Große Umarmung

Es ist der Vorzug des Künstlers, mit seiner Bildsprache etwas anschaulich zu machen, was jenseits unseres sprachlichen Ausdrucksvermögens liegt. Dabei ist auch das Dargestellte oft nur eine Art vermittelnde Brücke zum Unsichtbaren, das wir wohl wahrnehmen, aber eben nicht sehen können.

Im Bild von Christiane Vincent-Poppe begegnet uns vor einem blauen Hintergrund eine mächtige Licht-Erscheinung. Ihr hellster Punkt leuchtet wie eine Sonne aus der Tiefe dieser Erscheinung. Sie schwebt über einem schalenförmigen Bündel Striche, die auch als Sessel, Arme oder Flügel gesehen werden können – je nach Betrachtungsweise.

Dynamische Energie geht von diesem Lichtkreis aus. Energie, die sich auf der rechten Seite der „Sonne“ sichtbar zu materialisieren scheint und im Gegenuhrzeigersinn stärker werdend letztlich in den schalenförmigen Grundbogen einfließt. Dabei lassen die roten Teile an Blut und Liebe denken – Basiselemente des Lebens, die uns Geschaffenen unaufhörlich aus dem unerschaffenen Licht zukommen.

Diese starke Ausstrahlung wird durch einen weißen Lichtschleier verstärkt, der die Erscheinung kreisförmig durchwirkt und verklärt. Alles ist voller Leben bei dieser Gestalt, die im Himmel zu schweben scheint und ihn durch ihr Licht gleichzeitig in wunderbaren Farben zum Leuchten bringt.

So sehr das Auge bei dieser faszinierenden Erscheinung verweilt, es vermag seine Gestalt nicht auf ein bekanntes Bild zu reduzieren. Einzelne Elementkombinationen ergeben das Brustbild eines Menschen mit weit ausgebreiteten Armen. Durch die lichte Ausdehnung können seine „Arme“ aber auch als „Flügel“ wahrgenommen werden, wodurch sich die Gestalt eines geflügelten Wesens ergibt, das dennoch weder als Taube, als Engel oder als Geist bezeichnet werden kann. Dazwischen, bedingt durch die symmetrische Ausdehnung der Erscheinung, Gedanken an ein Kreuz. – Ein Kreuz, das vom Licht erfasst und durch es verwandelt selbst zur Lichtquelle geworden ist.

In der angedeuteten Form des Gabelkreuzes, einem weit in die vorchristliche Zeit zurückreichendes Symbol für den Lebensbaum, steht es für das Leben schlechthin. Und obwohl man in der Römerzeit dieses Symbol des Lebens zum Werkzeug für den schimpflichsten und unehrenhaftesten Tod pervertierte, hat es durch die Auferstehung Jesu seine positive Zeichenkraft beibehalten. Freilich steht es jetzt auch für den Tod, den der Gekreuzigte mit aller Qual, mit aller Verlassenheit und aller Verzweiflung erlitten hat, ausgeliefert der Frage: Mein Gott, warum …?

Die Antwort – die auch unseren Warum-Fragen einen Sinn geben könnte – ist hier als geheimnisvolles Geschehen ins Bild gesetzt. Es vermittelt erkennbar, aber nicht fassbar, nah und doch entrückt den Übergang in eine andere Wirklichkeit, in der Sprache der Bibel: ins Paradies.

„Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ Diese alttestamentliche Frage, die das Sehnen der Menschheit über den Tod hinaus ausdrückt, hat Paulus an die Korinther konkretisierend auf Jesus als den „Erstgeborenen“ bezogen. Und wir „Nachgeborenen“ haben diese Frage bewahrt bis auf den heutigen Tag mit aller Sehnsucht und aller Hoffnung, die in ihr steckt.

Gerade in einer Zeit, in der der Tod nicht mehr die selbstverständlich ins Leben gehörende Rolle spielt wie einst und seine „Öffentlichkeit“ ins Private, ja ins Verborgene und in die Anonymität von Kliniken und Abdankungshallen gedrängt wird, andererseits durch die täglichen Berichte über den aberwitzigen, sinnlosen Tod, den Menschen sich selbst und ihren Mitmenschen zufügen, ein Zerrbild des Todes entsteht, bietet das Bild von Christiane Vincent-Poppe eine ermutigende Perspektive.

Wir werden erwartet. Die erhabene Licht-Erscheinung vermag die geheimnisvolle, lichte und weite Offenheit Gottes zu umschreiben, der uns einlädt, auf ihn zuzugehen und uns im Tod vom Leben umarmen zu lassen, in ihn einzugehen und von seinem Licht und seiner Liebe gleichgestaltend durchdrungen und erneuert zu werden. Der Tod ist kein Ende, er ist „Hinübergang“, Ankommen und Vollendung des Lebens.

Mysterium

Auf den ersten Blick könnte man an eine Skizze für die Bühnenausstattung zu einem Mysterienspiel denken: eine tiefe Straßenschlucht öffnet sich zwischen einer hohen, dunklen Hauswand zur Rechten und der Silhouette eines kleineren blauen Hauses zur Linken. Darüber strömen feine weiße Striche wie Nieselregen auf dieses Haus herab, das wohl menschliche Anwesenheit, menschliches Leben andeuten mag.

Zwischen diesen Kulissen dominiert ein leuchtend weißes Objekt, das nach beiden Seiten ausgreift. Trotz seiner vagen Form ist ein Kreuz zu erkennen. Auch wenn es seine Materialität und Schwere verloren hat, lässt es zusammen mit der zackig gezeichneten Gestalt in seinem Innern eine vorausgegangene Kreuzigung oder schwere Leiderfahrung ahnen. Durch den Farbwechsel ist es jedoch zum Symbol von etwas Hellem, Schönen, Sich-mitteilenden geworden. Damit tritt es aus der Dunkelheit hervor und breitet sich schützend über die Menschen und ihren Lebensraum aus.

Zwei Kreisbogen deuten an, dass das am Kreuz Geschehene aus den Wirkungskreisen von zwei unterschiedlichen Interessen heraus entstanden ist. Von unten erhofften die einen den Tod eines unbequemen Zeitgenossen, von oben gab der Unendliche seinen einzigen Sohn als Lösegeld für die Vergehen der Menschen hin, damit sie nicht in der Dunkelheit untergehen, sondern zum Licht und zum Leben gerettet werden.

Können nicht in der helleren blauen und der gelben Fläche unter dem Kreuz nach oben gewandte Menschengestalten gesehen werden? Menschen, die stellvertretend für alle nach Erlösung von ihren Gebundenheiten verlangen? Mit dem Kopf nach hinten strecken sie sich nach Freiheit und Licht aus, nach der Vergebung ihrer Vergehen. – In der goldgelben Flut scheint sie ihnen wie aus einer Wunde des Kreuzleibes zuzufließen: voller Licht, erneuernd, verwandelnd.

So können das Kreuz der Heilsgeschichte und das Leid in jedem Menschenleben ihre spezifische Gestalt und deren harte Konturen und Dunkelheit verlieren. Aber dazu bedarf es des Menschen, der offen ist für diese Wandlung, der das Gute, den Segen, die Gnade, oder wie immer wir es benennen mögen, dieses goldgelb Leuchtende wahrnimmt und aufnimmt.

Einfach schön

Einfach präsentiert sich das Bild mit seinen wenigen Elementen und Farben. Schnell ist es in seinem leicht diagonalen und symmetrischen Aufbau erfasst. Die leuchtenden Farben vermitteln eine Heiterkeit, eine positive Kraft geht vom den harmonischen, prallen Formen aus. Die von oben hereinzufließen scheinende weiße Aufhellung lässt zu, dass im gelben, nach unten auslaufenden Oval ein dreidimensionales Gebilde gesehen werden kann, ein Ei oder eine aufbrechende Knospe, links und rechts beschützend gehalten von einer roten und einer blauen Schicht, die in ihrer Form an Hände oder Knospenblätter erinnern und dem zentralen Gegenstand gleichzeitig etwas wie eine Aura, eine Ausstrahlung verleihen.

Andererseits gibt die rot-blaue Fassung gewissermaßen Einblick in ein leuchtendes Geschehen, das nach unten ausfließt. Die eiförmige Gestalt scheint durch die Aufhellung von oben rechts zu kommen und sich nach unten links in die „Bildwelt“ zu ergießen. Dabei kann die weiße Fläche im gelben Umfeld als eine Hand gesehen werden, die von oben in dieses Aufbrechende hineingehalten wird, Mitte und Kraft gebend, vielleicht auch Wesen und Auslöser seiend.

Dieses von innen und von außen Gehaltene, von der Liebe formgebend Umfangene und vom Wasser und der Luft nährend Unterstützte vermag Staunen über das Wunder des Entstehens und des Wachsens, über das Werden alles Geschaffenen auszulösen. Es ist, als hätte der Künstler mit symbolischen Zeichen ein im Mutterbauch heranwachsendes Kind gemalt, die unübertreffliche Freude und die Schönheit dieses Geschenks sichtbar gemacht, aber auch die Bedingungen, unter denen sich Leben in einer ersten Phase entwickeln kann: in Stille und Geborgenheit, ohne Hast und zunächst den Blicken entzogen. Dieses Gesetz des Werdens gilt für alles körperlich Lebendige in der Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt und nicht zuletzt im geistigen Bereich, im persönlichen Leben, in Kunst und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, das gilt für jede Idee, jede Entscheidung, jedes Programm. Wir wissen das eigentlich alle und erleben doch täglich die Folgen „unausgetragener Ideen“ …

Zurück zum Bild: man erhält den Eindruck, etwas Heiliges zu schauen, ja dem Heiligen selbst ins Angesicht zu schauen. In der Einfachheit dieser Farben und Formen dringt sehr viel von seinem Wesen durch, von tiefer Ruhe, von seinem Licht, seiner Liebe und Herzlichkeit.

Die längere Betrachtung dieses Bildes fasziniert und ermutigt, allem Werdenden und Entstehenden – sei es körperlich oder sei es geistig – so lange schützenden Raum zu geben, bis es – ähnlich einem Kind – bereit für die Geburt ist, bereit für Eigenständigkeit, die in ihrem Innersten von einer höheren Macht – Gott – gehalten wird.

Göttliche Zuwendung

Solche Bilder sind uns von Mandalas her bekannt. Man kann sie drehen wie man will, sie sind von allen Seiten gleich aufgebaut und haben einen klaren Mittelpunkt. Das ruhige grüne Passepartout, in den vier Ecken mit einem stilisierten Blumenmotiv gehalten, führt den Blick wie durch ein Fenster hindurch auf ein rotierendes Gebilde, das aus zwölf Händen und sie verbindenden Linien besteht.

Die Hände kommen von außen, aus dem blauen Hintergrund, und erinnern dadurch an frühchristliche Malereien, in denen Gott und seine Zuwendung zu den Menschen durch eine aus den Wolken ragende Hand dargestellt wurde. Hier wie dort ist die Handhaltung eine segnende. Hier sind die Umrisse der Hand zudem aus Gold: ein traditionelles Zeichen für Gottes Herrlichkeit, unterstrichen durch die goldgestreiften Ärmel eines roten Festgewandes. Gold kann für Macht und Herrschaft gesehen werden, das Rot für sorgende und bergende Liebe.

Gottes Hände rotieren geradezu um das Geschaffene. Sie sind unaufhörlich in Bewegung: segnend, schöpferisch, behütend. Ist das nicht wohltuend zu sehen, wie alles aus Gott Hervorgegangene auch von ihm umgeben ist und gehalten wird? Wir Menschen dürfen uns zusammen mit allem Geschaffenen in diesem Focus von Gottes Aufmerksamkeit und Handeln wissen.

Doch ist das unsere erlebte Realität ? Ist das nicht eher eine Wunschvorstellung? Persönliches Leid, Krankheit, Armut, Verständigungsschwierigkeiten unter Einzelnen, Völkern und Religionen, Naturkatastrophen und, und, und … Gibt es nicht genug Gründe, an Gottes Allmacht und Liebe zu zweifeln?

„Gott ist Vater, Gott ist gut, gut ist alles, was er tut“, wurde früher den Kindern mit auf den Lebensweg gegeben. Und dann ging das Leben weiter und überrollte diesen wohlgesetzten, gutgemeinten Kinderspruch, denn er widerspricht zunächst der Lebenserfahrung – wenn er nicht von Anfang an eingebettet ist in ein grünes Passepartout der Hoffnung und des Glaubens. Der Hoffnung, dass Einer eine Regie führt, die wir zwar meistens nicht verstehen; des Glaubens, dass es einen Plan gibt, den nur Gott kennt.

Der Künstler stellt uns diese Gedanken in dem fein gezeichneten Gespinst im Kreis der zwölf Hände vor Augen, das aus einer Vielzahl von geometrischen Formen besteht: wohltuenden Bogen und vielerlei eckigen und kantigen Fragmenten, die für sich allein gesehen sinnlos erscheinen. Doch zusammengefasst ergeben sie ein durchdachtes, harmonisches Gebilde von großer Schönheit.

Wenn es gelingt, diesen Plan zu erhoffen, kann diese Hoffnung zu einem „doppelten Boden“ im Leben führen oder zu einem Netz, das im Absturz hält und trägt. Rainer Maria Rilke hat das in seinem Herbstgedicht von den fallenden Blättern so ausgedrückt: „… und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“. Das stärkt den Glauben und lässt die vielen sich kreuzenden Linien gar zu einem bergenden Gewölbe werden, voll unfassbarer Gnade und Fülle.

Göttliche Gemeinschaft

Drei geometrische Formen sind in rotbrauner (blutroter) Farbe auf das Blatt gemalt worden. Alle drei Formen haben in etwa die gleiche Größe und scheinen mit dem gleichen breiten Pinsel in je einem Arbeitsgang sorgfältig aufgetragen zu sein. Zuerst das Viereck oder Quadrat, dann das gleichschenklige Dreieck, zuletzt – und dadurch für den Betrachter zuvorderst – der Kreis. Zusammen ergeben sie eine neue Formierung, erhalten sie eine zusätzliche Ausdruckskraft.

Jede der drei Formen besitzt mit der umschlossenen Innenfläche ein ausgeprägtes eigenes Zentrum. Dieses bildet gleichzeitig einen tragfähigen Sitz für einen Teil der anderen Form, seien es die unteren Ecken des Dreiecks, die durch die Zentren des Quadrates und des Kreises gehalten werden, sei es der Zwischenraum derselben im Dreieck.

Während Quadrat und Kreis partnerschaftlich nebeneinander angeordnet sind, ist das Dreieck als Zwischenform von links nach rechts wie von hinten nach vorne verbindend in sie eingeordnet.

Jede der drei Formen ist eine geometrische Grundform. Einfacher geht es nicht. Sie lassen sich nicht noch mehr reduzieren. Unverwechselbare Gestalt. Symbolhaft. Eigenständig.

Und doch sind sie zueinander und miteinander in Beziehung. Um Gemeinschaft zu werden, lassen sie nicht nur Nähe zu, sondern auch Überlagerungen und gestaltete Einheit.

Können so einfache geometrische Formen auf Gott hinweisen? Vermögen sie symbolisch von einem Gegenüber zu sprechen, das sich uns in dreigestaltiger Wesensart offenbart und uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist begegnet? Können die abstrakten Grundformen den drei Seinsweisen von Gott zugeordnet werden?

Dadurch, dass Quadrat und Kreis partnerschaftlich nebeneinander stehen, können sie als Symbole für den Vater und den Sohn gedeutet werden. Das verbindende Dreieck weist auf den Heiligen Geist hin, der dem Glaubensbekenntnis nach aus dem Vater und dem Sohn hervorgegangen ist. Ob nun Kreis oder Quadrat den Vater bzw. den Sohn symbolisieren, hängt von der Lesart ab: Zum einen könnte der Kreis den Sohn darstellen, weil er uns am nächsten dargestellt ist. Durch ihn haben wir im Heiligen Geist Zugang zum Vater, der die Welt erschaffen hat und deshalb mit einem Quadrat versinnbildlicht werden kann, denn die vier Seiten entsprechen den vier Himmelsrichtungen und weisen auf das Weltall hin. Es könnte aber genauso gut umgekehrt sein. Der Kreis könnte, weil er keinen Anfang und kein Ende hat, für den Vater stehen, der von Ewigkeit her lebt und mit dem Sohn und dem Heiligen Geist zusammen Leben schafft. Das Quadrat wäre dann Symbol für den Sohn, weil dieser in Jesus Christus irdisch geworden ist: ein Mensch dieser Welt. Alles sind Versuche, die Unbegreiflichkeit Gottes durch Symbole in unsere Vorstellungskraft zu holen.

Erstaunlich, wie gut die abstrakten Formen den an sich genauso abstrakten Gottesbegriff zum Leben erwecken. Doch … können die Formen auch irdisch-menschlich gelesen werden? Die meisten von uns verbinden den Kreis, die runde Form, gefühlsmäßig mit der Frau, während das Viereck eher dem Mann zugeteilt wird. Und … Mann und Frau stehen doch im Idealfall wie Quadrat und Kreis gleichberechtigt nebeneinander und zueinander! Könnte dann nicht – erhöht und die beiden „Irdischen“ von Mitte zu Mitte verbindend – das Dreieck als Symbol für die göttliche Dreifaltigkeit gelesen werden, als transzendente, verbindende Ebene, aus der Liebe strömt: zueinander, über die Zweiergemeinschaft hinaus und zu Gott oder dem Nächsten?

Begegnung

Eine Lichtlandschaft in weichen Brauntönen begegnet uns in diesem Triptychon. Der gleiche Aufbau des Hintergrunds – eine vertikal durchgehende, breite, helle Mittelzone verändert sich zur Seite hin in ein sanftes Braun – verbindet die drei Bildtafeln miteinander. Die Betrachtung wird dadurch auf die drei zentral angeordneten Figuren gelenkt, die durch den pastosen Farbauftrag auf dem lasierenden Grund zu materiellen und dadurch sichtbaren Erscheinungen einer ansonsten schwer fassbaren Welt werden.

Die beiden seitlichen Darstellungen sind von einfacher Gestalt. Der kopfartige Schwerpunkt im untersten Bereich der beiden Figuren und der nach oben auslaufende Farbauftrag erweckt den Eindruck zweier von oben kommender, schwebender Wesen. Ihre sehr schlichte Darstellung ermöglicht es, in ihnen einen Ausdruck von ansonsten immateriellen, also geistigen Wesen zu sehen. Ihre symmetrische Anordnung lässt sie zudem als ehrende oder bewachende Begleiter des komplexeren Geschehens auf der mittleren Tafel wahrnehmen.

Mit Farbe und anderen Substanzen ist hier ein hervorgehobener Bereich geschaffen worden, der sich angesichts der unklaren Begrenzung jeglicher räumlicher Definition entzieht. Aber durch seine ausgewogenen Proportionen, die schwebende Einordnung im Bildraum und die zarten Farben strahlt dieser Bereich eine außerordentliche Ruhe aus. Hier drin geschieht etwas, das in sich stimmig, im Einklang ist.

Zwei skizzenhaft angedeutete Personen lassen an eine Begegnung denken. Die linke, größere Gestalt ist deutlich zu erkennen, auch wenn es verwirrt, dass sie gleichzeitig steht und kniet. Ihr Kopf und ihre Schultern werden von einem rotbraunen Quadrat mit lebendigem Farbenspiel umgeben, das den Eindruck erweckt, ein Ausdruck der in der Person vorgehenden Gedanken und Gemütsbewegungen zu sein. (Detailbild) Die Farbbereiche umgeben in freien Formen den Kopf und scheinen durch die nach außen zunehmende Schattierung vom immateriellen, nur durch eine lichte Aufhellung betonten Gesicht auszugehen. Ihr gegenüber vermögen wir eine zweite Gestalt zu erfassen. Ihr Oberkörper und Kopf scheinen aus dem Nichts aufzutauchen.

Aus der Anordnung der beiden Menschen geht hervor, dass sie aufeinander ausgerichtet, miteinander geistig verbunden sind. Ihre sehr flüchtige Erscheinung lässt an eine spirituelle Begegnung denken, bei der die innere Einstellung und ihre Haltung mehr als viele Worte zählen. Die Betonung ihrer Köpfe durch einen zweiten Kreis könnte einen Schutz darstellen, aber auch bedeuten, dass die gleichen geistigen Werte sie auszeichnen und vereinen. Die unterschiedliche Ausgestaltung und Größe der beiden Personen lässt einen ungleichen Dialog vermuten, bei dem Ersterer aus dem Vollen schöpfend Werte und Erfahrungen an den ihm Zuhörenden zu vermitteln scheint. Diese Vorstellung der Wertevermittlung wird unterstützt durch das Symbol der Weisheit, das neben dem Kopf der stehenden Person in der Silhouette einer Taube gesehen werden kann. Sie bringt zum Ausdruck, dass Inspiration und Erkenntnis Geschenke sind.

So weist das Triptychon für mich darauf hin, dass geistige Begegnungen besondere Orte der Weitergabe von Lebenserfahrung und Weisheit sind. In ihnen wird das Sichtbare und Oberflächliche auf das Unsichtbare und Grundlegende, Wesentliche hin durchdrungen. Gerade in einer materiell geprägten Welt brauchen wir solche geschützten Räume und müssen solche Begegnungen stattfinden, weil in ihnen ein Austausch geschehen kann, der über des Menschen Horizont hinausgeht und wertvolle Orientierung und einen neuen Maßstab für die Gestaltung seines Lebens bringen kann.

Ein Werkbuch mit Bildern und Texten von Otto Zech mit dem Titel „FRAGMENTE“ kann direkt bei der Herausgeberin, Stephanie Roos, bezogen werden: stephanie.roos@web.de

Ausstrahlung

Was für eine Wärme geht von diesem Bild aus! Was für ein Sog führt ins glühende Zentrum dieses Bildes! Ungeformte Materie scheint von einem feurigen Kern nach außen geschleudert zu werden und sich dabei, dunkler werdend, zu verfestigen. Darüber schwebend oder darin schwimmend, strukturieren weiße, unförmige, auf die Mitte ausgerichtete Fragmente das Bild. Einige erscheinen uns als flüchtige Wolken, andere, vor allem die größeren, eher als Inseln. Der größten von ihnen ist ein gelber Kreis beigeordnet.

Schöpfung? Das Bild lässt an etwas denken, das im Entstehen ist, das von einer unsichtbaren Mitte gleichsam angezogen und zusammengefügt wird. Es könnte die Anziehungskraft der Erde sein. Die feurige orange-rote Farbe lässt an das brodelnde Innere unseres Planeten denken, an die flüssigen Magmamassen, die hier und dort durch die Vulkane an die Oberfläche treten und die Erde „ursprünglich“ mitgestalten.

Die zentrale Kreisform wie die strahlenförmige Anordnung der weißen Elemente bringen gleichzeitig die Fragilität alles Geschaffenen zur Sprache. So wie sich die Materie gefunden hat, könnte sie durch die geballte und vielleicht auch gestaute Energie auseinander bersten, explodieren. Die „Inseln“ im Glutmeer lassen daran denken, dass der Boden unter den Füßen heiß werden und sich das Leben unter der Sonne schon bald auf einer „dahinschmelzenden Eisscholle“ befinden könnte.

Erinnern die strahlenförmigen wolkenähnlichen Gebilde nicht diskret an das Zifferblatt einer Uhr? – Die Zeit läuft! Auch wenn kein Zeiger genau sagen kann, wie spät es ist! Wie der Klimawandel weist das Bild darauf hin, dass es höchste Zeit ist, sich jetzt unseres Planeten anzunehmen: Ihn als lebendigen Organismus zu beachten, mit ihm achtsam, sorgsam, umsichtig umzugehen und ihn nicht weiter auszubeuten oder wie eine unerschöpfliche Müllhalde zu behandeln.

Die Fragilität von allem Geschaffenen und die damit einhergehende Vergänglichkeit mag ein Grund für einen veränderten Umgang mit unserer Umwelt sein. Mit seiner Ausstrahlung spricht das Bild noch etwas an, das unser Verhalten prägen sollte: die Schönheit der Schöpfung. Ist in ihrer überbordenden Lebensfülle nicht Gottes schöpferischer Geist zu spüren? Kommt in der orange-roten Farbe des Bildes nicht seine Liebe zum Ausdruck, die der Schöpfung zu Grunde liegt und alles Geschaffene im Werden wie im Vergehen durchwirkt, hält und mit Schönheit erfüllt?

Osterlicht

Frohe Ruhe strahlt dieses Bild aus. Liegt es am fast symmetrischen Aufbau oder an den weichen Farbtönen? Oder weil das weiße vertikale Band die verschiedenen Bildelemente durchquert und zusammenhält? Aber auch die schwarze waagrechte Form und das hellblaue Feld, beide im unteren Bereich des Bildes positioniert und durch die helle Vertikale wie an einem Pendel fest mit dem dunkelblauen Element am oberen Bildrand verbunden, tragen ihren Teil dazu bei. Zudem scheint das warme Gelb auf dem weißen Hintergrund zu schweben und vermittelt sonnige Leichtigkeit.

Aber andererseits prägt die dunkle Form das Bild an zentraler Stelle und die dunklen Schatten an den Rändern bilden einen düsteren Hintergrund für das Geschehen. Hier kommen Leid und Tod unübersehbar zur Sprache. Aber die sargähnliche Form ist aufgebrochen und kann den Verstorbenen nicht festhalten, die dunkle Vergangenheit ist verdrängt durch einen neuen Zeitraum, der von warmem Licht erfüllt ist.

Der Grund für diese alles verändernde Verwandlung muss in der breitbandigen Mittelachse liegen. Sie scheint aus dem souverän am oberen Bildrand schwebenden Element mit den drei hellen Kreuzen herauszufließen, um das in der Tiefe Ruhende zu hinterfangen und am unteren Bildrand in den schmalen weißen Saum mündend auch alles zu umfassen. Es ist, als wolle damit angedeutet werden, dass dieses von oben Kommende die tragende und letzte Wahrheit allen Geschehens ist – nicht das Leid und nicht der Schmerz, und auch nicht der Tod.

Mehr als ein Abendmahl …

Das Erfassen der verschiedenen Bildelemente wird dem Betrachter in diesem Bild nicht leicht gemacht. Während der Tisch, das große Glas, das vom Tisch herunterfallende Fischskelett und die verschiedenen Personen klar eine Mahlgemeinschaft erkennen lassen, verwirren die verweisenden Symbole und ungewöhnlichen Personenfragmente mit ihren expressiven Handlungen. Zusammen mit der dominierenden roten Farbe vermitteln sie ein aufwühlendes, bewegendes Geschehen.

Bereits der schräg stehende Tisch vermittelt, dass etwas ins Rutschen gekommen ist, dass sich etwas bis dahin Feststehendes, Zentrales verändert hat. Etwas, das unmittelbar mit dem großen, breitschultrigen Mann zu tun hat, der in der Hand ein kelchförmiges Gefäß hält und dessen rotes Gewand mit bedeutungsvollen weißen Farbtropfen bedeckt ist. Sein vom halbseitigen Schlagschatten und von zwei Gesichtern und einer auf den Kelch zeigenden Person in den Hintergrund gedrängtes Gesicht ist leicht nach rechts geneigt. Mit liebevollem Blick wendet er so seine Aufmerksamkeit dem kleinen Mann zu seiner Rechten zu, der ihn mit aufgestütztem Arm und großen Augen fragend anschaut.

Auf der anderen Seite des Tisches tauchen aus dem dunkleren Bildbereich ähnlich staunende und nachdenkliche Gesichter auf: Was hier geschieht, ist unfassbar! Erstaunlich, dass da einer mitten drin seinen Kopf auf den Tisch legen und schlafen kann. Um so mehr, als sein Gesicht vom Kelch ausgehenden Schlaglicht genauso beleuchtet ist wie jenes der Hauptfigur und eine starke Verbindung zwischen den beiden hergestellt wird.

Aus dem Gesamtzusammenhang geht hervor, dass es sich hier um Jesus und das letzte Abendmahl handeln muss. Der Schlafende könnte seinen Lieblingsjünger Johannes darstellen, der seinen Kopf vertrauensvoll an Jesu Brust gelegt hat. Aber die anderen Jünger? Sie sind Symbolträger geworden, welche die an sich geschlossene Tischgemeinschaft nach außen öffnen und in einem viel größeren Bedeutungsrahmen stellen.

Der dreiblättrige Ölzweig lässt an den mit Noach geschlossene Bund denken, in dem Gott das Leben auf der Erde nicht mehr vernichten, sondern beschützen will. Das Lamm auf einem grünen Hintergrund bringt das Opfer Abrahams in Erinnerung, bei dem er seinen einzigen Sohn Gott opfern wollte. Er wurde aber vom Engel Gottes zurückgehalten und hat dann anstelle seines Sohnes einen Widder Gott als Opfer dargebracht. Im Gegensatz dazu hat Gott in seiner grenzenlosen Liebe zu uns seinen einzigen Sohn für unser Heil hingegeben. Weil er möchte, dass wir nicht an unseren Fehlern und Schwächen zugrunde gehen, sondern gerettet werden und die Freude unendlichen Lebens erfahren dürfen.

Die zwölf Jünger erleben das Jahrhunderte lang von Sehern und Propheten erwartete heilsgeschichtliche Ereignis des Neuen Bundesschlusses durch Jesus ganz unterschiedlich. Der eine scheint es zu verschlafen, die anderen staunen ungläubig. Oben links schreitet einer ins Bild hinein und steuert gerade ein rundes Brot zum Mahl bei. Ein anderer, es könnte in Anspielung an seine Fischertätigkeit und seine Kreuzigung Petrus sein, steht Kopf. Der Jünger neben ihm zeigt mit ausgestrecktem Finger auf den Kelch als wiederhole er die unfassbaren Worte Jesu: „Trinkt alle aus diesem Kelch; das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ (Mt 26,27b-28)

Die das Bild beherrschende rote Farbe muss deshalb – genauso wie sie Gottes unendliche Liebe zum Ausdruck bringt – auch für das Blut Jesu Christi stehen, das er als Unterpfand für diesen Neuen Bund vergossen hat. Die Tropfen auf Jesu Gewand könnten in diesem Zusammenhang auf den ihm bevorstehenden Leidensweg hinweisen. Sie könnten aber auch als zwölf Tränen gedeutet werden, – die zehn sichtbaren können vom Rapport her problemlos mit zwei weiteren ergänzt werden – welche die zwölf Stämme des Volkes Israel ins Bild bringen. Trauer schwingt in den Tränen mit, denn ihnen gilt der Neue Bund, doch nur wenige haben ihn angenommen.

Was beim Letzten Abendmahl geschah, stellt den Glauben der Gläubigen zu allen Zeiten auf den Prüfstand. Die Versuchung, dargestellt durch die Gestalt, die unter dem Mond von einem Harlekinarm von Jesus weggezogen wird, ist stets da, anderen Mächten zu folgen und sich in die Dunkelheit der Glaubensferne ziehen zu lassen.

Die unruhige Bildgestaltung bewegt, die vielen Andeutungen stellen mich Betrachter in Frage: Wie stehe ich zu Jesus, der sich selbst in den Tod gibt, damit wir ein Mehr an Leben haben? Kann ich glauben, was Jesus gesagt und getan hat, insbesondere mit der Einsetzung des erinnernden, vergegenwärtigenden, versöhnenden Abendmahls? In welcher Jüngergestalt finde ich mich am ehesten wieder? Kann ich sein Geschenk annehmen und in jeder Eucharistiefeier als für uns zentrales heilsgeschichtliches Ereignis dankbar feiern?

Lebensbogen

Im Zentrum dieser Bilderreihe steht offensichtlich der Mensch. Auf jeder Bildtafel ist er anders dargestellt, von anderen Farben umgeben und von anderen Symbolen begleitet. Hier wird eine Lebensgeschichte erzählt, in idealisierter Form ein Bogen über das ganze menschliche Leben gespannt: Geburt und Kindheit, Jugend, die Lebensmitte, das Alter und zuletzt das Lebensende.

Die Größe der Gestalten erzählt dabei von einem Auf- und einem Abstieg, einem Wachsen und einem Vergehen. Das Leben wird durch die Farben als ein Ganzes dargestellt, bei dessen Durchquerung alle Farben und Stimmungen des Lebens kennengelernt werden. Die Farben orientieren sich am Tages- und Jahresablauf, welche unserem Leben einen festen Rhythmus geben: Von der blauen Farbe des Morgens wird der Bogen über das warme Licht des Mittags zu den Farben der untergehenden Sonne und des dunkler werdenden Abends gespannt. Das sphärische Blau des Winters wird vom aufbrechenden Grün des Frühlings abgelöst, um im sommerlichen Gelb seinen hellsten Ausdruck zu finden und dann über das herbstliche Rot in die zurückhaltenden Farben des Jahresendes überzugehen.

Auf dem ersten Bild wird das neue Leben als Geschenk des Himmels sichtbar. Es wird von oben in diese Welt hineingegeben und ruht wie auf einem Thron in der Bildmitte, als sollte gesagt werden, dass es ein Zusammenwirken von irdischen und himmlischen Kräften für die Entstehung eines Menschenkindes braucht. Das Neugeborene ist beinahe weiß, verhüllt und in Vasenform dargestellt: Es ist noch ein unbeschriebenes Blatt, doch wurde – wie es die Sterne über ihm andeuten – unendlich viel in es hineingelegt für die Bewältigung des Lebensweges, als Wegzehrung und um damit die Mitmenschen beschenken zu können. Das in den Grund weisende Dreieck könnte für alles stehen, was im Kindesalter wachsen sollte als Grundlage für ein gelingendes Leben: Vertrauen, Verlässlichkeit, Sicherheit …

Aus dem zweiten Bild sprechen Wachstum, Aufbruch und Heiterkeit. Der jugendliche Mensch wendet sich von der Kindheit ab, er hat gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Er setzt sich kraftvoll in Bewegung, selbstbewusst mit dem Finger auf sich zeigend. Er hat das ganze Leben vor sich! Voller Tatendrang schaut er nach oben, scheint sich an Idealen und großen Vorbildern zu orientieren, um seinen eigenen Lebensweg zu finden. Das Symbol über ihm erfasst seine Situation: Das Leben steckt voller unendlicher Möglichkeiten. Und der Bogen unter seinen Füßen bringt zum Ausdruck: Was in der Kindheit grundgelegt wurde, begleitet und trägt ihn nun bei seinem Tanz ins Leben.

Im dritten Bild wird der Mensch in glutroter Farbe fest und aufrecht stehend gezeigt. Voller Energie und auf Expansion ausgerichtet steht er in der Fülle seines Lebens. Er hat seinen Weg und seine Mitte gefunden und vermag die Höhepunkte des Lebens zu erreichen, aber auch seine Tiefen auszuloten: Ein Arm weist nach oben, der andere nach unten. In der Mitte des Lebens hat er die Chance, Halt, Vorbild und Orientierung für die Menschen links und rechts von ihm zu sein, er kann führen, aber auch verführen. Gleichzeitig nimmt er den Wechsel zwischen der scheinbar unbegrenzten Jugend und den zunehmenden Begrenzungen des nahenden Alters wahr. Diese Festigkeit und Klarheit, aber auch die Begrenztheit in diesem Lebensabschnitt möchte das Quadrat über ihm symbolisch andeuten.

Das vierte Bild spricht vom Alter. Der Mensch steht da, wie in einer Form geprägt, festgelegt, ja beinahe starr. Es lässt die aufsteigende Angst des Abschieds im wieder enger werdenden Lebensraum durch hochgezogene Schultern spüren – aber hinter sich hat er den warmen Reichtum der Erfahrungen und Erlebnisse, die sich wie geologische Schichten im Laufe der Jahre abgelagert haben. Im Rot spiegelt sich die empfangene und gegebene Liebe, auf die der alternde Mensch als Kapital seines Lebens zurückblicken kann. In ihr öffnet sich ein gleißend heller Bogen, der in eine andere Wirklichkeit zu führen scheint. Das nach oben gerichtete Dreieck steht für die Umkehrung der Kräfte.

Im fünften Bild wird das Sterben und der Tod angesprochen. Der Mensch schaut auf das Leben und alle zurückbleibenden Menschen zurück. Er ist von einem Saphirblau umgeben, das bei der Betrachtung der Bilder nie aus dem Blick geraten ist und den Bogen zum ersten Bild schlägt, der Geburt. Der Kreis des irdischen Lebens hat sich geschlossen. Eine große Ruhe geht von der schwarzen und von beiden Seiten bedrängten Gestalt aus. Das saphirblaue Feld hinter ihr und das aus dem Kreis herausfließende Licht scheinen sie aus den Tiefen der Erde herauszuziehen in eine andere Wirklichkeit. Wir glauben, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern ein Übergang. Darauf weist auch die Form des umgekehrten T mit seinen aus dem Bild und ins Unendliche führenden roten Balken hin. Liebe und Unendlichkeit – unendliche Liebe – sind wir ihr nicht das ganze Leben nachgegangen, so dass wir auch im Tod auf sie als ganz andere und doch irgendwie vertraute Wirklichkeit hoffen?

Im Anfang – eine Idee

Lasierende gelbe Farbschichten vor schwarzem Hintergrund, Farbläufe und -spritzer in alle Richtungen, unzählige, über die ganze Bildfläche verteilte Farbtupfer bilden zusammen ein wildes explosives Durcheinander. Die vielen Lichtpunkte und die beiden großflächigen Lichterscheinungen lenken unseren Blick zum Himmel und entführen ihn in die unendliche Weite des Alls.

Doch da, die aufspritzende Farbe suggeriert ein aktuelles Geschehen, die beiden in allen Nuancen leuchtenden Wolken lassen an etwas unfassbar Großes denken, das gerade am Entstehen ist. Wäre da nicht eine schmale horizontale Fläche am unteren Bildrand, dem Betrachter würde vor Staunen der Boden unter den Füßen weggezogen und er verlöre das Gleichgewicht angesichts des gewaltigen Spektakels.

Diese kleine Fläche gibt Halt und lässt an eine windstille Wasseroberfläche denken, in der sich das Weltall mit seinen Sternen und Lichterscheinungen spiegelt. Könnte sie das Urwasser darstellen, von dem die Bibel in den ersten Worten erzählt, dass es am Anfang zusammen mit der Finsternis die Erde bedeckte?

Dann könnten die beiden die Dunkelheit durchbrechenden Lichtblitze so etwas wie das Aufflackern des ersten Lichtes sein, das sich mit der Zeit zum Tag entwickelt. Allein die Vorstellung ist schon umwerfend: Zuschauer bei der einzigartigen Entstehung eines Planeten zu sein, der im grenzenlosen All aus einer wunderbaren Idee heraus seinen Lauf nimmt.

So utopisch das Ganze erscheinen mag, das Gemalte könnte auch ein Bild für das sein, was sich bei der Geburt einer Idee in unserem Kopf ereignet. Entsteht sie nicht auch aus dem Nichts, leuchtet sie nicht gleichsam als Gedankenblitz in der Weite unseres Verstandes auf? Oft haben wir Schwierigkeiten, den initiativen Gedanken klar zu fassen, weil er noch zu nebulös ist. Doch das, was wir im Geiste erfassen konnten, ist elektrisierend, voll lichter Hoffnung. Denn in einem solchen Anfang steckt das Potential alles zu verändern! Denken wir nur an die zündenden Ideen in der Wirtschaft, der Politik, der Kunst oder der Philosophie.

Sind wir nicht alle in unterschiedlichster Art und Weise am Schöpfungsvorgang beteiligt? Tragen inmitten der vielen leuchtenden „Stars“ nicht auch meine Ideen die verheißungsvolle Kraft in sich, Großes zu bewirken, Leben hervorzurufen und die Welt, vielleicht nicht maßgebend, aber durch das wie Licht wirkende Denken und Handeln doch befreiend und erfreuend mitzugestalten?

Lichtblick

Umgeben von einem dunklen Rahmen, öffnet sich unserem Blick in der Bildmitte ein helles Fenster. Es scheint nicht sehr groß zu sein, denn die weiße Taube, die sich mit dem grünen Zweig im Schnabel auf dem Fenstersims niedergelassen hat, füllt fast das ganze Fenster aus.

Die dunkelblaue Farbe suggeriert umgebende Dunkelheit und Nacht. Von den fünf Menschen sind nur schattenhafte Köpfe und Silhouetten auszumachen. Die beiden Personen, die sich unter dem Fenster befinden, lassen durch die vier hellen Senkrechten und den engen Bildraum zudem an Gefangene denken, die eingesperrt und niedergedrückt sind. Seltsam, wie der Künstler ihre Augen, Nasen und Münder stilisiert mit einem Kreuz-Zeichen angedeutet hat.

Soll es ihre „Religio“, ihre Rückbindung an Gott zum Ausdruck bringen, die ihnen Zugehörigkeit und Schutz verheißt? Denken wir nur an die Riten von Taufe, Firmung, Konfirmation oder Krankensalbung … Trotzdem bleiben viele Fragen und Zweifel. Wer kann Katastrophen wie eine Sintflut, einen Tsunami und anderes mehr verstehen? Helfen kann da nur ein unsagbares Vertrauen. In diesem Vertrauen haben sie die Taube ausgesandt und, um sicher zu gehen – denn Zweifel bohren tief – eine zweite.

Nun ist sie in ihre Mitte zurückgekehrt – mit dem Zeichen des Zweiges. Die Dunkelheit hat einen Lichtblick erhalten, der sich auf den Köpfen der wartenden Menschen bereits spiegelt. Durch das Licht wird das Zeichen auf ihren Köpfen sichtbar, das in der Bibel bei Menschen verwendet wird, die aus ihrem Glauben, aus ihrer innigen Beziehung zu Gott, der Schöpfung und den Mitmenschen heraus in Zeiten der Dekadenz einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn bewahren. So heißt es von Noach: „Noach war ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen; er ging seinen Weg mit Gott.“ (Gen 6,9) Deshalb wurde er von Gott beauftragt, zur Rettung des Menschengeschlechts und der Tiere ein großes Schiff zu bauen, auf dem er mit seiner Familie und den Tieren die Zeit der Sintflut überleben konnte. Das Aquarell vermittelt den Augenblick, in dem die Taube das zweite Mal nach der Erkundung nach Land erfolgreich mit dem frischen Olivenzweig als Zeichen für das Wiederaufblühen der Natur zurückkehrte. „Jetzt wusste Noach, dass nur noch wenig Wasser auf der Erde stand.“ (Gen 8,11)

Im blauen Hintergrund könnte aufgrund dieser Begebenheit ebenfalls das alles vernichtende Wasser der Sintflut gesehen werden. Auch den Geretteten steht das Wasser bis zum Hals. Was sie allerdings über Wasser hält, ist ihre Verbundenheit mit dem Licht, das im Fenster wie ein Floß, wie eine rettende Insel in ihrer Mitte schwimmt. Ihr Vertrauen hat ihnen eine neue Zukunft, neue Aufgaben und sicher auch neue Leiden gegeben. Hoffnungsvolle Zuversicht und Liebe erfüllt und verbindet sie mit dem unbegreiflichen Gott. Und dieses gläubige Festhalten am gerechten Denken und Handeln verhindert, dass sie sich in unwürdige Machenschaften verstricken, die ihnen und anderen Unheil und Tod bringen. – Ermutigung und Lichtblick für uns!

Das besprochene Aquarell stammt aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers mit Bildern von Andreas Felger
/ Deutsche Bibelgesellschaft in Stuttgart, 1.664 Seiten, 171 ganzseitige Aquarelle und 104 teils farbige Skizzen, Format 17,3 x 24,5 cm

Seit vielen Jahrzehnten widmet Andreas Felger einen wesentlichen Teil seines künstlerischen Schaffens der Auseinandersetzung mit biblischen Texten. Seine Bilder sind Ausdruck gelebten Glaubens, wiederholter Meditation und Durchdringung. Seine Aquarelle und Skizzen sprechen eine spirituelle Sprache. Konkrete Darstellungen wechseln mit abstrakten Motiven, schaffen meditative Momente, eröffnen andere Sichtweisen und neue Zugänge zur Heiligen Schrift. Die Begegnung und der Dialog zwischen Mensch und Gott werden in seinen Bildern anschaulich und berühren die Sinne.

Ermutigung

Das Einzige, was auf dem Bild wirklich gut zu erkennen ist eine Leiter. Auf einem roten Boden stehend und an ein ebenso rotes Objekt angelehnt, ragt sie in den gelben Hintergrund hinein. Sie ist eine Leiter des Übergangs! Unten hebt sie sich durch die obere Farbe vom Hintergrund ab, oben durch die Schatten der unteren Farbe. Deutlich steht sie da und führt nach oben ins gelbe Licht, an die Grenzen des Bildes und unsichtbar darüber hinaus. Obwohl sie schattenhaft leicht im „Raum“ steht, weckt sie Vertrauen und lädt ein, ins Licht hinaufzusteigen.

Der lichte und lebendige Hintergrund verbindet die Leiter mit weiteren vertikalen Formen auf der linken Bildhälfte. Weder Farbe noch Umrisse lassen eine klare Gestalt erkennen. Am ehesten erinnern sie an eine stehende Menschengruppe. Die Farben Blau, Grün, Rot und Braun lassen an vier Personen denken, die sich dem Licht zuwenden, auf es zugehen. Vielleicht erwägen sie auch, die Leiter zu erklimmen.

Die Farbübergänge von Blau zu Grün und von Magenta zu Weinrot laufen nach oben zum Licht hinaus und bringen dadurch eine Verwandlung zum Ausdruck, die sich durch die Hinwendung zum Licht ereignet.

Von hellem Licht gerahmt, öffnet sich hinter der rot-braunen Gestalt ein abgedunkelter Durchgang. Aus der Mitte dieser Gestalten steigen Linien auf, die gleichsam einen Weg durch diesen Türrahmen hindurch zeichnen, die angedeuteten Menschen und uns alle einladend, ihm zu folgen. Doch die Linien führen nicht wirklich weit, sie scheinen vielmehr vor dieser Tür auszulaufen! Könnte dieser Durchgang vielleicht eine Versuchung darstellen, den einfachen und bequemen Weg zu wählen, anstatt das Wagnis mit der Leiter einzugehen? Wer von uns hat nicht schon die Erfahrung gemacht, in der wir die Vernunft als Beistand zu gewinnen suchten, um die Sicherheit des Bekannten dem Ungewissen vorziehen zu können?

Aber auch zur Leiter führen Linien! Sie zeichnen keinen Weg vor, betonen allerdings, dass hier eine vielversprechende Gelegenheit steht , die ins Weite, die ins Licht führt. Was oben an der Leiter folgt, vermag uns auch das Bild nicht zu sagen. Aber es ermutigt, zuversichtlich in die Ungewissheit der Zukunft zu schauen. Sie zeigt sich uns verheißungsvoll licht und sonnig. Und wenn das helle Rot als Symbol für die Liebe gedeutet werden darf, dann wird auch alles, was mit Liebe getan wird, sich in lichte Freude wandeln und vor schlichter Schönheit erstrahlend zum Himmel erhoben werden.

 

Die „Himmelsleiter“ und weitere 13 Bilder von Cornelia Patschorke sind im Buch „Befiehl du deine Wege und bleib nicht bei dir stehen“ (ISBN 978-3-937896-25-0) als spirituelle Illustrationen zu 8 bekannten Liedern des Dichters Paul Gerhardt abgebildet. Ergänzt wird das sehr schöne Geschenk- und Meditationsbuch zum 400. Geburtstag von Paul Gerhardt mit einfühlsamen Gedichten von Werner May. Preis: Euro 14,90

Prolog – Vorwort – Vorbild

Drei gleich große blaue Tafeln bilden die Grundlage für einen schöpferischen Prolog, der durch die Formen und Farben zu einem Dialog zwischen der Einzeltafel oben und den beiden Tafeln unten wird. Letztere sind nur zusammen ein Ganzes. Der goldfarbene Kreis in ihrer Mitte erscheint wie ein Abbild des blauen Kreises im oberen Quadrat, der wie ein Planet über goldenen Wolken schwebt. In seiner Mitte sind über einer sichelförmigen Aufhellung vertikale Strukturen zu erkennen, die an Adern, Wurzeln oder Bäume denken lassen. Leben? Die Andeutung bleibt geheimnisvoll. Allerdings bringt ein diese Erscheinung umschreibendes Dreieck ein Symbol ins Gespräch, das für den Gott gebraucht wird, der sich uns Menschen in drei Personen offenbart hat.

Die Doppeltafel darunter zeigt sich uns nicht weniger geheimnisvoll. Im goldenen Kreis ist ein grünblaues Quadrat mit einem dunklen Auge zu sehen, das über einem Tisch mit Flügeln zu schweben scheint. Links daneben ist schwach angedeutet ein Mensch zu erkennen. Dieser abgeschlossene Raum wird nur durch ein von oben eindringendes Licht mit seiner Umgebung verbunden, die in einem wunderbar lebendigen Blau zum einen von einer weißen und einer grünen Waagrechten, zum anderen von an Weinranken erinnernden kräftigen blauen Linien geprägt wird.

Wollen diese beiden Tafeln auf die aus Gott hervorgegangene und im Werden begriffene Schöpfung hinweisen, das Quadrat in der Mitte auf den Tempel, der Tisch mit den Flügeln auf einen Altar oder das Gestell, welches die Bundeslade mit den Zehn Geboten trug (vgl. Ex 25,10-20)? Die beiden Bildebenen wecken das Verlangen nach mehr. Was wohl hinter dem Auge verborgen ist, das wie ein Schlüsselloch ein Öffnen von Türen suggeriert? – Die Künstlerin lässt uns nicht in unseren Erwartungen sitzen und hat tatsächlich eine dritte Ebene gemalt, die sich durch Entfalten des Diptychons ergibt und den Blick auf ein faszinierend bewegtes Geschehen ermöglicht (Geöffnetes Klappbild).

Anstelle des zentralen Kreises mit dem dunklen Auge schauen wir nun eine geheimnisvolle Lichterscheinung auf einem Gefährt mit zwei Rädern. Es ist von einem angedeuteten Dreieck umgeben und scheint für den Transport vorgesehen zu sein. So wie der Kreis des Diptychons mit der oberen Einzeltafel in Verbindung stand, so lässt die Wiederholung des Dreiecks aufmerken. Das in ihm aufleuchtende Licht scheint alles Umgebende in seinen Bann zu ziehen: Ein Männergesicht beugt sich über das eigenwillige Lichtgefährt, als schaue es in der Krippe denjenigen, der das Licht der Welt ist. Rechts davon ist eine Mutter mit ihrem Kind erkennbar, darunter der Kopf eines Schafes. Daneben am oberen Bildrand Köpfe von Besuchern, die sich um das offenbarte Geschehen scharen: Hirten, die drei Weisen, gewissermaßen auch wir.

Es ist, als sei die einsame Gestalt aus dem Schatten unter dem zentralen Auge hervorgetreten und habe die Seite gewechselt, um sich der aufleuchtenden Herrlichkeit zuzuwenden. Sein Haupt ist verehrend geneigt und erinnert an den weisen Simeon, dessen Warten auf den Retter Israels mit dem Anblick Jesu ein glückliches Ende genommen hat (vgl. Lk 2,25-32).

Auf der linken Seite assoziieren die Augen und Formen Tiere, die sich wie die Menschen vor dem Licht versammeln und verneigen und den Neugeborenen als ihren Herrn ehren. Darunter ist ein Raum mit Rundbogen angedeutet. – Was für ein Gegensatz zur „Krippe“! – Ob er auf Jesu königliche Abstammung aus dem Geschlecht Davids hinweisen oder auch zur Sprache bringen will, dass die Tore zum Paradies mit Jesus wieder offen sind (ähnlich wie bei diesem Klappbild)?

Das Kunstwerk lässt vieles offen. Dennoch will es, wie sein Titel es treffend bezeichnet, Prolog sein, hinführendes, vorbereitendes „Vorwort“ für die Begegnung mit dem wirklichen Wort, dem wahren Licht, das aus dem unsichtbaren Gott hervorgegangen und unter uns Mensch geworden ist. Das Kunstwerk macht auch deutlich, dass wir für eine intensive Gottesbegegnung und -beziehung in die Tiefe gehen, gleichsam hinter die verschleiernde Oberfläche der Dinge und Handlungen schauen müssen, um ihm wirklich zu begegnen. Und es bringt durch den Lichtwagen einzigartig zum Ausdruck, dass die Erfahrung des göttlichen Lichtes von uns mitgenommen werden und zu den Mitmenschen transportiert werden soll.

Vor-Stellung

Eine in sich gekehrte Gestalt mit einem etwas hilflos wirkenden Kind begegnet uns auf diesem Bild. Die beiden wären wahrscheinlich nichts Besonderes, wenn nicht ein feurig roter Block den Hintergrund für ihre frontale Darstellung bilden würde. Eingerahmt von dunklen Seiten, erscheint er wie eine Öffnung, durch die von hinten Licht, Wärme und Kraft ins Bild strömen. Die Einfassung wie das energiegeladene Feld versprechen Halt, Verlässlichkeit, Stabilität – letzteres mit seinem leuchtenden Rot zudem glühende Liebe.

Die davor stehende Gestalt, ein geheimnisvolles, ganz in Blau gehülltes Wesen, ist von diesem lebendigen Rot umgeben und scheint in ihm Geborgenheit und rückendeckenden Halt zu finden. Nur die längliche Form, die Füße und das Gesicht weisen sie als Menschen aus, die feinen Gesichtszüge und das spitze Kinn als Frau. Ihre Augen wirken geschlossen – als verberge sie jede Spur von Individualität, als konzentriere sie sich auf ihre Bestimmung, das Kind vorzustellen und ihm Rückhalt zu bieten. Sie braucht dazu keine Geste des Haltens, sie tut es ohne Besitzanspruch, ohne Eitelkeit und ohne Sentimentalität. Sie ist einfach da, verlässlich da, als Mutter des Kindes. Und das Kind, das sie vorstellt – uns vor Augen stellt – hat den Rückhalt, denn es kann selbständig vor ihrem Schoß stehen.

Die Form des Kindes ist deutlicher gezeichnet als die der Mutter, aber dennoch reduziert auf das Allernotwendigste. Hemdchen und Füße sind in warmem Gelb gemalt, das runde Gesicht entspricht farblich dem Gesicht der Mutter. So fehlt es auch dem Kind an Individualität.

Aber was hat dieser orangefarbene Kreis um seinen kleinen Kopf zu bedeuten? Ist er eine Entsprechung zur blauen Kopfverhüllung der Mutter? Oder bringt er – farblich in der Mitte zwischen dem körpereigenen Gelb und dem feuerroten tragenden Grund liegend – vielleicht die Herkunft des Kindes zum Ausdruck, seine aus der Liebe hervorgegangene Existenz und bildet deshalb einen „Heiligenschein“? Stellt das Bild also Mutter und Kind vor dem Ausdruck einer leidenschaftlichen Liebe dar? Oder dürfen in den beiden Gestalten Maria und ihr kleiner Sohn Jesus gesehen werden, beide von Gottes unendlicher Liebe einzigartig umfangen und durchdrungen?

Das Bild lässt beide Deutungen zu, und lässt die Antwort offen …

… denn in jeder Menschengeburt geschieht etwas Wunderbares und Göttliches. Wird nicht durch jede Geburt die Zeit geheiligt und zu einer „heiligen Nacht“ oder zu einem „heiligen Tag“? Und stellt sich nicht jede Mutter in den Dienst Gottes, wenn sie eine Schwangerschaft zulässt und das „himmlische“ Geschenk annimmt, werdendes Leben in sich zu tragen und es der Welt zu gebären – wenn sie ihrem Kind liebender und zur Selbständigkeit verhelfender Rückhalt ist?

Engel

Mächtig steht er mit seinen offenen Flügeln da, der Engel, standfest wie ein Berg uns gegenüber, auch wenn keine Füße zu sehen sind. Erhöht blickt er von einem Podest oder einem Sockel und scheint uns laut eine Botschaft zu verkünden. Denn sein kleiner weißer Mund im verhältnismäßig kleinen runden Kopf ist weit geöffnet. Irritierend, dass kein Ton zu uns herüber kommt. Aber ob wir dort, wo die Töne wirklich übertragen werden, seine Stimme im Lärm des Alltags, im Stress unserer vielen Aktivitäten überhaupt hören würden?

Vielleicht muss er sich gerade deswegen so mächtig vor uns aufbauen, damit wir ihn nicht übersehen können und gewissermaßen gegen ihn anrennen. So transparent die Farbe seiner Flügel leuchtet und ihn als geistiges Wesen auszeichnet, die Farbe seines Mantels ist dick wie ein Panzer aufgetragen: Dieser Engel kann nicht umgerannt werden! Wie von den Spuren der Auseinandersetzung hat die getrocknete Farbe in der Brustgegend Risse hinterlassen, doch der Engel bleibt.

Deutlich hebt sich seine Gestalt vom tiefblauen Hintergrund ab. Er kommt in der Nacht, ist Sprecher des Verborgenen, Verkünder des Unvorstellbaren: Gott wird als Mensch mit uns sein!

Was ihn dazu berechtigt? Der Hauch eines Heiligenscheins weist auf seine himmlische Herkunft hin, der Heroldsstab in Form einer feurig leuchtenden Blume zeichnet ihn als Boten einer anderen Wirklichkeit aus. Außerdem leuchtet an verschiedenen Stellen helles weißes Licht durch, das den Eindruck erweckt, dass der Engel selbst eine Lichtgestalt ist, der seine wahre Identität unter einem Gewand verhüllt, um uns nicht zu blenden.

Seine geheimnisvolle Erscheinung will uns behutsam auf die Begegnung mit Gott einstimmen, auf die Begegnung mit seinem Sohn. Und es ist, als würde er uns leise, aber eindringlich bestimmt sagen: Lauf nicht weiter, halte an. Werde still … und höre zu! Das Feuer dieser in der Blume symbolisierten Botschaft will auch in Dir brennen. Lass Dich entzünden … damit auch Du Licht wirst für die Ankunft des wahren Lichtes.

Göttliche Erscheinung

Schauen
Es gibt Bilder, die verleiten zum Schauen. Sie haben eine Ausstrahlung, die berührt. Sie haben eine Anziehungskraft, die den Besucher zum Betrachter werden lässt, der in der Begegnung mit dem Unbekannten versucht, seine verborgenen Tiefen auszuloten. Was fasziniert mich? Was spricht mich an? Wodurch entsteht die Spannung? – Annäherung findet statt. Denn oft sehen wir, ohne zu erkennen, oft nehmen wir etwas wahr, ohne es zu verstehen.

Im Bild von Helene B. Grossmann begegnen uns abstrakte Formen. Es sind keine Linien zu entdecken, die abgrenzen oder an greifbare Gegenstände denken lassen. Im Gegenteil, alle Farbflächen haben weiche, auslaufende Konturen. Sie erinnern an Wolkenbilder. Ist es das, was fasziniert? Diese schwebende Leichtigkeit der Komposition, die Blickführung zur geheimnisvollen Lichterscheinung in der Mitte?

Ordnen
Das Bild lässt einen symmetrischen Bildaufbau erkennen. Um die weiße Mitte gruppieren sich farbige Wolken, die nach unten immer dunkler werden. Am unteren Bildrand formen sie eine schwarz-blaue Erhebung, welche die Basis des Bildes und einen harten Kontrast zur Bildmitte bildet. Nach oben ist das Bild offen. Der Gegensatz zwischen den geraden Bildkanten und den sich zur Bildmitte hin auflösenden Formen trägt wesentlich dazu bei, dass der Blick zur Mitte geführt wird und dort verweilt. Ein Dutzend weißer Wolkenfetzen im Vordergrund verstärken den Eindruck einer himmlischen Vision.

Dennoch ist die irdische Welt nicht abwesend. Sie spiegelt sich in den Farben und der Komposition. Ocker und Braun verweisen auf Sand und Erde, das Blau unterhalb der Lichterscheinung auf das Meer und seine dunklen Tiefen, das obere Blau auf den Himmel und seine Weite. Mitten drin dieses weiße, geheimnisvolle Licht, das nach innen immer intensiver wird. In seiner äußeren Form ist es als Oval erkennbar, in seinem Wesen spricht es vom Unfassbaren.

Visionen von Gott
Das Bild und das Licht als eine Vision von Gott zu deuten, liegt nahe. Eines Gottes, „der in unzugänglichem Licht wohnt“ (Tim 6,16). Der nicht etwa außerhalb seiner Schöpfung gegenwärtig ist, wie man es dem Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4a) entnehmen könnte, sondern als Ursprung, Erhalter und Endziel in seiner Mitte lebt, wie es Paulus im Brief an die Römer (11,36) formuliert: „Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung.“

Dieser Ansatz eröffnet vielfältige Zugänge (die hier leider nur angedeutet werden können) zu Situationen, in denen Gott den Menschen erschienen ist. In geschichtlicher Folge ermöglicht das Bild als erstes einen Zugang zum Exodus des Volkes Israel. Das helle Licht kann als Wolkensäule gedeutet werden, die den Israeliten beim Auszug aus Ägypten vorausging (Ex 13,21f) und sie sicher durch das Rote Meer führte (14,15-31). Durch diese Tat erfuhr Israel seinen Gott als nahen Gott und starken Retter (15,2), der kraftvoll in der Mitte seines Volkes gegenwärtig war (vgl. Jes 12,6).

Visionen von Jesus
Einen weiteren Ansatz bildet die Verklärung Jesu. „Und während er betete, veränderte sich das Aussehen seines Gesichtes und sein Gewand wurde leuchtend weiß. Und plötzlich redeten zwei Männer mit ihm. Es waren Mose und Elija; sie erschienen in strahlendem Licht und sprachen von seinem Ende, das sich in Jerusalem erfüllen sollte.“ (Lk 9,29-31) Ein erster Blick vermittelt vielleicht den Eindruck einer abstrakten, symbolischen Darstellung dieser Szene. Weitere Blicke lassen aber so viele Andeutungen erkennen, dass einzelne Elemente etwas Figürliches erhalten. Hat nicht die blau-schwarzen Basis eine bergähnliche Form? Können darin die von der Oberkante ausgehenden Aufhellungen (oder die darüber auf der Spitze stehende weiße Dreiecksform) nicht als gekreuzte Füße gesehen werden, welche den verklärten Leib tragen? Und bilden die von der Mitte aus seitlich abfallenden „Linien“ im oberen Abschluss der Erscheinung nicht so etwas wie die Schulterpartie und die Arme eines Menschen? Im Zenit dieser beiden „Linien“ können aus einem Wolkenfetzen zudem die Gesichtszüge eines nach rechts geneigten menschlichen Kopfes herausgelesen werden. Nase und Stirn sind hell, während die Haare, die Augenhöhlen, die Wangen und die Mundpartie im Dunkeln liegen. Dadurch ist eine menschliche Gestalt, die ganz in Licht getaucht ist, mehr wahrnehmbar als sichtbar angedeutet. – Die singuläre Gestalt lässt an der Richtigkeit der Annäherung zweifeln. Aber wenn in den beiden obersten Wolken links und rechts neben dem „Kopf“ genauso geheimnisvolle, büstenähnliche Erscheinungen von Mose und Elija gesehen werden können wie bei Jesus in der Mitte, so hätte diese Ansicht durchaus ihre Gültigkeit.

Die gleichsam auf den Wolken schwebende Gestalt lässt weiter an die Vision des Menschensohnes im Buch Daniel (7,13) denken, die von Jesus in seinen Reden vom Ende der Welt aufgegriffen wird: „… Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen und sie werden den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ (Mt 24,30; vgl. 26,64) Schließlich taucht die Vision in der Offenbarung (1,7-8; 14,14-20) nochmals in der Ankündigung der Endzeit und des damit verbundenen Gerichts auf.

Zu guter Letzt vermag die lichte Erscheinung neben dem Kommen des Menschensohnes auch Jesu Heimgang zum Vater anzusprechen. In der angedeuteten Gestalt kann Jesus gesehen werden, der sich nach seiner Auferstehung ein letztes Mal den Jüngern gezeigt hatte. Noch während er sie segnete, wurde er „zum Himmel emporgehoben“ (Lk 24,36-53). In Anlehnung an die vielen von Offb 12,1 beeinflussten Mariendarstellungen ist die göttliche Erscheinung von einem Kranz heller Wolken umgeben. Sie funkeln nicht als Sterne, aber sie bilden als diskrete Lichterkette eine Art Heiligenschein, der die Herrlichkeit Gottes und seines aus Ihm hervorgegangenen und zu Ihm zurückgekehrten Sohnes hervorhebt.

Dieser Bild-Impuls wurde in der Ausgabe 3/2006 der Zeitschrift „das münster“, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft erstveröffentlicht.

Erinnerung

Die aus neun Einzeltafeln bestehende Komposition entführt den Betrachter in eine fast ungegenständliche Welt, die zudem zum größten Teil verhüllt erscheint, denn über einem schmalen Saum erhebt sich eine tuchähnliche blaue Fläche. Sie bedeckt gut zwei Drittel des Bildes. Eine starke grafische Strukturierung verleiht ihr ein textiles Aussehen. Dazu trägt auch der obere Abschluss bei, bei dem das Gewebe lockerer zu werden scheint, ausfranst, einen Übergang zum Dahinterliegenden bildet.

Dieser oberste Bereich wird einerseits durch die braune Grundfarbe geprägt, andererseits durch das Licht, welches eine landschaftliche Tiefe erzeugt. Auf den Seitentafeln scheint das Blau der Hauptfläche turmartig und wie ein Dunst-Schleier in die Höhe zu steigen.

Die farbliche Einheit der horizontalen Elemente am oberen und unteren Bildrand lässt das blaue Mittelfeld plastisch hervortreten. In seiner Mitte wird durch die lineare Gestaltung ein weiterer Gegenstand in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt. Die verschiedenen weißen Linien lassen in ihm Fäden sehen, ein Fadenknäuel, das zum Teil abgewickelt auf dem gleichfarbigen Tuch liegt. Eine geheimnisvolle Komposition!

Durch die horizontale wie vertikale Dreiteilung wohnt dem Werk etwas Sakrales inne. Das Tuchhafte mag zudem an die Darstellungen der Schweißtücher der Veronika erinnern, an die Abbildungen des Antlitzes Christi auf seinem Leidensweg. Doch anstelle des Gesichtes ist nur eine „Stellvertretung“ zu sehen, an Haare erinnernde Fäden, die bedroht sind, vom Wind verweht zu werden und die letzten Spuren verschwinden zu lassen.

Der Künstler thematisiert auf diese Weise unsere Erinnerungen. Etwas mehr oder weniger weit in der Zeit Zurückliegendes wird aus der Dunkelheit der Vergangenheit hervorgeholt und wieder neu ins Licht und in den Mittelpunkt gerückt. Auf dem Grundgewebe der Geschichte wird dann das Gefundene ausgebreitet und betrachtet. Wie die einzelnen Bildtafeln sich durch ihre Bearbeitung als zusammengehörend und zusammenhängend erweisen, so müssen sich auch die einzelnen Erinnerungen als Bestandteile eines zusammenhängenden Ganzen beweisen.

Und ist es nicht die Erinnerung, welche in unserem Bewusstsein einzelne Erlebnisse miteinander verbindet und ihnen dadurch einem roten Faden gleich einen Sinn zu geben vermag? Auch unser christlicher Glaube hätte ohne die Erinnerung an die Heilstaten Gottes kaum die alles verändernde Kraft. Nicht umsonst rufen die geistlichen Führer unermüdlich zur Erinnerung daran auf. Stellvertretend für viele Textzeugnisse sollen hier vier starke Texte zur Sprache kommen:

Als erstes das grundlegende „Schema Israel“, weil in ihm viele Erinnerungsstützen formuliert werden (Hervorhebung durch den Autor): „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben. Und wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land führt, von dem du weißt: er hat deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es dir zu geben – große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, mit Gütern gefüllte Häuser, die du nicht gefüllt hast, in den Felsen gehauene Zisternen, die du nicht gehauen hast, Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast -, wenn du dann isst und satt wirst: nimm dich in Acht, dass du nicht den Herrn vergisst, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, geführt hat.“ (Dt 6,4-12)

In den Psalmen wird die erinnernde Funktion des Gebetes thematisiert. „Denkt an die Wunder, die er getan hat, an seine Zeichen und die Beschlüsse aus seinem Mund. Bedenkt es, ihr Nachkommen seines Knechtes Abraham, ihr Kinder Jakobs, die er erwählt hat. Er, der Herr, ist unser Gott. Seine Herrschaft umgreift die Erde. Ewig denkt er an seinen Bund, an das Wort, das er gegeben hat für tausend Geschlechter, an den Bund, den er mit Abraham geschlossen, an den Eid, den er Isaak geschworen hat.“ (Ps 105,5-9) Der Mensch soll an Gott denken wie Gott sich an den Menschen erinnert und ihm in Güte und Treue zugeneigt ist (vgl. auch Ps 98,3).

Im neuen Testament stehen Jesu Worte beim letzten Abendmahl an zentraler Stelle: “Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ (Lk 22,19-20)

Damit eine Erinnerung lebendig bleibt, braucht sie die stetige Wiederholung. Dazu brauchen wir Menschen Erinnerungsstützen in Form von Gegenständen, Bildern, Fotos, Erzählungen, usw. In Glaubenssachen haben wir deshalb eine innere Hilfe erhalten: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ (Joh 14,26)

In diesem Sinne ist auch das Bild von Harald Gnade Anstoß zu einer geistigen Reise in die vom Leben gewebte Vergangenheit, Anknüpfungspunkt für ungezählte Erinnerungen, die das Leben einzigartig reich und schön machen.

Das Bild ist im Buch „MIMESIS“ abgebildet, das 2006 (Verlag ars momentum, ISBN 3-938193-27-1, Euro 19,80) anlässlich der Ausstellung „… besuche mich Zeit …“ in der St. Matthäus – Kirche im Kulturforum, Berlin-Tiergarten erschienen ist.

Lebenspartner

Leicht wie ein von der Sonne durchleuchtetes Herbstblatt breiten sich die Farben über das Papier aus. Die über das ganze Blatt gehende gelbe Blatt-, Kelch- oder Ballonform ist in einer kleinen schwarzen Markierung am unteren Bildrand verankert. Von hier aus steigt die äußere Form auf der rechten Seite in einem klaren Halbrund nach oben, während die Umrisse auf der linken Seite verschwommen sind. Die Farben scheinen aus der Blattform auszulaufen, Offenheit, Bewegung und Kommunikation signalisierend.

Im oberen Bilddrittel sind lineare Strukturen auszumachen. In ihrer horizontalen Ausrichtung wie in ihrer auffallenden diagonalen Parallelität erinnern die Linien an Äste, die von einem stürmischen Wind in die gleiche Richtung gedrückt werden. Mit einem dieser Äste scheint das „Blatt“ – es könnte aber auch eine Frucht oder etwas ganz anderes sein – fest verbunden zu sein. Goldgelb leuchtet es zwischen vereinzelten dunklen Stellen, auf der einen Seite Reife und Schönheit vermittelnd, auf der anderen Seite auf die Vergänglichkeit alles Geschaffenen hinweisend. Die in das Bild eingemalte Stimmung bringt klar zum Ausdruck, dass diese beiden Komponenten nirgends so nahe beieinander zu finden sind wie im Herbst.

Wie ein Fremdkörper gegenüber diesen Impressionen hebt sich auf der linken Bildseite ein großes rotbraunes L von der übrigen Bildlandschaft ab. Mit seinen harten Konturen und seiner deckenden braunen Farbe springt es förmlich ins Auge. Im Gegensatz zu den fließenden Farben des Hintergrundes muss der Buchstabe aus einer monochromen Fläche ausgerissen und aufgeklebt worden sein. Erratisch steht das geometrische Zeichen da, nur begleitet und gleichsam getragen von einer mysteriösen schwarzen Schriftspur, die in ihrer Unverständlichkeit ebenso fremd anmutet.

Was das L wohl zu bedeuten hat? – Schwer zu sagen! – Es ist zuerst einmal ein isoliertes Zeichen, das in diesem fremden Kontext keinen Sinn ergibt. Es ist ein menschliches Zeichen, ein Ausdruck menschlicher Intelligenz. Allerdings scheint die Künstlerin den Bildtitel „EL“ vom gesprochenen Buchstaben abgeleitet zu haben, wodurch das L als Symbol für Gott gedeutet werden könnte (vgl. Gen 17,1: El Schaddai = Gott, der Allmächtige). – Geheimnisvolle Präsenz dessen, der alles geschaffen hat? Inmitten des schöpferischen Werdens und Vergehens der ganz Andere in abstrakter Fremdheit? – Wieso nicht! Der Buchstabe L könnte auch ein dezenter Hinweis auf Leben, Licht und Liebe sein! Drei göttliche Eigenschaften par excellence, die der Psalmist immer wieder wie im Psalm 36, Vers 6 und 10 besingt: „Herr, deine Güte [= Liebe] reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue [= Liebe] reicht, so weit die Wolken ziehen. … Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht.“ (vgl. auch 1. Joh 4,16b: „Gott ist die Liebe …“)

So vermag das Bild im ungleichen Gegenüber von Buchstabe und fließenden Farben vom unaufhörlichen Dialog zwischen Gott und seiner Schöpfung zu erzählen. Durch Sein gesprochenes Wort wurde sie ins Leben gerufen und in Seiner unendlichen Liebe schenkt Er ihr durch alle blühenden und verwelkenden Lebensphasen hindurch eine unvergleichliche Schönheit und Würde.

Warten auf Gott

Aus der Ferne erkennt man auf den ersten Blick nicht viel auf diesem dreiteiligen Bild. Feine horizontale Linien durchziehen fast die ganze Bildfläche des Triptychons. Nur oben ist ein schmaler Streifen leer geblieben. Durch diesen hohen „Horizont“ entsteht der Eindruck einer graphisch vereinfachten Landschaft, welche an die Weite des Meeres oder einer Ebene erinnert.

Minimale Unterschiede in Abstand, Linienführung und Farbe lassen aufmerken. Bereits aus dem Gesamteindruck ist die freie Hand der Künstlerin herauszuspüren, die bewusst ohne technische Hilfsmittel gearbeitet hat. Die hinterlassenen Linien haben auf der Leinwand eine sehr menschliche, von Unregelmäßigkeiten geprägte Spur hinterlassen.

Aus der Nähe offenbaren sich die horizontalen Linien als eine Aneinanderreihung von unermesslich vielen Schriftzeichen, die ohne Abstand, Punkt oder Komma aneinandergefügt worden sind. Um was für eine Sprache es sich wohl handelt? Was wurde hier niedergeschrieben und mit einem Schriftbild dokumentiert?

Auf den ersten Blick erhalten wir durch die gleiche Größe der Buchstaben und der vielen senkrechten Striche den Eindruck einer alten, uns fremden Schrift. Mit der Zeit können einzelne Buchstaben wie E, U, T und W entziffert werden, doch ein Wort- oder gar Satzzusammenhang versperrt sich dem Eiligen. Dieser Text scheint keinen Anfang und kein Ende zu haben und lässt uns als Betrachter kaum einen Zugang offen.

Dadurch passiert etwas mit uns. Die scheinbar unverständlichen Zeichen verlangsamen unser Lesetempo und machen uns zu Suchenden. Da sich der Schriftsinn nicht gleich erschließt, wird unsere Geduld auf die Probe gestellt. Dieses Ausharren macht uns zu Wartenden.

Dabei entdecken wir vielleicht, dass auch das Niederschreiben dieses Textes viel Zeit gebraucht hat. Die leere Fläche war noch zeitlos. Indem die Künstlerin aber in diese Fläche eine Abfolge von geordneten Zeichen setzte, hat sie ihr gleichzeitig die dafür notwendige Zeit eingeschrieben: Die verschiedenen Tageszeiten, die Zahl der dafür gebrauchten Stunden und Tage.

So nimmt uns die Künstlerin in eine ausdauernde Meditation des sechsten Verses aus dem Psalm 130 hinein: „Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen“.

Das Verweilen vor dem Triptychon beruhigt und lässt zudem still werden. Wer wartet, ist in Erwartung. Und wer jemanden erwartet, ist ein bis an die Wahrnehmungsgrenzen Horchender und Schauender, damit er kein Zeichen seiner Ankunft verpasst. Um so mehr, wenn es sich beim Kommenden um Gott handelt, von dem es im Psalm (V. 7b-8) weiter heißt: „Denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle. Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden.“

Und die Vergebung durch Gott wird, wie es die Größe des Triptychons und der weite Horizont andeuten, unermesslich sein. „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue, soweit die Wolken ziehen“, betet der Psalmist an einer anderen Stelle (Ps 36,6). – Wer möchte das verpassen?