, wie er es ihnen versprochen hat. Sie wirken, als würden sie sich nun aufmachen, jeder auf seine Weise, nicht als wollten sie fliehen, eher als würden sie gesandt. Vor allem einer, der im violetten Gewand links neben Maria, ist wie zum Aufbruch gegürtet. Ihn scheint von oben ein besonderer Impuls direkt zu treffen. Petrus?

Aus der Beschäftigung mit dem Bild entstehen Fragen. War das Ereignis, das wir jedes Jahr an Pfingsten feiern, einmalig? Kann es heute noch lebendig wirken? Kann es sich wiederholen? Nur als kosmisches Ereignis oder auf verschiedene Weise? In seinen Abschiedsreden hat Jesus Gottes Geist für die Zukunft versprochen, um das jeweils Andere und Neue zu finden, das sie braucht …
Pfingsten kann demnach nicht nur ein Fest des Erinnerns sein. Es hat seine Aktualität, aber die muss sowohl entdeckt als auch angenommen werden.

 

Weitere Bildmotive von Christel Holl finden Sie und können Sie bestellen auf der Website des Beuroner Kunstverlages.

In der Mitte gegenwärtig

Fasziniert mag das Auge auf der hellen Gestalt in der vertikalen Mitte des Bildes verweilen. Wie eine Erscheinung tritt sie aus dem lichten Gelb hervor, ganz Geist und doch sich materialisierend unseren Blicken zu erkennen gebend. Die Arme kaum erahnbar am Körper angelegt, Oberkörper und Kopf leicht nach vorne geneigt, spricht äußerste Zurückhaltung genauso wie ein Auf-uns-Zukommen aus dieser Menschengestalt.

Ein Heiligenschein bezeichnet die Gestalt als eine mit Gott in enger Verbindung stehende Person. Kommt sie direkt von ihm? Wie aus einer Türöffnung scheint sie aus der rechteckigen Öffnung, die unsere Welt andeuten könnte, auf uns als Betrachter zuzukommen. Auch die beiden Flügel bezeichnen sie als Bote Gottes und als Lichtbringer in die dunklen Momente unserer Welt.

Doch kommt die engelsgleiche Erscheinung wirklich durch die rechteckige Öffnung auf unsere Seite? Die Öffnung könnte auch nur ein Fenster sein, ein Durchblick und Ausblick auf etwas Wunderbares. Der Engel wartet auf uns, will uns ermutigen, zeigt Zukünftiges, zu Erwartendes, weckt damit Sehnsucht nach Wärme, Heil und Geborgenheit. – Alles also nur Illusion, Vertröstung, bestenfalls Vision?

Nein! Die Flügel des Engels sprechen eine andere Sprache. Sie bilden in Form und Farbe ein großes Herz. So groß und warm könnte es Gottes Herz darstellen, denn aus seiner unendlichen Liebe zu uns schickt er uns Boten und Zeichen seiner liebenden Nähe. So wie das Herz für die glühende Liebe des Senders stehen mag, kann es auch als unser Herz gesehen werden, in das der Bote tritt. Es erhält durch die Lichtgestalt eine starke Mitte. Es wird zusammengehalten und zeigt zugleich Offenheit für die geheimnisvolle Präsenz eines Anderen.

Denn die Erscheinung muss kein Engel sein. Wir können auch am oberen Bildrand den Querbalken eines Kreuzes wahrnehmen und die Lichtgestalt als Jesus deuten, eingehüllt in glühende Liebe. Oder als den Auferstandenen, der durch die Liebe seines Vaters zum Leben erweckt worden ist und nun – nicht fern und undefinierbar im Irgendwo, sondern klar und deutlich – in unseren Herzen lebt und ihm göttliche Impulse gibt. Lässt das ihn umgebende wunderbare Rot nicht die kraftvolle Präsenz seines Heiligen Geistes spüren?

 

Weitere Bildmotive von Christel Holl finden Sie und können Sie bestellen auf der Website des Beuroner Kunstverlages.

Einer steht dahinter

Manchmal lohnt sich ein genauerer oder hinterfragender Blick. So wie bei dieser Knospe in einer Kreuzform. Das Bild ist mit drei Ebenen oder Formen sehr einfach aufgebaut: Hintergrund, Kreuzform, Knospe.

Der Hintergrund präsentiert sich in einem dunklen, aber transparenten Blau. Nacht könnte damit angedeutet sein, aber auch Geheimnis. Die Transparenz lässt auf ein lichtes Dahinter schließen – nur der nächste Tag oder gar etwas Größeres, welches hinter allem und damit auch hinter diesem Geschehen steht und es hält?

Die in Rottönen gemalte rechteckige Form hebt sich als etwas Geschaffenes vom eher endlosen Hintergrund ab. Wie eine Straße oder ein Weg mit einem großen Rastplatz durchquert sie das Bild in der Vertikalen. Es muss nicht ein Kreuz sein, aber es kann. Die Gestaltung der Kreuzform ist offen für weitere Interpretationen. Es ist nichts Dunkles mehr in diesem „Kreuz“ zu finden. Lichtdurchflutet und vom Rot der Liebe und des Lebens umgeben verkündet das ursprüngliche Symbol für einen grausamen Tod durch Jesu Auferstehung nun Hoffnung und neues Leben. Das Kreuz ist nicht mehr Endstation, sondern Durchgang zu Neuem.

Die große Knospe suggeriert, dass dieses Neue im Gegensatz zur Kreuzform eine ganz andere, bisher unbekannte Lebensform beinhaltet. Anstelle der harten und geraden Formen besteht sie aus weichen, geschwungenen Linien, das künstlich Geschaffene ist nun dem natürlich Gewachsenen gewichen. Eine silberne Aura umgibt diese Pflanze des neuen Lebens, in deren Knospe sich die Farben der „alten Welt“ von außen nach innen wiederholen. Damit wird angedeutet, dass dieses ganz Andere und Neue dennoch aus dem Bekannten und Vorhergehenden entsteht und damit seine Spuren trägt. Aber in seinem Innern, umrahmt von einer feinen Goldspur, leuchtet in reinem, hellem Gelb die Einzigartigkeit und Schönheit seiner treibenden Kraft auf – unscheinbar, bezaubernd, von der überwältigenden Zuneigung des hinter uns Stehenden erzählend.

Lebensträger

Sparsame Linien und Grautöne bringen die Oberfläche dieses Blattes leise zum Sprechen. Eine tiefe Ruhe liegt in zwei der angedeuteten Formen: dem menschlichen Kopf links und dem rechts neben, über und hinter ihm sich entfaltenden Rechteck, das durch die hauchzarte Lilatönung Weite andeutet und sich durch die auslaufende Farbe nach unten offen gibt. Seiner Darstellung nach ist der Kopf nach hinten geneigt. So ist er dem rechteckigen Feld zugewandt und erscheint in einem engen Austausch mit diesem Gegenüber, das durch seine Proportionen auch an ein Fenster oder eine Türe denken lässt, beides Raumöffnungen, durch die ein Austausch stattfindet zwischen Außen und Innen …

Kopf und Rechteck überlagernd und verbindend hat die Künstlerin als drittes Element langgezogene Kreise in die Komposition eingezeichnet. Ihre diagonale Anordnung auf Mundhöhe bringt Dynamik in die Komposition hinein. Damit wird eine intensive und lebendige Beziehung zwischen menschlichem Innen- und Außenraum suggeriert, wie sie etwa dem Atem zukommt. Aber auch dem Wort, dem Gedanken, der Empfindung …

Mit feinen Mitteln wird hier Existenzielles angesprochen. Der Mensch lebt nicht aus sich heraus, sondern im Austausch mit dem ihn umgebenden Licht, der Luft, der Wärme, dem Wasser, den Nahrungsmitteln, den umgebenden Menschen, ja der gesamten Natur. Diesbezüglich sind wir wie alle Geschöpfe abhängige Wesen, deren Leben sich auf einer sehr schmalen Basis bewegt. Wenn die Künstlerin der Arbeit den Titel “Das Wasser nimmt die Form des Wassers an“ gibt, schwingt etwas von dieser existenziellen Abhängigkeit mit. Im Gegensatz zum Aschekreuz am Aschermittwoch, das die Menschen zeichenhaft an ihre allzu gern verdrängte Vergänglichkeit erinnert, wird hier der Mensch als Lebensträger dargestellt, der zu dem wird, was er aus seiner Umgebung in sich aufnimmt. Beispielhaft wird durch die Künstlerin das Wasser angesprochen, das auch im Körper des Menschen seine Form beibehält. Und ebenso verändert und formt der Einzelne seine Umwelt, seine Mitmenschen.

Keine leichte Aufgabe. Die Unterscheidung zwischen dem, was gut tut, und dem, was uns schadet, ist beim undurchschaubaren Angebot schwer. Hat der angedeutete Mensch vielleicht deshalb den Kopf nach hinten geneigt, weil er sich erwartungs- und hoffnungsvoll Hilfe und Beistand erhofft?

Staunende

Etwas verloren steht das kleine Wesen in seiner dunklen Umgebung. Eine seltsame Erscheinung. Denn es sind fast nur Umrisse auszumachen, welche in weißer, blauer und gelber Farbe ein weibliches Wesen zeichnen, gewissermaßen aus dem Dunkel hervorheben.

In leicht gebückter Haltung steht sie da, dem Betrachter zugeneigt, wie um besser sehen zu können. Ihr Blick scheint regungslos, gebannt von etwas für uns Unsichtbarem. Sind es vielleicht wir selbst, die wir sie in Staunen versetzen? Genauso wie wir uns in diesem Augenblick vielleicht über ihre Erscheinung wundern und uns fragen, wie dieses Lichtspiel möglich ist?

Die kleine Gestalt, es mag aber auch einfach an der leicht von oben gewählten Ansicht liegen, erscheint wie ein Kind. Auch wenn sie es nicht sein muss. Aber so erinnert sie an das Staunen der Kinder. Sie erinnert uns an die Kraft, die im Staunen liegt, im kindlichen Entdecken der Welt. Erstarren und Verwunderung vermögen diese immer wieder neuen Entdeckungen begleiten, diese Begegnungen mit „unglaublichen Erscheinungen“, welche alles bisher Erfahrene übersteigen.

Genauso steht diese junge Dame in der Dunkelheit. Regungslos, gebannt, das Gesehene fixierend, betrachtend, zu begreifen suchend. Ihre Umrisse vibrieren, sind voller Leben, scheinen in der Begegnung mit dem geheimnisvoll Anderen zu leuchten. In der Wirklichkeit wäre eine solche Darstellung nicht möglich. So weder von vorne noch von hinten angestrahlt, außer den Umrisslinien im Dunklen verharrend. Kein Schatten ist möglich, keine Steh- oder Gehfläche sichtbar. Im unteren Teil der Bildfläche angeordnet, schwebt sie dennoch nicht im luftleeren Raum, sondern weckt den Eindruck, mit beiden Beinen fest auf einem Boden zu stehen. Zugleich wirkt sie aber auch wie „auf dem Sprung“ in ihrer Haltung, die Hände aus den Taschen nehmend, wie ein „guter Geist“, der da ist, wenn wir uns alleine schwer tun.

Eine staunende, geheimnisvolle Erscheinung, die ihrerseits Staunen hervorruft! Ein paar farbige Striche haben genügt, sie aus der Dunkelheit herauszuholen. Ebenso vermag vielleicht ein verlängerter Augenblick das zuvor verborgene „Wunderbare“ in der Natur, in einem Menschen, in einem Kunstwerk oder einem Gedanken aufleuchten lassen und in einer Innigkeit erfahren lassen, dass sich das Erfahrene fest und tief in die Seele einprägt – und immer mehr zu einem unsichtbaren Schatz wird, der einen nicht nur in dunklen Zeiten erbauen und stärken kann.

Darum möchte man seine Schönheit nicht mehr loslassen, sie vor dem Verwelken bewahren, das Faszinierende festhalten, es sehen, erfahren und in Ewigkeit kosten und genießen.

Lichter Raum

Linien ohne Ende, Linien in allen Farben bilden auf diesem Bild eine verwirrende Landschaft. Dabei scheinen die schwarzen Linien einen gitterartigen Vordergrund zu bilden, bei dem im Randbereich Blumenmotive und aus Quadraten und Dreiecken bestehende vereinfachte Häuser und Häuserzeilen erkennbar sind, die sich zu einer Stadt, zu einer Stadtlandschaft formieren.

Dahinter eine nahezu unfassbare Linienfülle. Die Farbspuren erinnern an die vielen Lichter einer Stadt, an ihre stark befahrenen Straßen, auf denen die Autos vergängliche Licht- und Farbspuren hinterlassen. Ein Feuerwerk an Lichtbewegungen, das in der Bildmitte die Nacht zum Tag werden lässt. Ein beeindruckender, lichter Kubus, fest auf dem Boden stehend, ein faszinierender Lichtraum, in dem die Linien und Bewegungen ganz anders wahrgenommen werden können. Dieser lichte Raum offenbart trotz aller Fülle Transparenz und lässt mit seinem geheimnisvollen Charakter Transzendenz zu.

Diesbezüglich könnte man auch an die Aufzeichnung eines Traumbildes denken, das unser Erleben und unsere Gefühle in allen Beziehungen darstellt, gleichzeitig unser Verhalten zu Dingen und Mitmenschen, schwer zu entschlüsseln, aber trotz aller Fülle nicht ohne Harmonie. Der helle Innenraum als Spiegelbild unseres Innersten – offen für das Transzendente?

So vermag die Arbeit zur Meditation einladen, zum Nachdenken über die Linien und Bewegungen in unserem Leben. Wo würden wir uns spontan einordnen? Mit welcher Farbe malen wir gerade unser Leben? Oder wird es gemalt? Sind wir allein unterwegs oder prägen wir gemeinsam das Dorf- oder Stadtbild? Mit diesen Fragen ist das Feld sicher nicht erschöpft.

Da ist auch das schwarze Gitter mit seinen unregelmäßigen Linien. Ob es eher ein Schutz vor diesen wirren Bewegungen ist, weil der Eintretende sonst in Gefahr schwebte, mitgerissen zu werden? Oder ist es ein Schutz für den hinter dem Gitter, auf dass er sich selbst nicht verliere? Oder bildet es eher ein Tor, das aufgestoßen werden möchte und zum Eintreten in diese furiose Lichtwelt einlädt? Denn trotz der beängstigend vielen Linien bietet das Gitter doch einen klaren Halt, der lichte Kubus einen geordneten Raum, der inmitten der Finsternis und der Verwirrung einen gewissen Schutz bietet, einen Ort der Einkehr, Besinnung und vielleicht auch der Orientierung. Das Leben mit seinen kreisenden Bewegungen wird in diesen zentralen Raum hineingetragen, da aber vom Licht verwandelt, neu erfahrbar gemacht. Ein Bild für transzendentale Erfahrung? Einer subjektiven Gottesbegegnung?

Ave Maria, virgo potens – ein Andachtsbild?

Anselm Kiefer liebt es, kurze, prägnante Worte in seine Arbeiten zu integrieren. Als Schrifthinweise deuten sie eine mögliche Interpretationsrichtung der verwendeten Materialien an, führen den Betrachter allerdings oft in ein Dilemma zwischen dem Bezeichneten und dem Dargestellten. Denn der Künstler spannt weite Bögen und verarbeitet existentielle Themen gerne in Verbindung mit gesellschaftspolitischen Ereignissen und unter Berücksichtigung ethischer Dimensionen. Insbesondere die Rückbesinnung auf die Vorgänge in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist ihm wichtig. So stellt sich auch hier die Frage, was Inhalt und Botschaft dieser Arbeit sein könnte.

Irdische Sehnsucht
Durch die Verwendung verschiedener, auch authentischer Materialien begegnet uns ein mehrschichtiges Bild, das allein durch seinen Aufbau Tiefe aufweist und den Betrachter einlädt, diese auszuloten. Wenngleich die graubraunen und rotfarbenen Farbtöne eine warme Atmosphäre schaffen, so ist das Bild doch von Durst und Sehnsucht nach Begegnung und Erfüllung geprägt.
Die Boden bildende Lehmschicht erzählt selbstredend davon. Einst war sie durch das verbindende Wasser geschmeidig und fruchtbar, nun ist sie ausgetrocknet und von Rissen durchzogen ein Bild des Elends und der Machtlosigkeit. Noch künden die Rosen von der einstigen Kraft, Nährboden zu sein, aber die Erde ist zum wackeligen Halt für die ebenso trockenen Blumen verkommen. Noch ist das aufstrebende Element und die einstige Schönheit der Rosen spürbar. Die Liebeserklärung steht noch. Das Verlangen nach Licht, Wasser und Wärme bleibt bestehen, die Sehnsucht nach neuem Leben.

Göttliche Antwort
Als ein Gegenüber hängen von oben herab weitere getrocknete Rosen ins Bild. Ein Spiegelbild? Oder steht hier etwas Kopf? Oder wird da eine Grenze angedeutet, die überwunden werden kann? Außer dem Bildrand haben diese Rosen keine wirkliche Basis. Allerdings bergen sie ein geheimnisvolles schwarzes Kreiselement mit einer dunklen Mitte. Im oberen Bereich des Bildes angeordnet, könnte es auf eine übergeordnete Unendlichkeit hinweisen. Gleichzeitig lässt es an ein Auge denken, das sich in der christlichen Bildtradition häufig als Symbol für Gott findet.
Durch die vertikale Gegenüberstellung stehen die beiden Rosengruppen in einem Dialog zueinander. Ein stummes Gespräch, bei dem die Bewegung der oberen Rosen auf die der unteren eine Antwort zu geben scheint. Eine Antwort, die direkt mit den von Hand in dieses Spannungsfeld geschriebenen Worten „Ave Maria, virgo potens“ zu tun haben muss.

Maria als Mittlerin
„Ave Maria“ – wer kennt nicht die lateinischen Anfangsworte des Engels bei der Ankündigung ihrer Erwählung zur Mutter Gottes und ihr schlichtes Ja auf das Unfassbare? Und da die Erde alles Leben hervorbringt, steht Maria als gesprungene Erde symbolisch für die Erwartung des Volkes Israels, dass ein starker Retter es von der römischen Besatzungsmacht befreien wird.
Unerwartet folgt nach dem „Ave Maria“ ein „virgo potens“ und nicht das „gratia plena“ aus dem „Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade“. Was wohl der Grund für diesen anderen Wortlaut sein mag und woher die Worte stammen mögen, die durchaus mit Maria und ihrem bedingungslosen Sich-zur-Verfügung-Stellen zu tun haben? Die Spur führt zur Lauretanischen Litanei mit dreiundfünfzig zum Teil sehr bildhaften und poetischen Anrufungen der Muttergottes, denen stets ein „bitte für uns!“ folgt. Dieses Gebet ist seit dem 16. Jahrhundert im Wallfahrtsort Loreto in Italien bezeugt und hat seither die Bitten vieler Menschen gebündelt. Unter den Anrufungen findet sich auch „virgo potens, ora pro nobis“ – „mächtige Jungfrau, bitte für uns!“ Maria und Macht? Geht das zusammen? Sie schreibt sich selbst keine Macht zu. Sie war gewissermaßen genauso ohnmächtig und kraftlos wie wir. Aber ihre Offenheit für den Anruf Gottes und ihr Einverständnis zu seinem Vorhaben müssen eine einzigartige Nähe geschaffen haben. Wer also Maria als „Virgo potens“ verehrt, der glaubt, dass seine Bitten durch ihre Mittlerschaft verstärkt an Jesus herangetragen und auf Grund ihrer Herzensnähe bevorzugt erhört werden. Die vielen Votivtafeln in den Wallfahrtsorten der Christenheit bezeugen dies.

Der leidtragende Mensch
Der Künstler zitiert mit diesen beiden Wortpaaren also den Anfang eines Gebetes. Da er weder ein „ora pro nobis“ noch eine Bitte hinzugefügt hat, muss das Bild selbst auf eine Bittstellung hin befragt werden. Hinter den Rosen zeichnet sich tatsächlich die halb verborgene Gestalt eines Mannes ab, von dem in der Bildmitte der nach links blickende Kopf, rechts davon sein angewinkelter rechter Arm und darunter ein nackter Oberschenkel erkennbar sind. Er mutet wie ein Riese an, von Gestalt her mächtig genug, um sich helfen zu können. Es sieht so aus, als würde er tief im Dreck stecken, beladen mit einer Last, die dunkelgrau aus der Erde aufsteigt und sich über ihn legt. Ist nicht ein Auge und ein schelmisches Grinsen in diesem Schatten zu entdecken, der wie eine Schuld in unentwegtem Dialog mit dem Gewissen des leidtragenden Menschen bleibt?
Nur eine machtvolle Hilfestellung kann seine Not wenden. Ob die mit Licht durchtränkten Grauschattierungen im Hintergrund dafür stehen könnten? Das rostbraune Dunkel verdrängend, kommen sie wie eine Wolke auf die menschliche Gestalt herunter und umgeben sie stärkend und erhellend. Als verbindendes Element könnte diese mächtige Helligkeit in aufsteigender Richtung als Maria gedeutet, herabkommend als göttliche Gnade oder Hilfe gesehen werden. Aber auch andere Deutungen des nicht unwesentlichen Geschehens im Hintergrund sind möglich.

In seiner Offenheit hat dieses Bild mit bekannten Andachtsbildern letztlich wenig zu tun. Dennoch greift es elementare menschliche Regungen auf, schafft Identifikationsmöglichkeiten und unaufdringliche Zugänge zu Gott. Anselm Kiefer hat mit dieser Arbeit bewusst oder unbewusst eine einladende Ermutigung geschaffen, dass im Gebet zu Maria und damit zu Gott eine gewaltige Kraft steckt. Also doch ein Andachtsbild?

Dieser Bild-Impuls wurde in der Ausgabe 4/2008 der Zeitschrift „das münster“, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft erstveröffentlicht.