Verbindungsstark

Dieses Kreuz überrascht und irritiert mit seinen schwarzen Kabelsträngen. Verschiedene Strom- und Informationskabel sind mit Kabelbindern zusammengebunden. Die freigelegten Kabelenden spreizen sich wie vor Schreck erstarrte Finger von jemandem, der einen Stromstoß erleidet und dem die Haare zu Berge stehen. Todesnot kommt zum Ausdruck, obwohl kein Mensch zu sehen ist. Das durch Kabel geformte Kreuz mag befremden. Was hat das Kreuz mit diesen Kabeln und was haben die Kabel mit dem Kreuz zu tun? Wie können sie in Verbindung zueinander gebracht werden? Was vermag es über Jesus auszusagen?

Grundsätzlich können die Kabel für alle unsere Beziehungen und Verbindungen stehen, sei es mit Menschen, Tieren, der Natur oder Gegenständen. Da erzählen sie von der Energie, die wir in etwas hineinstecken, von elektrisierenden Begegnungen, bei denen Funken überspringen oder von spannenden Beziehungen. Auf der anderen Seite begegnen wir vielen Menschen, die durch die vielen Anforderungen oder die fehlende Möglichkeit, mal abzuschalten, permanent unter Strom stehen. Die ständige Belastung kann zu einer Überlastung führen, bei der die Leitungen irgendwann schmelzen und durchbrennen. Ein Kurzschluss ereignet sich, die Sicherungen brennen durch, Menschen erleiden einen Burnout und können nicht mehr weiterarbeiten.

Strom- und EDV-Kabel stehen für die Übermittlung von Energie und Informationen. Ohne sie können wir uns unser Leben kaum mehr vorstellen, denn sie sind zum Standard unserer Informationsgesellschaft geworden. Besonders der elektrische Strom bildet die Grundlage für den Austausch vieler Informationen, die wir für unser Leben und Arbeiten brauchen. Ohne ihn würden große Teile unserer Infrastruktur zusammenbrechen und das heutige Leben über kurz oder lang aufhören zu existieren. Das Kreuz wird aus dieser Sicht zum Sinnbild einer aus unzähligen Kreuzungspunkten und Schnittstellen vernetzten Informationsgesellschaft, die von dieser Vernetzung abhängig ist. Das Kreuz regt an, unsere kulturellen und technischen, unsere gesellschaftlichen als auch religiösen Abhängigkeiten zu hinterfragen, damit sie sich nicht zwischen Gott und uns stellen.

Die gekreuzten Kabel deuten an, dass die Energie und die Informationen in alle Richtungen fließen. In der Kreuzform sind sie sichtbarer Ausdruck für die Vermittlungs- und Verbindungsfunktion von Jesus. Er hat Gottes Wort zu den Menschen gebracht, der Menschen Nöte gesehen und gehört und sie dann verstärkt an den Vater weitergeleitet. Jesus hat nicht nur Gott und die Menschen durch seinen Tod miteinander versöhnt, er hat mit seinen ethischen Grundsätzen auch die Voraussetzungen für einen barmherzigeren und gerechteren Umgang unter uns Menschen und mit der ganzen Schöpfung geschaffen.

Die offenen Kabelenden signalisieren vielfältige Anschluss- und Kontaktbereitschaft. Mit isolierten Enden wäre das nicht möglich. Doch so bildet jeder Kreuzesarm ein breit gefächertes Angebot an Anknüpfungspunkten, als sollten damit möglichst viele angesprochen werden können. Und gerade weil jeglicher Schutz weg ist und die Verletzungsgefahr so am größten ist, kann, auf der Basis von Vertrauen und Hoffnung auf das Gute, Berührung mit dem Wesentlichen stattfinden, kann Energie von Herz zu Herz fließen.

Kreuz-Zeichen

Das filigran gestaltete Kreuz von Tobias Eder beeindruckt durch seine starke Reduktion auf eine einzige durchgehende, schmale Linie. Sie ist in ihrer spitz gewinkelten Form der Gestik einer Bekreuzigung nachempfunden: Die Bewegung beginnt von oben nach unten, führt wieder hinauf, um dann nach links abzuknicken und schließlich nach rechts zu führen. Dieses performative Geschehen, das vor allem Anfang und Ende eines katholischen Gottesdienstes rahmt, wird in der fixierten und abstrakten Form des Vortragekreuzes zu einem liturgischen Begleitphänomen während des Gottesdienstes. So kann das Vortragekreuz die Gläubigen an die aktive Teilnahme am Gottesdienstgeschehen erinnern. Gleichzeitig kann diese zur festen Form erstarrte Bewegung verstanden werden als Illustration eines Gedankens des Apostels Paulus, der den Weg Christi beschreibt als Abstieg zur Erde und Aufstieg in den Himmel und deshalb zur umfassenden Verehrung einlädt (vgl. Phil 2,5-11). Das Material, hochpolierte Bronze, steht für Glanz und Herrlichkeit und weckt die Assoziation an Erhabenheit. Dadurch lässt sich das Kreuz als Symbol für die Überwindung des Todes durch die Auferstehung Christi und als Zeichen seiner Wiederkunft interpretieren.

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Der Text stammt mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem Katalog “ars liturgica – Gestaltung eines Vortragekreuzes” (S. 46). Mit dieser Arbeit gewann Tobias Eder 2016 den 3. Preis im Wettbewerb. Der Katalog kann HIER beim Liturgischen Institut in Trier zum Preis von 8 Euro zzgl. Versandkosten bezogen werden.

Glaubenszeugnis

Das Bildgeschehen gruppiert sich um eine breite rötliche Senkrechte, auf der im oberen Drittel der Gekreuzigte schwebt. Er ist vom Kreuzbalken abgenommen und wird optisch nur von diesem starken Band gehalten, das für die Liebe Gottes steht, die bis in die menschlichen Abgründe geht und dort mit den Menschen leidet (violette Verfärbung am unteren Ende). Dadurch und in Verbindung mit dem Holz des Corpus Christi ist das Leiden durchaus gegenwärtig. Viel stärker jedoch wirken durch die Abwesenheit des Kreuzes, die Freistellung der Hände und die erhöhte Position der Skulptur die Auferstehung und die Himmelfahrt Jesu auf den Betrachter.

Im gelben Licht wird seine Himmelfahrt von Engeln begleitet. Sie schweben auf der intensiv-roten Linie, die von ganz unten in die Höhe führt und durch ihr Pendant diagonal gegenüber (links neben Jesus) auch mit Gott Vater in Verbindung gebracht werden darf, der seinen Sohn von den Toten auferweckt und zu sich geholt hat. Die Gestalt der gelben Fläche lässt zudem an einen Baum, durch Jesus an einen goldenen Lebensbaum denken oder auch an einen Kelch, in dem sein Blut aufgefangen und zu seinem Gedächtnis und zur Vergebung der Sünden zum Trinken gegeben wird.

Von Jesus, der seinen Kopf den Engeln zuneigt, geht die Bildbewegung über die Engel auf der Zwischenhöhe auf die andere Seite hinunter zu den Menschen. Das waagrechte Element dieser Figurengruppe bildet das Gegengewicht zum Geschehen auf der anderen Seite. In Blau gemalt bedeutet, in der Farbe des Glaubens dargestellt zu sein, des Wassers, in dem sie getauft wurden, dem Himmel, in den Jesus sie aufzunehmen versprochen hat. Sie sind als Pilgernde unterwegs, als Menschen auf dem Weg zu Gott, bereit in seinen Strahl der Liebe einzutreten, von seiner Barmherzigkeit umarmt und wie Christus erhoben zu werden. Spiegelbild der im Kirchenraum versammelten Gemeinde.

Dieses Bildgeschehen richtet auf und ermutigt. Es gibt die Bewegung der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu wieder, in der er ganz der den Menschen Zugewandte bleibt und ihre Sehnsüchte aufnimmt. Es ist kein endgültiges Entschwinden oder sich Verabschieden, sondern die Wandlung seiner Gegenwart durch die Kraft des Heiligen Geistes. Dieser ist im Bild nicht explizit zu sehen, aber in der von Jesus ausgehenden Abwärtsbewegung, welche in die vertikale Menschengruppe einmündet, spürbar am wirken.

Im Weiteren macht die Bildkomposition deutlich, dass Gott in seiner unverbrüchlichen Liebe hinter seinem Sohn steht … und auch hinter allen Menschen, die an ihn glauben (Gesamtansicht).

Zahlreiche weitere Arbeiten in Kirchen finden sich im Buch Zeitgemäße Wand- und Deckenfassungen für Sakralbauten, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg, 2015, 304 Stein, > 350 Abb., 19,80 Euro.

Auferweckt von den Toten

Jesus wird hier in der Haltung des Gekreuzigten wiedergegeben. Doch das Kreuz kann ihn nicht mehr halten, die Nacht umgibt ihn nicht mehr. Stattdessen schwebt Jesus als Befreiter im Raum. Der Schatten hinter ihm deutet auf ein Licht hin, das ihn beleuchtet. Ob es die Morgensonne war, die ihn geweckt hat? Geweckt aus dem Schlaf der Toten? Seine ausgestreckten Arme wirken wie das erste Strecken nach dem Schlaf, wie das freudige Erspüren des neuen Tages, einer neuen Lebenswirklichkeit.

Fremd und befremdend sind allerdings die roten Plastikteile zu seinen Füßen. Sie stehen in auffälligem Gegensatz zur natürlichen Wiedergabe des auferstehenden Gekreuzigten und erinnern in ihrer vierteiligen Struktur an Raketenleitwerke. Ihrer Größe nach stammen sie jedoch von Dartpfeilen. Sie dienen dort als Flights der Flugstabilisierung. Hier werden sie ohne die Pfeilspitzen zum Tragwerk Jesu und scheinen ihm Auftrieb zu geben bei seiner Himmelfahrt.

Dabei wird Jesus selber zum Pfeil. Die Darstellung lässt das Ziel offen. Es mag der Himmel sein, in den er aufgenommen wurde. Aber die Auferstehungserzählungen lehren uns, dass sein Ziel unsere Herzen sind – wenn wir es zulassen können. Sagten nicht die Jünger von Emmaus nach der Begegnung mit dem Auferstandenen zueinander: „Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?“ (Lk 24,32)

Zugegeben, die Darstellung ist gewöhnungsbedürftig. Auch stellt sie eine Verkürzung der Ereignisse zwischen dem Tod und der Auferstehung dar. Denn die Verwendung der Figur des Gekreuzigten suggeriert, dass er möglicherweise direkt vom Kreuz weg auferstanden ist und nicht drei Tage Grabesruhe dazwischen lagen. Durch die Verwendung der gleichen Figur wird der Kreuzabnahme, Jesu Grablegung, seinem Hinabsteigen in das Reich der Toten und seiner Erlösung der irdisch-zeitliche Raum der Veränderung oder Verwandlung genommen, die traditionell in die Darstellung des Auferstandenen einfließen.

Andererseits bringt die Plastik die Kernaussagen von Ostern auf den Punkt: „Denn unser Tod ist durch seinen Tod überwunden, in seiner Auferstehung das Leben für alle erstanden“, betet die katholische Kirche in der zweiten Präfation für die Osterzeit. – Wie wir die Sache auch drehen und wenden, wir sind seine Zielscheibe!

Ein Lichtspalt Hoffnung

Inmitten der Dunkelheit strahlt ein Licht auf. Im Zentrum werden ein Neugeborenes und seine Mutter sichtbar, nach unten hin auch viele Schaulustige.

Ein kraftvoller Lichtstrahl hat dieses wunderbare Aufleuchten bewirkt. Von oben nach unten lässt er das gelbe Licht, welches das rote Rechteck umgibt – es mag ein Symbol für die Erde sein – in die Mitte eines dunklen und wirren Geschehens hineinfließen. Das Durcheinander mutet nach Zerstörung und Trümmern an, eine liegende Person ist zu sehen, ein Verletzter vielleicht. Ein schwarzes Kreuz ist neben der gelben Frau und ihrem Kind aufgerichtet und dem Geschehen zugewandt. Mit seinen Armen strahlt es Erbarmen aus, Zuwendung und Trost. Es identifiziert den Neugeborenen als Gottes Sohn, der sein Leben für uns Menschen hingegeben hat. Es bringt das Heil zum Ausdruck, das Jesus in und mit seinem Leben bewirkt hat.

So ist Jesus im Gegensatz zum schwarzen Kreuz als hellster Punkt im Bild weiß dargestellt. Wie das Innere einer Flamme erleuchtet er sein Umfeld mit warmem Licht. In die chaotisch-laute Umgebung bringt er ordnende Ruhe hinein, in der Bedrängnis werden er und seine Mutter zu einem Freiraum. Die Menschen strömen zu ihm und wollen ihn sehen. Ihn, der sie aus dem „Schatten des Todes“ herausholt, Ihn, der sie mit seinem Licht erfüllt und dadurch ihre Persönlichkeit zum Vorschein bringt und aufleuchten lässt, wie es die Künstlerin durch die unterschiedlichen Farben der Gestalten andeutet (Detailbild).

Gott wird in der Dunkelheit und in den Wirren unserer Welt Mensch, damit alle Menschen von seinem Licht erleuchtet und durchdrungen zu ihrem wahren Menschsein finden. In dem Sinne kann das rote Rechteck auch als Symbol für das menschliche Herz gesehen werden. Denn Gottes Gnade durchdringt wie ein Lichtstrahl alle zerstrittenen und leidenden Herzen, er dringt tief in ihre blutende Mitte, um zu heilen und zu erlösen und letztlich zum erfüllten Leben zu führen.

Ohne die vielfältigen Geschehnisse unserer Zeit zu verdrängen oder zu verharmlosen, hat die Künstlerin uns ein Hoffnungsbild gemalt. Sie bringt die Gewissheit des Paulus malerisch zum Ausdruck: Nichts kann uns von der Liebe Gottes trennen, die er uns in Jesus Christus schenkt. Weder „Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, noch Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert“. „Wenn Gott für uns ist, wer ist dann gegen uns?“ (vgl. Röm 8,31ff)

Der Lichterglanz von Weihnachten möchte die Kraft des göttlichen Lichtes spüren lassen. Er möchte ermutigen, dem neuen Leben zu vertrauen, das als Licht in die Krippe unserer Herzen gelegt wurde. Er möchte ermutigen, dem Licht zu folgen, welches das Dunkel aufzubrechen und am Ende zu besiegen vermag. Der Lichtspalt Hoffnung ist der Anfang – alles in seinem herrlichen Licht befreit zu sehen, und die Vollendung, da er die Schatten des Todes überwindet.

ein Spalt
in der Wand des unendlichen Alls
ein Lichtspalt
hinein in die finstern Verliese der Welt

Hoffnungsspalt
oder Illusion

geträumtes Erwachen
oder erwachtes Leben

schnelles Aufflammen
ein kurzer Augenblick
zur Zeit des Kaisers Augustus

nein heute

aufstrahlendes Licht aus der Höhe
um allen zu leuchten
die in Finsternis sitzen
und im Schatten des Todes

ein Hoffnungsstrahl

(Peter Stengele)

Kreuzauflegung

Glühende gelb-rote Farben füllen das Bild aus. Als einzige konkrete Form erhebt sich ein Tau-Kreuz in die Höhe. Seine Flächen heben sich aufgehellt – unten schwach, oben stärker – vom abstrakten Hintergrund ab. Wie ein Nagel senkt es sich in den gelben Bereich ein und wird dort gleichsam eins mit der Andeutung eines Menschen, dessen nach links gewendetes Gesicht nach und nach zu erkennen ist.

Gebückt und in sich gekehrt scheint er vorwärts zu schreiten, in sich eine glühende Energie tragend. Sie geht von seinem Nacken aus, auf dem das im Verhältnis zum Menschen kleine Kreuz aufliegt. Hier wird die Last des Kreuzes angedeutet, vielmehr aber die Veränderung im Kreuzträger. Entgegen den Erwartungen ist er – ebenso wie das Kreuz – nicht dunkel dargestellt, sondern als Lichtgestalt, die gleichsam als Mittelpunkt durch die ihn umgebende Feuersbrunst an Erregungen, Aggressionen und vernichtenden Emotionen geht.

In ihm leuchtet etwas Göttliches auf. Jesus wurde das Kreuz wegen der Menschen und von Ihnen aufgelegt, aber nur, weil es Gott zuließ. So kommt das Kreuz in dieser Darstellung mehr von oben als aus irgendeiner Menschenhand. Von der Auferstehung her gesehen wurde klar, dass die Hingabe Jesu bis in die Abgründe des Kreuzestodes zu Gottes Plan gehörte, um die Sünde des von ihm so sehr geliebten Menschen zu sühnen und zu tilgen. So darf das Kreuz als Not wendendes Mittel zu unserem Heil gesehen werden, als göttliches Instrument, das seinen Sohn so tief erniedrigte, dass er – auch am Kreuz erhöht – von ganz Unten die ganze Menschheit zu erlösen vermochte.

In unserem Bild scheint eine Feuersbrunst den Menschensohn zu umgeben, er musste förmlich durch die Hölle gehen. Wiederum stellt sich die Frage nach dem Licht, das er in sich trägt. Was ist das für eine Kraft, die glühender wirkt als sein Umfeld? Was ist das für eine Kraft, die ihm gleichsam über das Kreuz, das er wie eine Antenne zu Gott trägt, zufließt? Ob die warmen Farben mit dem Heiligen Geist in Zusammenhang gebracht werden dürfen, dem göttlichen Beistand par excellence? Damit Jesus das unerträgliche Leid aushält und auch in der größten Gottverlassenheit nicht aufgibt?

Von Jesus ausgehend ist das Bild offen für die mannigfaltigen „Kreuzauflegungen“ im Leben von uns Menschen, seien es unheilvolle Naturkatastrophen, Unfälle, Beziehungsdramen und anderes mehr. So gesehen nimmt der „Kreuzweg Jesu“ kein Ende. Aber dadurch, dass Jesus sein Kreuz auf sich genommen hat, ermutigt er alle, trotz der unsäglichen Schmerzen, trotz des schweren Leids nicht aufzugeben. Denn Gott ist dreifaltig in ihm, neben ihm, über ihm. Tod und Auferstehung Jesu lehren uns, dass Gott in seiner Weisheit alles zu einem guten Ende führt, auch wenn es in unseren Augen gar nicht so aussieht.

 

Klein wird der Mensch unterm Kreuz,
es ist aus mit dem aufrechten Gang,
mit seinem guten Gesicht, er ist geschafft
vom Geißeln, von Dornen gerissen,
man machte ihn schwach, er fällt ein.
Nun noch das Kreuz auf den Buckel
gezwungen, ihm pfeift der Atem durchs Blut
der Schmerz färbt das Holz in die Augen,
er sieht blutrot und verschwommen,
ein paar weiße Blitze und die leeren Gesichter
der Schinder. Man treibt ihn auf den Weg.
Nie hatte er so schwer getragen.

Ich weiß nicht, was er noch sieht unter
den Lidern, im wundgeschwellten Gesicht,
im Feuer der Schmerzen, mit den Dornen
im Kopf, unterm Kreuz,
taumelnd, als der Weg ihm beginnt.
Niemand nimmt sowas auf sich.
Doch es liegt schon auf ihm.
Er schaut blutädrig den Schrecken,
der ihn ausquält zum hitzig gleißenden Tod,
in die Kälte aus Hass.
Was denkt er im verklumpenden Fleisch?
Ein paar Stunden noch in seiner Stunde.
der Blick Schrei, der bald bricht.
Ein Gebet?
Vater.

Es muss sein, sagte er einmal den Jüngern.
Warum?
Was soll das?

Es ist über ihm. Vater.
Mein Gott.

(Josef Rossmaier)

Der 12-teilige Kreuzweg sowie eine Auswahl großformatiger Gemälde aus dem Jahr 2014 sind zusammen mit den eindrucksvollen Worten von Josef Rossmaier im 40-seitigen Katalog „Jacques Gassmann, Weg und Nachweg“, Sonderheft 7 des Diözesanmuseums Regensburg unter der ISBN 978-3-9817126-0-5 erschienen. 

An Gott hängen

An einem Balkengerüst hängen drei längliche, menschengroße Körper. Der linke Körper hat die Gestalt eines zusammengerollten, braunen Blattes, während sein Pendant auf der rechten Seite eine Mischung aus einer Muschel und einer Schmetterlingspuppe darstellt. Die Oberflächen beider Körper sind mit großer Sorgfalt gestaltet worden. Beim gerollten Blatt winden sich braune Linien spiralförmig um seinen bronzefarbenen Körper, bei der Muschel oder dem Kokon ist die silbern erscheinende Außenhaut mit einem wunderbar feinen Muster überzogen, während die Innenseite fleischfarben ausgestaltet ist. Damit strahlen die beiden Hüllen trotz ihrer prekären Lage eine natürliche Schönheit und Kostbarkeit aus.

Der mittlere Körper hebt sich in mehrfacher Hinsicht von den beiden äußeren Figuren ab. Zum einen hängt er an einem Strick, während die anderen mit einer Schnur an einem Fleischerhaken hängen. Zum anderen handelt es sich bei diesem Körper eindeutig um eine menschliche Gestalt, die vollständig in ein weißes Tuch eingewickelt einen Leichnam vermuten lässt. An verschiedenen Stellen sind im weißen Leinen rote Flecken erkennbar. Da sie dort sind, wo sich Hände, Füße, Seite und Stirn befinden, weist das durchsickernde Blut auf ein Opfer einer Kreuzigung und noch mehr auf einen mit Dornen Gekrönten hin: Jesus.

Die Balkenkonstruktion lässt auf den ersten Blick an eine ganz normale Hinrichtung durch Erhängen denken. Weil niemand an oder auf das Holzgerüst genagelt ist, tritt die Kreuzform in den Hintergrund bzw. wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. Dadurch kann in dieser erweiterten Kreuzform durch die zwei senkrechten Balken ein Triptychon gesehen werden, das einerseits traditionell Leiden, Tod und Auferstehung Jesu zum Inhalt hat, gleichzeitig aber auch die Kreuzigung Jesu zwischen den beiden Verbrechern rechts und links anklingen lässt.

Die Installation parallelisiert den Kreuzestod Jesu mit anderen Sterberealitäten. Links als Folge des Alters, rechts als Sterbeerfahrungen im Leben jedes Einzelnen, wo immer wieder Wandlungsprozesse wie bei einer Raupe notwendig sind, wenn wichtige Phasen im Leben zu Ende gehen und eine Umorientierung notwendig machen. Oft führt das zu einer Zeit des Rückzugs, einer Abkapselung, während derer die Trauer verarbeitet und (Über-)Lebensstrategien und neuer Lebensmut gefunden werden müssen.

Durch die Radikalität dieser Erfahrungen, die wir nicht steuern oder aufhalten können, sind wir besonders in solchen Situationen, genau wie Jesus, ganz auf Gott angewiesen. Auf ihm ruht unsere Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, das Leben nicht genommen, nur gewandelt wird und eine neue Gestalt erhält.

Der Titel der Arbeit entstammt dem 9. Vers des 63. Psalms, der lautet „Meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich fest.“ Mit diesen Worten bringt der Betende sein Ur-Vertrauen in Gottes Nähe und Kraft zum Ausdruck. Durch den starken Glauben hat sich der Beter wie ein Kind an die Hand seines Vaters gehängt. Und Gottes Hand hält ihn so fest, dass er, was auch geschieht, nie von ihr losgerissen oder verloren gehen wird. – Ob der dicke Strick als „Hand“ Gottes gedeutet werden darf? Der Strick geht ja nicht um den Hals, er hält den eingebundenen Körper in der Schwebe. Die bisherige Gestalt ist bereits verborgen, die Kommende noch nicht sichtbar. – Aber meine Seele hängt an dir, Du mein Gott!

Die Installation war 2015 im Rahmen des Concentration-Projektes in der Dreifaltigkeitskirche in Konstanz zu sehen (Ansicht 1; Ansicht 2). 

Millionenfaches Leid

Durch konzentrisch angeordnete Kreuzreihen wird der Blick auf die liegende, erschlaffte Menschengestalt in der Bildmitte gelenkt. Sie ist heller als das ebenfalls schwarz-weiße Umfeld und anders strukturiert. Ihre Körperhaltung ist unnatürlich, weil sie im Schoß einer erst nach und nach erkennbaren Person liegt: Maria.

Der Leichnam Jesu liegt in ihren Schoß eingesenkt. Hier ist er Mensch geworden, hier trauert Maria um ihren Sohn und das Leben, das ihm genommen worden war. Jesu Kopf und Extremitäten hängen schwer nach unten. Und doch hält Maria ihn mühelos und wird nicht von ihm erdrückt. Sie hebt sich nur durch die feinere Struktur ihres Gewandes und die schwache Silhouette ihrer Gestalt vom Hintergrund ab. So tritt sie gegenüber Jesus zurück und verschwindet nahezu in den konzentrischen Kreisen aus Kreuzen, die von innen nach außen größer werden.

Es sind diese großen und kleinen Kreuze, die neben dem Leichnam Jesu und seiner Mutter Maria das Bild prägen. Nur auf dem Körper von Jesus sind die Kreuze schwarz auf hellem Hintergrund gestaltet. Alle anderen Flächen sind von weißen Kreuzen bedeckt. Wie ein Netz überspannen die digitalisierten Kreuzzeichen Michelangelos Pietà. Nur noch an den Körperhaltungen zu erkennen, ist sie durch die Kreuze verfremdet und in einen weiteren Kontext gestellt worden, um über das Einzelleid von Jesus und Maria hinauszuweisen. Sie erinnern an Soldatenfriedhöfe mit den endlosen Reihen mit weißen Kreuzen. Sie verdeutlichen das millionenfache Leid der Gefallenen und der Trauernden im 1. Weltkrieg, dessen Anfang sich am 28. Juli 2014 zum 100. Male jährte, sie sollen an die Millionen Gefallenen im 2. Weltkrieg erinnern, der mit dem Einmarsch der Nazis in Polen am 1. September vor 75 Jahren seinen katastrophalen Anfang nahm, an den Terroranschlag am 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York, an das aktuelle Zeitgeschehen im Nahen Osten, in dem nicht enden wollende kriegerische Auseinandersetzungen millionenfaches Leid über die Bevölkerung bringen.

Die konzentrisch angeordneten Kreuze bilden keinen Heiligenschein, keine Verherrlichung leuchtet durch sie auf. Vielmehr ziehen sie in die Tiefe, so wie Leid und Tod Betroffenen wie Angehörigen den Boden unter den Füßen entzieht. Doch Maria mit Jesus auf dem Schoß befindet sich wie ein Pfropfen vor diesem Sog. Wie um weiteres Leid zu verhindern. Als Anhaltspunkt, Anker, Trost.

Die Muttergottes hält stellvertretend für alle Mütter ihren Sohn in den Armen. Oder anders gesagt, mit ihm hält sie auch alle anderen gefallenen Söhne und Töchter. Und sie trauert mit allen Müttern (und Vätern) um ihre getöteten Kinder. Auch wenn sie im Bild noch verhüllter erscheint als in der aus Marmor geschlagenen Pietà im Petersdom, ist sie die Mater dolorosa, die Schmerzensmutter, die mit allen leidet, die durch Krieg, Hunger, Krankheit oder welche Ungerechtigkeit auch immer ums Leben kamen.

Der Künstler Thomas Bayrle schreit dieses Leid förmlich in die Welt. Denn während die vatikanische Pietà 174 cm hoch und 195 cm breit ist, hat er seine Pietà aus Kreuzen doppelt so groß werden lassen. Alle Menschen sollen endlich sehen, was so unbegreiflich schwer zu fassen ist. Jeder soll in der erschlagenden Fülle an Kriegsbildern endlich aufmerken … und sein Denken und Handeln überdenken … überlegen, was er dazu beitragen kann, damit das Leid ein Ende findet.

Fisch-Konserven-Kreuz

Ein Kreuz, geformt aus 96 Fischkonserven (53 senkrecht, 43 waagrecht), liegt am Boden. Ordentlich stehen die Dosen in Dreierreihen nebeneinander, vereinzelt nur zu zweit oder aber auch zu viert. Die Kombination der bunten Dosen mit dem Kreuz befremdet. Irgendwie wollen das kommerzialisierte Konsumgut Fisch und die strenge Kreuzform ästhetisch nicht zusammenpassen. Wollte der Künstler ein Mahnmal schaffen für den rücksichtslosen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt? Themen wie Überfischung, Tierquälerei oder Fischsterben durch verschmutzte Gewässer infolge menschlicher Profitgier und Marktinteressen  kommen in den Sinn. Doch was vermag uns das Fischkonservenkreuz darüber hinaus sagen? Was gibt es für inhaltliche Berührungspunkte oder sogar Parallelen zwischen den Fischen und dem Kreuz?

„Konserve“ Kreuz
Die Fische sind gefangen genommen und getötet worden, um den Menschen als Nahrung zu dienen. In den Blechdosen werden sie unverderblich gemacht, konserviert, und bleiben damit über eine längere Zeit haltbar. Dadurch können sie über große Distanzen transportiert und fast überall auf der Erde verkauft und verzehrt werden, ohne dass der Fisch geschmacklich oder gesundheitsgefährdend sich verändern würde.

Hier werden Parallelen zum Leidensweg Jesu sichtbar und seinen Worten beim letzten Abendmahl: „Nehmt und esst, das ist mein Leib. Trinkt, das ist mein Blut.“ (Mt 26,26-28) Auch wenn dem Kreuz wie den Konserven Folter und Tod anhaften (Jesus und die Fische), so tragen beide das Leben in sich. Jesus gibt sich den Seinen, „damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben“ (Joh 10,10b). Wer von den Fischen isst, dessen Leben wird gestärkt. So macht diese Arbeit deutlich, dass auch das Kreuz eine „Konserve“ ist. Denn gerade das lateinische Kreuz ist untrennbar mit dem Leiden und dem Tod Jesu verbunden. Es trägt diese Botschaft unverderblich durch Zeit und Raum, nachösterlich verbunden mit Jesu Auferstehung von den Toten und seine Rückkehr zum Vater.

„Konserve“ Bibel
Die konservierten Fische lassen zudem eine Parallele zur Bibel zu. Denn auch das Wort Gottes ist konserviert. In seiner geschriebenen Form ist es haltbar gemacht, leicht transportierbar und für alle zugänglich. Auch Gottes Wort ist Nahrung, im Gegensatz zum Fisch allerdings für Geist und Seele. Intuitiv würde man Gottes Wort vielleicht mehr mit dem Kerzenlicht vergleichen, das man unerschöpflich teilen kann, ohne dass jemanden einen Verlust erleidet. Beim Fisch kann nicht auf gleiche Weise geteilt werden. Allerdings hat Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen mehr als fünftausend Menschen gespeist und es blieben zwölf Körbe übrig (Mt 14,13-21), so dass auch Brot und Fisch als Symbole für sein grenzenloses lebenstärkendes Geben gesehen werden können.

Die Frage liegt nahe: Lässt sich im Kreuz nicht auch die Form eines Menschen sehen, der mit ausgebreiteten Armen am Boden liegt, und sich ganz dem Betrachter hingibt? Der sie in seiner ungewöhnlichen Erscheinung lockt, wie Moses am brennenden Dornbusch näher zu treten? Der einlädt, das Kreuz und durch es IHN zu schauen? Der sich dadurch als Gebender offenbart und sie einlädt, von ihm zu nehmen und zu essen?

„Konserve“ Fisch
So wie das Kreuz bis in unsere Zeit DAS Bekenntniszeichen für Christen ist, muss es der Fisch für die Christen der ersten Jahrhunderte gewesen sein. Er war DAS Erkennungszeichen für die Christen in der Verfolgung. Denn das griechische Wort für Fisch, ἰχθύς (ichthýs), enthält ein stichwortartiges Glaubensbekenntnis, in dem jeder Buchstabe auf eine Eigenschaft Jesu hinweist:

  • I – Jesus (Iēsoũs)
  • Χ – Christus  (Χριστὸς/Christòs , der Gesalbte)
  • Θ – Gottes (Θεού, theoú)
  • Υ – Sohn (Υἱὸς)
  • Σ – Erlöser (Σωτήρ, sotér)

Die eine Person zeichnete einen Bogen in den Sand, eine zweite Person ergänzte das Symbol so mit einem Gegenbogen, dass eine Fischform entstand. Damit zeigte er sich als Bruder oder Schwester im Glauben an Christus.

Die Konservendosen könnten ein modernes Glaubensbekenntnis sein. Sie enthalten Fische aus der ganzen Welt. Womit in dieser Kreuzform die ganze Welt zeichenhaft versammelt wurde. Jesus hat seine Jünger zu Menschenfischern berufen. Er hat ihnen den Auftrag gegeben, sein Wort  zu allen Völkern zu tragen, damit alle zum Glauben an den Vater, ihn und den Heiligen Geist kommen und in diesem Glauben eins werden. Dieser Auftrag lässt sich nicht konservieren. Nur leben. Weshalb jeder Gläubige zu jeder Zeit berufen ist, auf seine ihm eigene Art und Weise Zeugnis von seinem Glauben abzulegen – in einem lebendigen Glaubenszeugnis!

Das unsichtbare Kreuz

Zwei Paar Schuhe befinden sich in einer Metallbox mit Glasabdeckung. Es sind schwarze Herren-Halbschuhe, die Oberfläche des Glattleders glänzt und die Schnürsenkel sind gebunden. Sie stehen bzw. hängen auf dem grauschwarzen Mittelfeld eines sonst weißen Hintergrundes. Es ist keine Befestigung auszumachen. Die Drähte, welche die Schuhe mitten in der Einstiegsöffnung und vor dem Absatz umwickeln, halten farbige Glassteine in den Schuhen.

Die vier Lederschuhe „stehen“ ordentlich im Zentrum des Objekts. Ordentlich bedeutet in diesem Fall, dass sie vertikal ausgerichtet sind, paarweise übereinander stehen, zwischen dem linken und dem rechten Schuh jeweils gut eine halbe Schuhbreite Abstand. Alle Freiflächen stehen zueinander in einer harmonischen Beziehung.

Den Hintergrund oder aus anderer Sicht die Grundlage bildet ein teilweise mit grauschwarzer Farbe bedecktes Büttenpapier. Es ist schwer zu erkennen, ob die Farbe ausgegossen oder aufgemalt wurde. Unten rechts lassen helle Bereiche Spuren eines Pinsels vermuten. Auf den weißen Flächen verteilte Farbtupfer und –spritzer suggerieren eine spontane Arbeitsweise.

Man kann die dunkle Fläche einfach als abstrakte Form stehen lassen. Assoziativ lassen die Konturen aber auch einen weiblichen Torso von der Seite sehen, bei dem der Hals spitz zuläuft. Der einzige weiße Punkt in der Spitze des Farbkörpers ermöglicht zudem eine weitere Sichtweise. Das kleine weiße Rund ist eine Aussparung von Farbe und wirkt wie ein Loch, an dem der schwarzgraue Farbkörper wie ein Stück Schlachtfleisch im Raum aufgehängt ist.

Diese Beobachtungen und Gedanken mögen verstören und skandalös wirken. Denn es sind Männerschuhe auf einer Frauensilhouette. Es sind mit Steinen beschwerte Schuhe, die ein stilisiertes Stück Fleisch treten, das getötetes Leben bedeutet, ein enthauptetes, gehängtes Lebewesen. Unter der ästhetischen Schönheit der Arbeit verbergen sich tatsächlich grausame Beziehungen und Machenschaften, die unzähliges und unsägliches Leid im zwischenmenschlichen Bereich wie im Umgang mit anderen Lebewesen anprangern.

Unbarmherzig stellt der Künstler mit seinem Objekt die barbarische Seite vieler Männer wie in einem Schaufenster zur Schau . Die schwarzen Lederschuhe deuten auf diejenigen, die sie normalerweise tragen. Es ist typisch, dass diese Männer nicht sichtbar sind, denn sie verheimlichen ihre Machenschaften gerne. Stehen sie doch oft im Gegensatz zu dem, was sie vorgeben zu tun und zu sein. Die farbigen Glasbrocken mögen Symbole für alles sein, das sie sich selbst (in die Taschen) oder gegenseitig in die Schuhe schieben, um sich damit zu bereichern oder zu entlasten.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch das Kreuz, das sich aus den horizontalen und vertikalen Abständen der Schuhe ergibt, ein unsichtbares Kreuz bleibt. Mit seinem Tod am Kreuz hat sich Jesus mitten in das Leid dieser Welt hineinbegeben, um das Leid aller Menschen und aller Zeiten, um das Leid der ganzen Schöpfung von innen heraus zu umfassen und durch seinen Tod zu sühnen. Durch Jesus ist Gott gerade im Leidenden bleibend gegenwärtig, in dem, der seine Schmerzen und sein Leid oft in großer Einsamkeit und bis zum Tod ertragen muss.

Das Kreuz ist unsichtbar. Aber es ist geistig wahrnehmbar. Gott sei Dank ist es da. Gott sei Dank ist GOTT da. Still und leise, aber machtvoll.

Tod und Leben

Der Totenkopf ist wahrscheinlich das Erste, das wir beim Betrachten des Bildes erfassen. Mit großen runden, doch leeren Augenhöhlen „schaut“ er aus dem Bild heraus und grinst uns an. Sein Schädel ist aschgrau. Bezeichnenderweise ist er mit Kohle gezeichnet, einem pflanzlichen Material, das bereits einen Verwandlungsprozess durchgemacht hat. Auch formal wird die Vergänglichkeit sichtbar: Zum einen durch das fehlende bzw. wie ersetzte Stück Schädeldecke, zum anderen durch die Verformung zur rechten Bildecke hin.

Etwas kleiner, doch auch in rundlicher Form, ist dem Totenkopf auf der anderen Bildseite eine lichtgelbe Erscheinung mit feinen Zacken gegenübergestellt. Von ihrer Form her erinnert sie an eine Sonnenblume, von der Farbe her mehr an die Sonne selbst. Die hellgelbe Farbe wirkt kraftvoll und lichtdurchdrungen, der Pinselstrich bewegt. Somit stehen mit Sonne und Totenschädel Ursprung und Ende des Lebens einander gegenüber, Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, unendliche Bewegung und Erstarrung.

Zwischen und über den beiden Bildprotagonisten befinden sich grüne Elemente auf schwarzem Untergrund. Zuerst scheinen sie einfach einen ornamentalen Hintergrund für diese Gegenüberstellung zu bilden. Doch mit der Zeit werden Assoziationen an ein Blätterwerk wach, erinnert die T-Form an einen Baum voller Blätter und Leben, ja lässt sich sogar ein Lebensbaum in symbolischer Kreuzform sehen. Noch einen Schritt weiter meint man den Gekreuzigten selbst zu erkennen, wie er mit weit ausgestreckten Armen schützend Sonne und Schädel umarmt und ihnen links und rechts von seinem Kreuz einen Platz gibt.

Damit wird der Lebensbaum zum zentralen und entscheidenden Bildelement. Flächenmäßig etwa gleich groß wie die Sonne und der Totenkopf, jedoch dunkler von der Gestalt her, verbindet er die beiden und gibt ihnen Halt. Dieses zum Lebensbaum erweckte Kreuz steht primär für Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist und dem vom Vater das neue, unvergängliche Leben geschenkt wurde. Gleichzeitig verweist das lebendige Kreuz auf das Paradies, auf den „Baum des Lebens“ in seiner Mitte (Gen 2,9).

Das Kreuz ist der neue Baum des Lebens und, wie die blauen Stellen im unteren Bereich andeuten, auch die Quelle ewigen Lebens. Aus der Seitenwunde von Jesus floss Wasser und Blut (Joh 19,34). Er selbst hat gesagt, „wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“ (Joh 4,14)

Auch der Totenschädel darf in Verbindung mit dem Paradies gesehen werden. Am Fuße des Kreuzes bezieht er sich auf den alten Adam, durch den die Sünde in die Welt gekommen ist, während Jesus, der die Welt von der Sünde erlöst hat und das ewige Leben brachte, als neuer Adam bezeichnet wird.

So markant der Totenschädel also die menschliche Endlichkeit zur Sprache bringt, so erzählen das Kreuz und die Sonne von der Überwindung dieser Grenze. Die Künstlerin hat diesen Prozess nicht in Leserichtung, sondern von rechts nach links dargestellt. So ist es, als würde der Tod rückgängig gemacht. Jesu Tod und Auferstehung haben den Tod entmachtet und den Gläubigen unvergängliches, ewiges Leben geschenkt. Dafür stehen die Sonne und ihr Licht. Und sie erinnern jeden Tag neu: Auferstehung ist jetzt. Das Licht hat gesiegt, die Erstarrung ist vorbei! – LEBE!

verBUNDen

Die Holzfigur von Jesus am Kreuz wurde 2011 in der evangelischen Stadtkirche in Tuttlingen im Rahmen der Ausstellung „malhalten“ von der Künstlerin mit weißen Stoffbinden umwickelt. Die Gestalt des Gekreuzigten ist noch deutlich sichtbar, sie befindet sich auch noch am Kreuz und in der gewohnten Umgebung (Ansicht im Kirchenraum). Aber durch den Verband wurde sein geschundener Körper verhüllt und damit den Blicken der Betrachter entzogen. Manch einer mag durch diese Veränderung erschreckt reagieren und vielleicht auch an Blasphemie denken.

Doch die Künstlerin veränderte durch ihre Intervention die Botschaft des Kreuzes nicht. Was nach Verfremdung ausschaut, ist in vielen Kirchen ein traditioneller Brauch während der Fastenzeit. Vor allem in katholischen Regionen werden die Kreuze mit einem violetten Tuch verhüllt, den Blicken der Gläubigen entzogen, damit sie nach dem „Bilderfasten“ das Kreuz und seine Botschaft mit neuen Augen sehen können.

Allerdings hat Margaret Marquardt die Verhüllung variiert, in dem sie dem Kreuz nicht nur ein „Fastentuch“ vorgehängt hat, sondern sich dem Corpus Christi zugewendet hat. Mit den Mullbinden hat sie den „Leib Jesu“ wie einen Verletzten verbunden (Detailansicht). Dadurch, dass kein Körperteil mehr zu sehen ist, erscheint er sogar als Schwerverletzter. Der Körper wird durch den Verband nicht nur geschützt, sondern auch stabilisiert. Die Verbindungen zum und mit dem Kreuz geben ihm wie bei jemandem mit einem Arm- oder Beinbruch zusätzlichen Halt.

Die Stoffbinden erzählen auch, dass sich jemand der Verlassenheit des Gekreuzigten angenommen hat. Durch die Intervention der Künstlerin wurde dem Gekreuzigten Zuwendung und Fürsorge zuteil. Er erhielt ein notdürftiges, sauberes „Kleid“, das seine Blöße bedeckt. Die Hautfarbe ist dem Weiß der Mullbinden gewichen und signalisiert Heilung. Heilung der körperlichen Wunden im Besonderen, doch auch umfassende Heilung aller verletzten Beziehungen. Arnold Stadler schreibt dazu in seinem Buch zur Arbeit von Margaret Marquardt (S.19): „Das Heile ist das Ganze. Verbinden ist immer Heilen. Ein Joint Venture aus Jenseitigem und Diesseitigem, aus Oben und Unten, Göttlichem und Menschlichem, Heilem und Heilungsbedürftigem, von Innen und Außen, hier und dort. Dem Heilsverlangen des Menschen und der ganzen Schöpfung entspricht das Heilsangebot des Kreuzes, das von der Künstlerin gesehen und einbezogen wird in ihr Heilskonzept. Der Lichtstrahl [der vor dem Kreuz vertikal den Kirchraum quert] vergegenwärtigt den Vorrang des Gnadenhaften vor dem Machbaren des Heils und des Heilens. In diesem Licht ist auch der Lichtstrahl zu sehen.“

Als rotes Band flankiert dieser „Lichtstrahl“ die Verhüllung, mit seiner Farbe an das Blut erinnernd, das pulsierende Leben, die Macht der Liebe. Eingespannt als Installation zwischen Kirchendecke und Boden, kommt es doch klar von oben herab, göttliche Verbundenheit mit seinem Sohn und durch ihn mit allen Menschen symbolisierend. Es bringt grundsätzlich den Bund, die Verbundenheit zwischen Gott und den Menschen zur Sprache. Im Zusammenhang mit dem Gekreuzigten wird insbesondere seine Wirkmächtigkeit bei allen Verachteten, Leidenden und Sterbenden sichtbar. (Detailansicht)

Das weiße Verbandsmaterial verweist über das menschliche Erbarmen hinaus auf das Erbarmen Gottes. Er ist und bleibt allen Menschen nahe, selbst in ihrer größten Verlassenheit. Der verbundene Körper verbirgt und offenbart gleichzeitig sein geheimes Wirken. Dies wird auch in der Ähnlichkeit des Verbundenen mit dem Kokon einer Raupe deutlich, in dessen Verborgenheit sie in einen Schmetterling verwandelt wird und sich ihr eine vollständig neue Lebensdimension eröffnet.

So deutet der Verband die anstehende Verwandlung an. Der Körper ist noch da, aber verborgen, nur in einer äußeren Form sichtbar. Der Verbundene stellt gewissermaßen eine Karsamstagsexistenz (vgl. Hans-Ulrich Wiese) dar, die Zeit – und den Zustand – zwischen Tod und Auferstehung charakterisierend, in der das Vergangene verhüllt und das Kommende angedeutet, aber noch nicht offenbar ist.

Dieser Arbeit von Margaret Marquardt hat Arnold Stadler ein Buch gewidmet. Es trägt den Titel: Da steht ein großes JA vor mir. Es ist 2013 im Verlag Jung und Jung erschienen und umfasst 104 Seiten sowie 14 farbige Abbildungen. ISBN-10: 3990270397.

Augenkreuz, Augenblicke, Durchblicke

Aus vier quadratischen Bildtafeln schauen den Betrachter 16 Augen an. Als Lichtpunkte heben sie sich von den schwarzen Flächen ab, bzw. scheinen sie hinter ihnen zu leuchten. Wie durch Löcher schauen sie in den Kirchenraum hinein. Menschenaugen, aber immer nur eines, nie ein Augenpaar. Das irritiert. Es ist, als würden viele Leute hinter dieser Verkleidung ein Auge zukneifen, um mit dem anderen besser durch das Loch sehen zu können. Weit offene, wachsame Augen. Augen, die ruhig schauen, beobachten.

Zu wem sie wohl gehören mögen? Entfernt erinnern die vielen Augen an die Vision des Propheten Ezechiel, der den Thron Gottes von vier himmlischen Wesen (Cherubim) begleitet sah, die ringsum voller Augen waren (Ez 10,12). Andererseits erinnert die Darstellung von jeweils einem Auge an Abbildungen des einen Auges des einen Gottes. Es steht für die alle Geheimisse durchdringende Gegenwart Gottes. Stephan Balkenhol interpretiert es frei. Das Gegenüber bleibt im Wesentlichen verborgen, genauso wie das Kreuz hinter den vier Relieftafeln. Das Gegenüber, das alles zu sehen andeutet, gibt sich selbst bedeckt, maskiert. Aber die Augen signalisieren eine wachsame Präsenz.

Dabei stellt sich die Frage, ob es wirklich nur EIN Gegenüber ist. Die Überlagerung des Kreuzes durch vier Quadrate, die mit ihren Innenkanten einen kreuzförmigen Freiraum bilden, legt es nahe. Es sind irgendwie auch die Augen dessen, der am Kreuz gestorben ist und durch den Glauben der Menschen sich nun immer wieder neu in den Augen und deren Blicken zu erkennen gibt (“Augenkreuz” im Kontext des Altars).

Die Begegnung mit IHM muss und will gesucht werden. Die dem Kreuz vorgelagerte Arbeit weist darauf hin, dass Er – wenn auch verborgen – da ist und aus dem Geheimnis heraus uns sieht, schaut und liebt. Umgekehrt können auch wir ihn nur schauen, wenn wir durch das Vordergründige, durch das Sichtbare hindurchschauen, den Durchblick auf das Wesentliche der Dinge und Vorgänge suchen. Die profane Arbeit in der Kirche zeigt zudem, dass Gott nicht ausschließlich über religiöse Symbole „zu sehen ist“, sondern sich hinter / in allen Dingen der Welt versteckt, um sich dem zu offenbaren, der den Durchblick und damit „den Blick dahinter“ wagt.

In der Gesamtansicht der Kirche ergeben sich neue Perspektiven für das Kunstwerk. An zentraler Stelle der Chorwand wandelt sich die Arbeit zu einer Art Black Box. Visuell mögen vielleicht Analogien zum heiligen Stein (Kaaba) in Mekka aufsteigen, der von den Muslims als das Haus Gottes betrachtet wird, zu dem er alle einlädt. Parallelen zum christlichen Kirchenraum sind offensichtlich. Vom Wort „black box“ selbst sind auch Verbindungen zu einem Flugschreiber möglich, der alle Daten und Vorgänge in einem Flugzeug aufzeichnet und speichert. Im Zusammenhang mit den Augen könnte diese Funktion auch auf einen Gott übertragen werden, der alles sieht und erinnert. Das wäre allerdings eine verkürzte Sicht. Denn so verborgen sich Gott gibt, der Zugang zu ihm ist weder verschlossen noch unzugänglich. In der Arbeit zeigt sich das durch den kreuzförmigen Zwischenraum, der das große Würfelquadrat – ohne es auseinanderbrechen zu lassen – in vier kleinere Quadrate aufteilt und dadurch Ein- und Durchblicke auf Dahinterliegendes, auf Inneres ermöglicht. Das schwarze Quadrat  weckt die Neugierde des Betrachters und gibt Blicke in sein Innerstes frei. Da hier der Gekreuzigte zu sehen ist, Gottes geliebter Sohn, der sein Leben für unseres hingegeben hat, liegt die Deutung nahe, im „Augenkreuz“ von Stephan Balkenhol ein modernes Symbol für Gott Vater zu sehen, das Einblicke in sein Innerstes ermöglicht.

Die sechs weiteren Figuren, die an den Seitenwänden der Kirche befestigt wurden, bringen „Augenblicke“ der Geschichte Gottes mit den Menschen zur Sprache. Links vorne in einem Diptychon ein Mann und eine Frau, einander zugewandt (Ansicht), die vor einem grünen und goldenen Hintergrund stehen. Ihre Nacktheit und die beiden Hintergrundfarben deuten, ohne es explizit zu betonen, das Paradies an, die ursprüngliche Fülle des Lebens. Gegenüber sind vor einem silber-braunen Hintergrund ein Skelett und ein Mann zu sehen, der allseits gegenwärtige Tod, der uns Menschen begleitet und unsere Vergänglichkeit in Erinnerung ruft. In den mittleren Positionen stehen sich Maria mit dem Jesuskind im Arm und der Auferstandene (Ansicht) gegenüber. Irritieren mag, dass Jesus nach heutigem Dress-Code gekleidet ist, dadurch verwurzelt der Künstler nach alter christlicher Tradition das vor 2000 Jahren Geschehene in unserer Zeit. Dies wird auch im dritten Figurenpaar deutlich, das eine junge Frau und einen jungen Mann unserer Zeit zeigt. Gott will seine Heilsgeschichte in unserer Zeit fortschreiben, … mit jedem von uns. Stephan Balkenhol hat mit seinen Kunstwerken eine wunderbare zeitgenössische Katechese geschaffen: als Einladung, Gott und sein Wirken näher kennenzulernen.

Weiteres Bild: Mann im Turm

Dieses und weitere Werke waren im Sommer 2012 im Rahmen der documenta 13 in der Kath. Kirche Stankt Elisabeth zu sehen. Weitere Informationen zu Stefan Balkenhol in St. Elisabeth.

Zur Austellung ist der Katalog STEPHAN BALKENHOL in SANKT ELISABETH erschienen. Auf 96 Seiten dokumentieren 90 Farbabbildungen und Texte des Bischofs von Fulda, Josef Meyer zu Schlochtern, Matthias Winzen, Rainer Marten und Helmut Krausser die Bedeutung dieser außerordentlichen Ausstellung. Snoeck-Verlagsgesellschaft Köln, 2012, ISBN 978-3-86442-020-7, Euro 19,80

Pressemeldungen zu den Arbeiten von Stephan Balkenhol in Sankt Elisabeth:

Durch Ihn, mit Ihm und in Ihm

Aus grau-blauen Schattierungen und Linien heraus entwickelt sich ein Geschehen, das räumlich schwer einzuordnen ist. Es hat mit Kreisen zu tun, vor allem einem Umkreisen des Kreuzes.

Alles überragend schwebt es im Bildraum. Es weist keine irdische Größe oder Beschaffenheit auf, sondern verbindet als transzendente Erscheinung mit seinen Kreuzarmen das Oben und Unten, das Links und Rechts und macht das hinter ihm Befindliche für den Betrachter sichtbar.

So erhält das Kreuz eine diffus leuchtende Mitte, die im Gegensatz zum als Menschen ausgeformten Schatten an seinem unteren Ende steht. Aufrecht und mit ausgestreckten Armen steht er in Kreuzform – als von Kreuz Geprägter – unter dem Kreuz, er erscheint als Mittler zwischen den Welten, als derjenige, der auf dem Weltenrund steht, es gleichzeitig überragt, ja in einem weiteren Schattenbild ihm zu entwachsen scheint.

Er steht auf einer Linie, die einen inneren von einem äußeren Bereich trennt. Außen zeigen sich die Striche und Farben verwaschener als Innen. Dadurch wird im Innenbereich das sich offenbarende Geschehen klarer ersichtlich, das sich in den Raum hinein und auf den Betrachter zu entfaltet. Umgeben von einer rötlichen Aura, zieht das „ungeschaffene“ Licht so lange in unregelmäßigen Linien seine „Kreise“, bis es die Mitte der kleinen Weltkugel am unteren Bildrand umfangen hat. Wie der Mensch so in der Verlängerung des senkrechten Kreuzarmes steht, wird neben der Menschwerdung Gottes zudem sein Hinabsteigen thematisiert, umgekehrt auch seine Himmelfahrt und Rückkehr an die Seite seines Vaters angedeutet.

Unaufdringlich werden damit die Worte des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi (2,6-10) hörbar: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt “Jesus Christus ist der Herr” – zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Und an die Gemeinde in Kolossä (1,16) schrieb er: “Denn in ihm wurde alles erschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare … Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand.” (Kol 1,16)

Der unfassbaren Größe dieses Geschehens Rechnung tragend hat die Künstlerin das Kreuz in einen kosmischen Raum gestellt. Als unübersehbares Zeichen für Gottes Wirken in Jesu Leben, Tod und Auferstehung wie für seine bleibende transzendente Gegenwart verbindet es über unsere irdische Wahrnehmung hinaus Raum und Zeit. Durch das Bild wird auch der Betrachter dezent „Gott“ gegenübergestellt, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, Gott zu begegnen. Gott war nicht nur am Anfang der Welt die schöpferisch treibende Kraft, sondern begleitet bleibend den Entstehungsprozess der Welt und seiner Menschen. Wesentlich, von innen heraus, durch seinen Sohn Jesus Christus, mit dem Heiligen Geist.

Unterm Kreuz

Mächtig durchqueren die beiden Kreuzbalken das quadratische Bildformat. Sie durchkreuzen es geradezu, so als sollten sie kundtun: No way – kein Durchkommen hier. Dabei sind sie ganz leicht gemalt, fast Ton in Ton mit dem Hintergrund. Auch die Kanten des Kreuzes sind oftmals mehr angedeutet als sichtbar. So erscheint es nicht wirklich schwer und doch ist das ungeheure Gewicht in den intensiver werdenden Farben und der Verdichtung der Striche in der unteren Bildhälfte zu spüren.

Der andere Strichduktus lässt vage Gestalten und Gesichter wahrnehmen. Auf der linken Seite sind die Umrisse eines größeren Kopfes und seiner Haare auszumachen. Man mag an einen geneigten Jesuskopf denken. Allerdings bleibt die Gesichtspartie leer bzw. erscheint sie wie von heftigen diagonalen Strichen zerstört. Dafür tauchen darunter geradezu verstörend fratzenhafte Gesichter mit starrem Blick aus der Dunkelheit auf. Hinzu kommt, dass von rechts her ein diabolisches Ziegenkopfgesicht mit weit geöffneten Augen auf dieses traumhafte Geschehen im gerade erwähnten Kopf blickt. Zwischen den beiden Köpfen vermag man zeitweise auch den Kopf und den Oberkörper eines Jugendlichen zu sehen, wenn sich sein Kopf bei längerem Hinschauen nicht wie bei einem Vexierbild in das rechte Auge eines noch größeren Gesichtes verwandelt, das oben durch zwei angedeutete Hände, die aber genauso gut Haarsträhnen sein können, begrenzt wird.

„Was ist hier los? Was geht hier vor?“, mag der eine oder andere sich erschreckt fragen. Auf diese Weise mitten in das Geschehen unter dem Kreuz hineingezogen, meint man in den intensiven Farben den fieberhaften Zustand und die Anstrengung des unter dem Kreuz Leidenden zu spüren. In den vielen Gesichtern werden seine Ängste, seine Auseinandersetzungen und Versuchungen sichtbar. Hier werden dem Betrachter auf subtile Art und Weise die psychischen Leiden des zum Tode Verurteilten bewusst gemacht. Die bedrängende Nähe all dieser Geister ist schrecklich. Offensichtlich gibt es kein Entrinnen, keinen Ausweg. Zwar taucht immer wieder der auf den Leidenden zulaufende Jugendliche auf, aber er kommt gegen die Übermacht des Bösen nicht an. Nach kurzer Zeit entschwindet er wieder den Blicken des Betrachters und man fühlt sich wieder in die Not des unter dem Kreuz Gefangenen zurückgeworfen. Ein nicht enden wollender Albtraum.

Sehnsucht nach Hoffnung mag sich breit machen. Überm Kreuz ist das Bild lichter und wie ein Halluzinierender meint man weitere Gesichter zu erkennen, freundlichere, und einen Lichtstreifen am Horizont. Aber gehören die Gesichter tatsächlich zu Hilfe eilenden Engeln? Ist das Licht ein wahrer Hoffnungsschimmer? Oder gaukelt die irrelaufende Fantasie des Gefolterten ihm all das vor, um wenigstens einen Funken Hoffnung zu haben, dass er in dieser ausweglosen Bedrängnis nicht ganz allein ist?

Dann, irgendwann, vielleicht auch schon früher, die Wahrnehmung eines noch ganz anderen Gesichtes im Kopf des Leidenden. Es zeigt sich von der Seite. Mehr oder weniger auf der unteren Kante des nach rechts aufsteigenden Kreuzbalkens (ein Symbol des aufstrebenden Lebens) lässt sich das Profil eines Gesichtes erkennen: die Stirn geht in einem Bogen in die Nase über, weiter unten die geschlossenen Lippen, ein Kinn. Die Augen sind nur ein Strich. Eine Ruhe geht von ihm aus … wie bei einem Schlafenden. Ganz in sich gekehrt, eins mit dem Kreuz, strahlt dieses Gesicht eine innere Kraft aus, die von außen gar nichts berühren, geschweige denn zerstören kann. Stark istdiese totale körperliche Auslieferung, noch stärker die das Leiden und den nahen Tod überwindende geistige Kraft, die der selige Ausdruck dieses Gesichtes ausstrahlt.

Christus, der Herr

Wer die Kirche des Heilig-Geist-Klosters in Wickede-Wimbern betritt, wird nicht anders können, als auf die neue Chorwandgestaltung zu schauen. Ein großes Segel in hellen Farben bildet zusammen mit einem roten Band den Kontrast zum hängenden Bronzekreuz von Dr. Else Hoffmann aus dem Jahr 1978 und lässt in ihm den gekreuzigten und auferstandenen Herrn wahrnehmen. Dieses künstlerische Ensemble beherrscht als visuelle Attraktion den Kirchenraum und gibt Besucher:innen, Betenden und Feiernden Orientierung und Perspektive.

Das Stoffsegel und seine Bemalung lassen ganz verschiedene Zugänge zu, von denen hier nur einige beleuchtet werden sollen. Zum einen steigt das Stoffsegel wie eine Flamme vom Altar auf. Was in dieser Flamme aufleuchtet, hat seinen Ursprung in der Hingabe Jesu, in seiner Liebe zu uns Menschen. Für uns und unser Heil ist er gestorben (vgl. Röm 5,6). So wird in der übergroßen Flamme die übergroße Liebe Gottes zu uns Menschen sichtbar. Die helle Flamme hinterfängt dabei das dunkle Kreuz und gibt ihm den neuen Hintergrund der Auferstehung und des Lebens. Was am Altar gefeiert wird, ist das Gedächtnis seines Todes und seiner Auferstehung.

Bis ins Kreuz hinein ist alles von der Kraft der Auferstehung und des Lebens durchdrungen. Das schwere Kreuz hat die Last des Todes verloren. Es schwebt und Jesus selbst scheint im freien Innenraum des Kreuzes zu schweben. Noch sind die Arme ausgebreitet, aber Hände und Füße sind nicht mehr ans Holz genagelt. Dieses Kreuz verkündet die Überwindung des Todes und zeigt Jesus als Christus, den Herrn als Befreier, der allen Besucher:innen den österlichen Willkommensgruß zuspricht: „Friede sei mit euch.“ (Joh 20,19)

Dabei scheint Christus im Kreuz über der blauen Fläche zu schweben und vermag an den Sturm auf dem See Genezareth zu erinnern, bei dem er über das Wasser auf seine Jünger zuging. In dieser Klosterkirche geht Jesus auf die Gläubigen zu. – Gott kommt zu den Menschen. – Die finden sich unvermittelt in der Rolle des Petrus wieder, der auf den Ruf seines Herrn das mehr oder weniger sichere Boot verlässt und im Glauben versucht über das Wasser auf den Herrn zuzugehen. Doch angesichts des heftigen Windes bekam er Angst, zweifelte und begann unterzugehen, so dass Jesus ihn retten musste. (vgl. Mt 14,24-31)

Durch die mandorlaartige Form und die zentrale Lichterscheinung, welche von sonnengelben Farbbahnen begleitet wird, vermittelt das Kunstwerk eine freudige Begeisterung. Im Dialog mit dem Kreuz wird wie bei der Taufe (Mt 3,17) oder der Verklärung Jesu göttliche Offenbarung spürbar erlebbar. Man hört förmlich Gottes Stimme aus dem Licht heraus sagen: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören.“ (Mt 17,5)

Umgekehrt können auch Worte von Jesus gehört werden, der mit weit ausgebreiteten Armen zu seinem Vater betet: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,25-30)

Solche Worte ermutigen, solche Lichtblicke tun der Seele gut. Denn das große Altarbild kann auch als Segel eines Bootes oder Schiffes gedeutet werden, das sich Kirche oder Gemeinde nennt. Es ist sichtlich zu spüren, dass hier ein neuer, guter Wind weht, ein Wind, der dieser Gottesdienstgemeinde und Klostergemeinschaft eine klare, hoffnungsvolle Richtung gibt.

Eine zusätzliche Dynamik erhält die Installation durch ein schmales langes Band in Rottönen, das sich so von rechts oben zum Kreuz hinunter schwingt, dass es das Kreuz visuell mitträgt (Nahansicht). Dadurch steht der Auferstandene nicht nur im Dialog mit seinem Vater, der hinter ihm steht, aber im unzugänglichen Licht wohnt, sondern auch mit dem Heiligen Geist, der ihn führt und mit Kraft erfüllt.

Was für eine Vision! Was vermögen sich dem Glaubenden dadurch für Horizonte zu öffnen! Ist es zu verwegen, sich in Jesus hineinzuversetzen, um sowohl die liebende Nähe des Vaters als auch die belebende Kraft des Heiligen Geistes zu erfahren?

Großformatige Wandkalender, Postkartenkalender und Karten mit Motiven von Eberhard Münch sind im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich: www.adeo-verlag.de

Rest

Nicht an der Wand hängend, nicht klein wie ein Grabkreuz oder übergroß wie ein Wegkreuz begegnet uns dieses Kreuz, sondern in Menschengröße tritt es uns gegenüber.

In der Senkrechten besteht es aus einem einfachen Vierkantstab mit einer glatten, unstrukturierten Oberfläche, der in seiner geraden Schlichtheit an ein aus Balken gefertigtes Kreuz erinnert. In der Waagrechten hat die Künstlerin kein dementsprechend konstruiertes Element verwendet, sondern zwei an den Unterarmen miteinander verbundene Hände, die durch ihre körperliche Ausformung an den Leib Christi denken lassen, der am Kreuz gestorben ist. Sowohl die realistisch gestalteten Hände als auch das vertikale Stabelement wurden mit einer Silbernitratpatina veredelt, wodurch sich beide Elemente trotz ihres formalen Kontrastes zu einer Einheit verbinden.

Kreuz und Gekreuzigter werden so auf das Wesentliche reduziert zur Sprache gebracht: Mit ausgebreiteten Armen ist der Mensch an einem von Menschenhand errichteten Folterinstrument erhöht getötet worden. Doch anders als bei den traditionellen Kreuzigungsdarstellungen ist nur die eine Handfläche dem Betrachter zugewandt, die andere kehrt ihm den Handrücken zu; auch sind keine Wundmale zu erkennen

Diese so plastisch modellierten Hände scheinen nicht die eines Toten, sondern das Letzte eines Lebenden, eines um das Leben Kämpfenden zu sein. Doch sie greifen ins Leere. Während die linke Hand bereits kraftlos nach unten hängt, spreizen sich die Finger der rechten Hand noch kraftvoll, als wollten sie einen von hinten kommenden unsichtbaren Angreifer abwehren.

Die harmonische Gesamterscheinung dieses lateinischen Kreuzes täuscht. Der auf die beiden Extremitäten reduzierte Leib irritiert in seiner schwebenden Position. Sein lautloser Schrei nach dem fehlenden Körper dazwischen verunsichert, die Drehbewegung der in den Unterarmen verbundenen Hände ruft Unbehagen hervor und stellt gleichsam die Frage nach dem Warum.

Angesichts des Unfassbaren, das mit der Kreuzigung des Gottessohnes geschehen ist, sollte es uns nicht bei der Betrachtung eines jeden Kreuzes so ergehen wie mit dem Kreuz von Louise Bourgeois? Es vermag durch Gewöhnung zur Indifferenz verhärtete Kreuz-Ansichten aufzubrechen und Gefühle und vielleicht auch persönliche Erfahrungen zum Leben zu erwecken, in denen man sich wie am Kreuz aufgehängt, aller menschlichen Würde beraubt, handlungsunfähig vorkam. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 15,34)

Impulse fürs Leben

Zwei Bilder stehen an die Wand gelehnt auf dem Boden. Sie befinden sich an der Stirnseite des Andachtsraumes im Reichstagsgebäude in Berlin. Die beiden Bildtafeln bilden mit fünf weiteren Tafeln (Ansicht 1, Ansicht 2, Ansicht 3) den visuell prägenden Schmuck dieses überkonfessionellen Andachtsraumes von Günther Uecker, in dem er zu meditativem Nachdenken anregt und Wesentliches zum Verhältnis der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam zur Sprache bringt.

Die abgebildeten beiden Tafeln sind dem Christentum zugeordnet. Mit den Nägeln und den mit Leinen auf den weiß-braunen Hintergrund applizierten Kreuzen lassen sie an den Kreuzestod Jesu denken. Doch wieso so viele Nägel, wieso zwei Kreuze? Stehen sie etwa für das Leiden und den Schmerz vieler? All derer, die genau wie die Nägel geschlagen wurden? Zusammen bilden sie auf den Kreuzen aus Leinen, das früher auch als Verbandsmaterial und als Leichentuch verwendet wurde, einen Körper, der sowohl geschunden als auch voll innerer Dynamik und Schönheit ist. Durch die Bewegung der Nägel liegt ein eigenartiger Schwung in ihnen (Detailansicht). Durch die Verdichtung der Nägel nach oben und die erhöhte Position der Kreuze wohnt ihnen trotz ihrer schweren Last etwas Leichtes inne, scheinen sie wie Blätter über der graubraunen Sandflächen in der Luft zu tanzen.

Schweben sie nicht über dem Materiellen und Schweren, über dem Dunklen und Belastenden im mit weißen Farbflächen versehenen Bereich? Beide zeigen zudem eine von links unten nach rechts oben strebende dynamische Bewegung. In diesen Kreuztafeln steckt hoffnungsvolles Leben. Was wohl der Grund dafür sein mag? Ob er letztlich im Zwischenraum liegt, der nicht nur in der Fotomontage, sondern auch im Andachtsraum der Breite einer Tafel entspricht? Der leere Platz als Sinn-Bild für denjenigen, der zwischen zwei Schächern gekreuzigt worden ist, aber als Erster von den Toten auferweckt wurde? Ja, denn wir glauben, dass Jesus alle Leiden auf sich genommen und getragen hat, damit alle durch ihn Erlösung erlangen. Sein neuer Platz ist unmittelbar vor diesem leeren Platz auf dem Altar.

Die beiden Bildtafeln erinnern also ganz konkret an die Kreuzigung auf Golgata, zeigen bildlich aber nur die Kreuze der beiden Schächer. Ein Ort für meditatives Nachdenken. Wo stehe ich? Was bewirke ich? Welche Ungerechtigkeiten, ja Verbrechen können aus meinen Entscheidungen und Handlungen entstehen und vielen Menschen unsägliches Leid und großen Schmerz zufügen? An diesem Ort mit weitreichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen stellen die Bildtafeln eine starke Erinnerung dar, ja einen steten “Nagel im Fleisch” (2Kor 12,7) der Politiker, ihre Interessen und ihre Macht gut zu bedenken, ihre Entscheidungen gut abzuwägen, damit sie für den Nächsten nicht Tod, sondern Leben und zwar möglichst gutes Leben bedeuten.

Als weiterführende Literatur zum Andachtsraum finden Sie hier einen empfehlenswerten Bericht von Dr. Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundentages, aus der Zeitschrift kunst und kirche 2/2010 (mit freundlicher Genehmigung des Autors und Dr. Johannes Stückelberger). Zum Bericht (1,4 MB PDF).

Strecken zum Licht

Ein alltäglicher Moment begegnet uns auf diesem Bild. Ein Mann streckt sich mit erhobenen Armen ganz weit nach hinten. Gerade scheint er die maximale Dehnung erreicht zu haben und in dieser Stellung zu verharren. Aus den geschlossenen Augen und dem nach hinten geneigten Kopf darf geschlossen werden, dass der Mann dieses Strecken mit jeder Faser seines Körpers genießt.

In Bezug auf den Raum oder die Zeit lässt der Bildausschnitt keine Aussage zu, wo sich dieser Mensch oder in welcher Tages- oder Jahreszeit er sich befindet. Mit einem Unterhemd bekleidet ist er einfach da, in der Bewegung seinen Körper erlebend und im Wechsel von Spannung und Entspannung ihm nachspürend. Gleichzeitig scheint er sich einem für uns unsichtbaren Licht zu öffnen, das von links her helle Stellen auf seiner gewölbten Brust und seinem Gesicht hinterlässt.

Auf der anderen Seite lässt sich hinter ihm ein dunkler Schatten an der Wand ausmachen, ein Schatten, bei dem nach einer gewissen Zeit die Form eines Kreuzes sichtbar wird. In diesem Zusammenspiel von Vorder- und Hintergrund scheint sich der Mann an das Kreuz zu lehnen und aus der Dunkelheit dieses Kreuzes heraus das Licht in sich aufzunehmen. Ja, wie er mit ausgebreiteten Armen vor dem Schatten eines Kreuzes steht, weckt er Assoziationen an den Gekreuzigten, aber auch an den im Morgengrauen Auferstandenen und sich nach dem Licht Ausstreckenden.

So lässt das Bild eine ganze Reihe von Ansichten und Interpretationen zu. Viele auf den ersten Blick unbedeutende Details lassen eine Motivtiefe entdecken, die weit über einen Mann beim Frühturnen oder bei der Morgengymnastik hinausgeht. In seinem Strecken und Dehnen ist genauso die Spannung des sich vom Schlaf erhebenden Körpers zu spüren wie jene des neuen Tages, dem er sich entgegenstreckt und dessen Licht und Frische er tief in sich einzuatmen scheint. In beiden ist etwas von der Auferstehung spürbar, die wir im Glauben am Ende unserer Tage erwarten. Insofern ist dieses frühmorgendliche Strecken Gebet mit Leib und Seele, körperlicher Ausdruck einer Geisteshaltung, die sich ganz auf das Licht ausrichtet. Es ist ein Einüben auf das letzte große Aufstehen und Strecken, das Auferstehen zum ewigen Leben.

Wunden und Heilung

Spannungsvoll fügen sich die beiden langformatigen Arbeiten in den barocken Kirchenraum ein. Nahezu monochrom und rechteckig hart stehen sie im Kontrast zu den verspielten Farben und Formen der barocken Altäre. Andererseits integrieren sie sich durch Parallelen zur Länge der Kirche oder der Höhe ihrer Fenster. Vermittelnd befinden sie sich zwischen Chorraum und Kirchenschiff, ganz in der Tradition, die Botschaft von Leben, Tod und Auferstehung Jesu zu den Menschen zu tragen. Einander gegenüber positioniert erzeugen sie ein dialogisches Spannungsfeld, vor dem der Betrachter steht und in das er sich hineinziehen lassen kann.

Ein Betrachtungsraum, der unaufdringlich vom Kreuz geprägt ist und in seiner zurückhaltenden Sprache doch berührt und zur Auseinandersetzung mit existenziellen Lebenserfahrungen einlädt. In der roten Vertikalen mit den Verletzungen und offenen Wunden, die oft mit Leid, Blutvergießen und himmelschreiendem, da geradezu unerträglichem Schmerz verbunden sind. In der weißen Horizontalen mit einem Ruhe und Erlösung verheißenden, bergenden und von Licht durchfluteten Grab- und Heilsraum.

So stellt Margaret Marquardt „einander Hingabe und Erlösung, Kreuz und Heil, Tod und Leben, Sterben und Auferstehen, Vergießen und Hüllen gegenüber und bringt mit den beiden Arbeiten die Vertikale und die Horizontale des Kreuzes in Beziehung, die das Leid annimmt und heilend überwindet.“ Thematisch reihen sich die beiden Arbeiten damit in die kirchliche Grundausrichtung, „Kranke, Verletzte, Verwundete zu besuchen, Wunden zu versorgen, Leidenden beizustehen und zu heilen. Jesus selbst hat sich den Wunden, den Verletzungen der Menschen seiner Zeit gestellt, ist uns mit gutem Beispiel vorangegangen, hat sich persönlich und unmittelbar jedem Kranken gewidmet, ihn gefragt: „was willst du, das ich dir tue?“ und ihn geheilt. Er hat vom barmherzigen Samariter erzählt und das über ihn verhängte Urteil angenommen.“ (Engelbert Paulus)

In neuer Sprache bringen die beiden Arbeiten somit etwas zum Ausdruck, das uns alle bewegt. Die verwendeten Mullbinden oder Gazen verstärken die Erinnerung an Verletzungen und Verwundungen, die auf Grund ihrer Schwere verbunden werden mussten, geschützt und gepflegt, um den Heilungsprozess zu ermöglichen und zu unterstützen. Aus der roten Installation (Detailbild) sind durch die dreiteilige Anordnung auch Nachdrücklichkeit und der Ernst der Lage herauszulesen. Sie dokumentiert die noch frische Verwundung, bei der der Blutfluss den Verband durchtränkt und der Kampf um das Leben zu spüren ist. Wie die Arbeit an die Wand angelehnt ist, drückt sie zudem die mit Verletzungen einhergehende Erschöpfung und das Bedürfnis aus, sich anlehnen zu können und Hilfe zu erfahren, um bestehen zu können.

Eine ganz andere Atmosphäre entfaltet sich in der weißen Installation (Detailbild). Weite breitet sich hier aus, ein fortgeschrittener Genesungsvorgang ist zu spüren. Das Blut ist gestillt, die Wunden sind verbunden, Heilung ist im Gange – Auferstehung zu neuem Leben (Detailbild). In den Schichtungen des Verbandes kommt auch der Zeitfaktor zur Geltung. Die geduldige Pflege braucht ihre Zeit, ebenso die Heilung. Weiter erinnert die Beleuchtung von hinten, dass diese Heilung von innen heraus geschieht und geschehen muss.

So laden die Arbeiten zur Einkehr und Besinnung auf körperliche und seelische Verwundungen ein. Zu einem Verhalten, das dem der Verletzten und Verwundeten ähnlich ist, die still halten, um den Schmerz gering zu halten, aber auch, um von lieben Mitmenschen richtig versorgt werden zu können. In der Kirche ist es ein Innehalten, um der vielfältigen Verwundungen bewusst zu werden – und sie Gott hinzuhalten, damit er heilend auf sie schaue und mit seiner Liebe von innen heraus schließe.

Betrachtungen von Diakon Engelbert Paulus (Pressetexte)