Traurige Leere

Das Porträt einer jungen Frau ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. In einem knapp bemessenen Bildausschnitt nimmt der Kopf mit der angeschnittenen Schulter fast den ganzen Raum ein. Allein am linken Bildrand führt eine stimmungsvolle Landschaft in perfekt gemaltem Sfumato bis zum Horizont und darüber hinaus in den bedeckten, die Farbtöne des Inkarnats aufnehmenden Himmel. Der aufsteigende Hügelrücken lenkt den Blick zu den Augen und weiter auf das von einer Haarsträhne verdeckte Ohr. Von den wässrig traurigen Augen fließen fünf Tränen über die feinschattierte Haut ihrer Wangen. Eine weitere Träne hängt kurz vor dem Abtropfen am Kinn. Die unendlich traurigen Augen blicken haltlos in die Leere. Die Tränen und der leere Blick deuten auf ein schwerwiegendes, unbegreifliches Geschehen, das die junge Frau miterlebt hat und nun irgendwie zu verstehen oder zu verarbeiten versucht.

Die feinen Gesichtszüge und der blaue Strickpulli versetzen die Frau in unsere Zeit. Doch gleichzeitig erinnern das Blau und die geneigte Kopfhaltung an Maria. Altmeisterlich gemalt und doch zeitgenössisch gegenwärtig wirkend ist sie zweifach von ihrem Sohn gezeichnet. Die vom Mittelscheitel aus gleichmäßig das Gesicht rahmenden Haare lassen zum einen Herz Jesu-Darstellungen vom Ende des 19. Jahrhunderts anklingen. Zum anderen bildet die Aufhellung am Horizont mit der rechtwinklig dazu verlaufenden Linie „Scheitel-Nase-Mund-Hals eine unauffällige Kreuzform. Damit erhält das unfassbare Geschehen der Kreuzigung und des Sterbens Jesu ein Gesicht. Ja, sein Leiden und Sterben haben sich in das Gesicht der jugendlichen Maria eingeschrieben. Jesu Leiden leuchtet in unserem Leiden auf, in unseren Dunkelheiten und Einsamkeiten. Die weinende Frau steht für alle Menschen, die unter schrecklichen Umständen jemanden verloren haben, insbesondere Mütter, die ihre Kinder wegen der Gewalttaten anderer verlieren oder generell geliebte Menschen loslassen müssen.

Der Leipziger Maler Leif Borges hat das Bildnis durch den Titel „Was dancing with tears in my eyes“ (Ich habe mit Tränen in meinen Augen getanzt) zudem mit einem Song der britischen Band Ultravox aus dem Jahre 1984 verknüpft, der das Weinen über die Erinnerung an ein vergangenes Leben bei einer nuklearen Katastrophe zum Inhalt hat: „Dancing with Tears in My Eyes“.  Von der dunklen Wolke überschattet, die Last der alles vernichtenden Katastrophe auf ihren Schultern tragend, leuchtet die Schönheit der menschlichen Kreatur auf, gezeichnet vom Kreuz des 20. und 21. Jahrhunderts, dem unerträglichen Licht und den zerstörenden Strahlen der Atombombe. Der traurige Blick der Frau nimmt die traurige Leere danach vorweg. Ihr Blick lässt die unfassbare Leere in ihrem Innern spüren, das Leid des unendlichen Verlustes des und der Liebsten.

Trotzdem wirkt das Bild nicht zwangsläufig trostlos. Denn in der zarten Farbigkeit des Bildnisses, dem in allen Details wunderschön wiedergegebenen Frauengesicht und der im Kontrast dazu weichen Landschaft leuchtet eine schöpferische Schönheit mit lebensverändernder Kraft auf. In den Anklängen an Maria und Jesus verschwimmen die Grenzen zwischen Bild und Realität und öffnen sich Zugänge zu diesen beiden menschlichen Ur- und Vorbildern. Gerade weil Jesus und Maria so viel durchgemacht haben, vermögen sie in allen das Leben durchkreuzenden, bedrohenden und vernichtenden Situationen Halt und Trost zu schenken. Sie lassen spüren, dass man nicht allein ist – im Begreifen dieses Geschehens als auch im Wissen, dass danach Ostern kommt. „Siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt,“ sind Jesu Schlussworte im Matthäusevangelium (28,20b).

In Erwartung

Eine junge Frau steht aufrecht mit verschränkten Händen über ihrem leicht gewölbten Bauch. Ihr Kopf ist leicht nach vorne geneigt, so dass eine zusätzliche Aufmerksamkeit auf ihren Händen und ihrem Bauch liegt. In der ganzen Körperhaltung ist die Frau ganz bei sich und in sich versunken. Es ist eine Innigkeit zu spüren, ein In-sich-Hineinspüren, die neue Schöpfung, das werdende Kind in sich wahrnehmend. Sie ist guter Hoffnung – wie man früher sagte – und diese Hoffnung scheint sie im Gebet vertrauensvoll in die Hände Gottes zu legen, damit alles gut werde.

Die expressive Bearbeitung des Holzes mit den tiefen Einschnitten lässt ahnen, dass eine Schwangerschaft keine Selbstverständlichkeit ist und das werdende Kind stets existenziell bedroht ist. Auch für die Mutter ist eine Schwangerschaft „kein Spaziergang“. Das Kind in ihrem Leib verändert auch ihr Leben durch und durch. Die Zeit der Erwartung ist eine Zeit der Ungewissheit: Was wird aus dem Kind werden? Wird es gesund sein? Wem wird es gleichen? Wie wird sich mein Leben durch das Kind verändern?

Wie eine Heilige steht die Frau auf dem Holzsockel. Sie ist erhöht – ist sie die Heilige der Erwartung? Die Frau, die in Demut ihre Aufgabe annimmt, dem Leben in ihr einen Platz zu geben und ihr Leben dafür hinzugeben in der Zurücknahme von sich selbst, damit das neue Andere in ihr groß werden kann und so eigenständig, dass es nach der Geburt alleine lebensfähig ist?

Auch der Advent ist eine Zeit der Erwartung. Die Adventszeit ist ein Gehen mit Maria und ihrem Kind , damit Jesus auch in uns groß werde, um ihn in der Heiligen Nacht mit Maria zu „gebären”. So wie schwangere Frauen eine ganz eigene Ausstrahlung haben, so möchte Jesus auch durch unser Tun, unsere Lebensweise und Lebenshaltung wahrgenommen werden. Eine stille Zeit der Freude soll uns beseelen. Was für eine Gnade, Gottesträger zu sein. Das himmlische Kind im und unterm Herzen zu tragen, um ihn in den dunkelsten Nächten den Bedürftigen und Armen als Licht der Welt zu schenken mit der Botschaft der Hoffnung und Freude, dass sie nicht allein sind, sondern gesehen werden von Immanuel, vom „Gott mit uns“ (vgl. Jes 7,14 / Mt 1,23).

 

I M M A N U – E L               (Wladimir Solowjow)

Ins Zeitendunkel ist die Nacht entschwunden,
In der ein Stern erstrahlte – klar und hell,
In der sich Erd‘ und Himmel neu verbunden,
In der geboren ward Immanu-El.

Zwar vieles könnte heut‘ nicht mehr geschehen:
Dass Hirten hör‘n der Engel Lobgesang,
Dass heil‘ge Könige zum Himmel sehen
Und folgen dann des neuen Sternes Gang.

Doch in der Flucht der Zeit bleibt unverloren
Das Ewige, das uns erschien in jener Nacht.
Von neuem wird das WORT in dir geboren,
Das einst im Stalle ward zur Welt gebracht.

Ja! Gott mit uns – nicht dort, in Himmelszelten
Und nicht in Sturmeswehn, in Feuer nicht und Streit,
Und nicht in Fernen unerforschter Welten,
Und nicht im Nebel der Vergangenheit.

Nein: hier und jetzt: im eitlen Weltgetriebe,
Im trüben Lebensfluss, im Alltagstrott
Tönt uns die Botschaft von der ew‘gen Liebe:
Besiegt sind Not und Tod – mit uns ist Gott.

Durchgefallen

Fallende Marienfiguren: Von irgendwoher nach irgendwohin. Vor oder unter einem cyanblauen Himmel. Mutter mit Kind im Taumel. Weder Jesus noch zum Gebet gefaltete oder andere segnende Hände vermögen einen Halt zu geben. Eine Statue nach der anderen fällt im luftleeren Raum des Dazwischens. Noch sind die Figuren ganz, doch irgendwann werden sie aufschlagen und in viele Stücke zerspringen.

Verlangende, haltsuchende Arme und Hände kreuzen die vertikale Fallbewegung. Es sind anonyme Greifarme, welche versuchen einer der Marienfiguren in der Bildmitte habhaft zu werden. Sie zu halten, festzuhalten, behalten zu können. Doch die Figuren scheinen den kraftlosen Händen schon nach kurzer Zeit zu entgleiten und ihren Fall fortzusetzen.

Ein Bild des Elends!

Auf der horizontalen, irdischen Ebene die vom Leben gebeutelten Arme, die nach Zuwendung, Leben, Liebe und Nahrung hungern, die Nackten, die keine Kleider und kein Hab und Gut haben, die Heimatlosen, Vertriebenen, die nach Halt und Geborgenheit, einem Ort zum Leben suchen.

Auf der vertikalen Achse die Himmel und Erde verbindende Vertreterin der Katholischen Kirche in vielen Ausführungen: Maria. Sie steht für Religion und Spiritualität. Sie ist durch ihren Glauben und ihr Da-Sein für Jesus und die Gläubigen ein hervorragendes Vorbild für die Christen.

Aber weder ihr Angebot noch das der Kirche(n) scheint zu greifen. Kein Handschlag kommt zustande, kein Begreifen, Zugreifen, Festhalten. Die Kirchenvertreterin und mit ihr symbolisch alle Kirchenvertreter fallen durch. Noch sind die Figuren makellos. Doch was passiert, wenn sie aufschlagen?

Ein Kreuz!

Auf der einen Seite das ungesättigte Verlangen der unzähligen, namenlosen Arme. Auf der anderen Seite das über Jahrhunderte tradierte Angebot der Kirchen, das bei vielen Menschen immer weniger ankommt, weil es nicht mehr den Bedürfnissen unserer Zeit entspricht.

Die Kirche wird im Bild durch die vom Sockel gestoßenen Marienstatuen als kalt, versteinert, bewegungslos und handlungsunfähig dargestellt. Ein kritisches Bild, das anfragt, wie die Kirche mit ihrer Haltung und ihrer Theologie Antworten auf die heutigen Fragen und Bedürfnisse geben kann, damit ihre Worte und Handlungen bei den Heilsuchenden und allen sich nach Lebensfülle Sehnenden wieder ankommen, greifen und eine feste Verbindung mit Gott schaffen.

überschattet

Eine horizontale und eine vertikale Bewegungen kreuzen sich. Es ist ein Aufeinandertreffen einer fließenden Landschaft und einer menschlichen Erscheinung. Nicht neben- oder hintereinander, sondern einander durchdringend, quasi durch das andere Element hindurchgehend ohne sich – wie bei der Durchdringung von Wasserwellen – gegenseitig im jeweiligen Fluss aufzuhalten oder zu behindern.

Die horizontale Bewegung ist durch ihre farbliche Intensität stärker als die lineare Erscheinung in der Mitte. Die leuchtenden Farben und die leichte Schwingung haben etwas Warmes, Energetisches und Beschützendes an sich. Das dunkelgrüne Band wird oben und unten von dunklem Blau begleitet, während darunter Magenta und Rot wie Magma unter einem Vulkan glühen.

Die vertikale Bewegung erhebt sich breit abgestützt aus diesem glühenden Bereich, wobei eine Diagonale von rechts unten nach links oben für zusätzliche Dynamik sorgt. Zunächst wirken die in einer bestimmten 2021_Bernd_Nestler_Licht_Art_FIN_1 geschaffenen Linien abstrakt bewegt, dann ergeben sich allerhand konkrete Assoziationen bis plötzlich der schräg geneigte, aufmerksam blickende Kopf sichtbar wird, der auf breiten Schultern ruht. Es scheint ein inneres Schauen zu sein. Wie bei einem Vexierbild erscheint rechts oben ein kleinerer Kopf, der nach rechts blickt. Somit wird auch hier ein weiteres Durchdringen angezeigt.

Der Bildtitel “Die Sehnsucht des Geistes”  verrät einen Bezug zur Verkündigung an Maria. Auf die Ankündigung des Engels, dass sie schwanger werden und einen Sohn gebären werde, fragt Maria zurück: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.“ (Lk 1,34f) Was bedeutet „die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“? In diesem Glaskunstwerk kommt der Heilige Geist nicht im traditionellen Symbol einer Taube zu Maria, sondern senkt sich wie ein engergiegeladener Nebel vorübergehend über und auf Maria.

Obwohl der Schatten nichts Wesenhaftes ist, gehört er biblisch gesehen zu den großen Wundern Gottes. Er bietet Kühlung und Schutz (vgl. Ps 36,8; 63,8) und ist als Abbild eng mit dem Wesen des Schattenspenders verbunden. Im der hebräischen Sprache lautet das Wort für Schatten – tsêl ähnlich wie das Wort für Bild – tselem. Die Überschattung Mariens steht dadurch in direktem Bezug zur Erschaffung des ersten Menschen, den Gott „als sein Bild“ – tselem erschaffen hat (Gen 1,27). Jesus ist der neue Adam, Gottes Neubeginn mit den Menschen. In Jesus offenbart Gott bis zum Tod am Kreuz (vgl. Hebr. 5,19) seine glühende Liebe zu uns Menschen, sein wahres Wesen. Moses hatte das Verlangen, Gott zu schauen, doch Gott verhüllte sein Angesicht. Gott hat Maria seinen Sohn als seinen Schatten geschenkt und sich damit gleichzeitig uns allen in ganzer Herrlichkeit offenbart.

Im Bild von Bernd Nestler legen sich die einzelnen Schichten wie ein sanfter Schleier auf und um die Schultern Mariens. Sie erfährt nicht nur das Vorrecht, sich im Schatten Gottes aufhalten zu dürfen, sondern auch von ihm nach und nach so durchdrungen zu werden, bis Sein Bild in ihr Menschengestalt angenommen hat: Die Liebe und das Leben selbst.

Gewagter Blick

Eine in ein blaues Tuch gewickelte Frau steht im Dialog mit dem Licht hinter einem raumteilenden Vorhang. Sie hat ihn ein wenig zur Seite geschoben, so dass sie unentwegt das blendend weiße Licht schauen kann. Dieses scheint auf der linken Seite so stark, dass es den Vorhang durchdringt und diesen gleichsam entmaterialisiert. Vom energiegeladenen Lichtereignis führt die Bewegung im Bild über den ausgestreckten Arm und die Falten des blauen Wickeltuches in die dunklere Ecke rechts unten, in der sich hinter der Ferse der Frau – die Wellenlinien ihrer Körperkontur aufnehmend  – eine Schlange windet. So gibt es im Gemälde ein dunkleres Diesseits, von dem aus die junge Frau den Blick wie von einer Bühne in ein unbeschreibliches Jenseits wagt.

„Maria“ nennt die Künstlerin das Bild, das die Frau „voll der Gnaden“ ganz anders als gewohnt und doch sehr treffend darstellt. Anders ist der moderne Kontext, in dem sie zwischen Licht und Schatten steht, dem „lichten“ Ruf folgend sich Gott zuwendet und dem Bösen und der Versuchung (in Gestalt der Schlange) widersagt. Treffend ist sie in ihrer Mittlerposition zwischen Gott und der Welt wiedergegeben. Es bleibt offen, im Bild die „Verkündigung an Maria“ zu sehen, die beispielhafte „Nachfolge Mariens“, eine Andeutung der „Himmelfahrt Mariens“ oder auch den „Apokalyptischen Kampf“.

Verkündigung
In traditionellen Darstellungen wird Maria vom Engel „heimgesucht“ – oder auch: „daheim besucht?“ Die Initiative liegt beim von Gott gesandten Engel, Maria verhält sich passiv bejahend (vgl. Lk 1,28-38). Hier scheint es so, als würde Maria aktiv einem Impuls der Neugier folgen, indem sie vorsichtig den Vorhang öffnet, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt, während der Engel nicht personifiziert dargestellt ist. Wer könnte dem wehren, da Maria mit so großer Zartheit und Unschuld wie beiläufig den Vorhang beiseiteschiebt, nicht ahnend, dass sie damit eine Grenze überschreitet, die über ihren Daseinsbereich hinausgeht: Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz, endlichem Raum und Zeitlosigkeit. So wird mit dem geöffneten Vorhang gleichzeitig eine höhere, heilsgeschichtliche Ebene angedeutet: Die bisher absolut geltende Grenze zwischen Gott und Mensch – für die auch der Vorhang stand, der in der Stiftshütte das Volk Israel vom Allerheiligsten trennte – wurde mit der Menschwerdung Gottes geöffnet.

Nachfolge
Durch das über ihrem rechten Arm hängende halbtransparente Tuch wird die Schwangerschaft Marias angedeutet. So kann sie als Gott schauende Christusträgerin gesehen werden. Sie erkennt in Jesus Gottes Sohn und sein Licht und folgt ihm daraufhin ihr Leben lang. So steht das Bild für die radikale Veränderung ihres Lebens, aus der eine lebenslange Haltung und Orientierung resultiert: Vorbildlich das Licht und damit das Gute im Blick zu behalten und das Leben aus dieser Grundhaltung heraus zu gestalten.

Aufnahme in den Himmel
Ihr gewagter Blick ermöglicht eine Vorschau dessen, was sie am Ende ihrer Tage erwarten wird: Vom Licht, das sie in sich aufgenommen und getragen hat und dem sie durch alle Höhen und Tiefen hindurch treu gefolgt ist, aus dem Tod erhoben, umarmt und in Ewigkeit gehalten zu werden.

Machtkampf
Ebenso finden sich Hinweise auf die schwangere Frau auf den Wolken, deren Kind vom Drachen bedroht wird (Offb 12,1-6). Der neutrale Boden wirkt durch die Schattierungen und Lichtreflexe wie ein Wolkenmeer über einer Wüstenlandschaft, es kleidet sie zwar kein Sonnenlicht, doch das starke Licht ist da und der Drache wird durch die Schlange symbolisiert. Es ist ein stiller Machtkampf zwischen Gut und Böse dargestellt, zwischen den Mächten des Himmels und der Erde, bei dem ganz klar das Licht gewinnt und die Schlange davonziehen muss. Vorbildlich hat Maria dem Reptil den Rücken zugewendet und ihre Augen zum Herrn erhoben, um ihn unentwegt zu schauen und ihr Heil von ihm zu erwarten (vgl. Ps 123).

Dieser gewagte und doch zuversichtliche Blick Mariens erhält durch den fast bildfüllenden Vorhang eine weitere Bedeutung. Während die rechte Hälfte von seiner braungrauen Farbigkeit her undurchdringlich erscheint, erstrahlt die linken Hälfte in einer zarten Farbigkeit von blauem und rotem Purpur und Karmesin und vermag dadurch auf den Vorhang im Offenbarungszelt (= Stiftshütte) zu verweisen, der das Heiligste vom Allerheiligsten mit der Bundeslade trennte (vgl. Ex 26,31ff; Ex 36,35), zu dem nur Aaron und seine Söhne Zugang hatten. Allen anderen war bei Todesstrafe der Zutritt verwehrt. Wie revolutionär mutet es nun an, wenn mit Maria eine Frau – der inneren Berufung folgend – es wagt, den Vorhang im „Tabernakel“ (lat. tabernaculum = Zelt, Hütte) mit sanfter Hand zur Seite zu schieben, um im Licht Gottes Herrlichkeit zu schauen und diese gleichsam über den Blick bejahend in sich aufzunehmen? Dadurch, dass die Künstlerin Maria ihre eigene Gestalt und eigenen Gesichtszüge gab, hat sie eine Brücke zur Gegenwart geschaffen und verstärkt die Einladung zur Nachahmung. Wir sollen wie sie die Erfahrung des Psalmisten erleben: „Meine Augen schauen stets auf den Herrn; denn er befreit meine Füße aus dem Netz.“ (Ps 25,15) Wir sollen wie sie erfahren: „Wenn wir offen sind für die Wirklichkeit Gottes, kann sich alles verändern.“ (Kardinal Marx)

Erstaunlicherweise zeigt sich Maria weder vom Licht geblendet noch erschrocken. Sie ist für die Begegnung mit Gott auch nicht besonders gekleidet. Barfuß und im übergeworfenen Umhang sieht es mehr danach aus, als sei sie eben aufgestanden, weil sie ein Klopfen oder Rufen gehört hat und nun mit dem Gewicht auf ein Bein verlagert gerade einen Blick nach draußen wagt, um den Rufer ausfindig zu machen. Maria geht einem Weckruf nach, Gottes Weckruf an uns. Alltäglich ruft Er uns aufzustehen, Ihn zu schauen, in Seinem Licht zu erkennen, was im Hier und Jetzt notwendig ist, und es mutig zu tun.

Trio natale – Verborgene Gegenwart

Verwirrt und irritiert wandert der Blick zwischen den verschiedenen Elementen dieser Krippeninstallation hin und her. Irgendwie will so gar nichts in die gängigen Bildvorlagen und -erfahrungen von Weihnachtskrippen passen: weder der sperrige Wäscheständer noch die festgeklammerten Bildtafeln mit den Umrissen von Krippenfiguren, noch das vergoldete Wandbild darüber, dessen Mitte leer ist.

Immerhin sind auf den Bildtafeln mit etwas Glück in Leserichtung die heiligen drei Könige, der Esel, die Hirten, der Ochs, Josef, Maria mit dem Jesuskind, ein Stall und der Engel zu erkennen. Wie Wäschestücke sind sie mit Holzklammern am Draht befestigt, nicht hängend, sondern stehend, auch wenn die Schatten einen anderen Eindruck vermitteln.

Die Befestigung der Bildtafeln wirkt improvisiert, vorübergehend, so wie dieser Ständer nicht als Bleibe für die Wäsche vorgesehen ist. Der mobile Wäscheständer mit X-Beinen bietet der heimatlosen Truppe einen vorübergehenden Ort zum Verweilen. Er gibt denen, die in sozial labilen Strukturen leben, trotz seiner wackeligen Konstruktion einen festen Halt, damit sie auf ihm stehen, sich zeigen und sichtbar werden können.

Von unten nach oben betrachtet bildet die Installation ein „Trio natale“, ein „Weihnachtstrio“: Wäscheständer, Krippenfiguren, vergoldetes Wandbild. Der Wäscheständer steht für unsere Zeit, für die Gegenwart. Wäschewaschen gehört zu unserem Lebensalltag wie Essen und Schlafen. Die bescheidene Konstruktion und die kreuzförmigen Beine rücken die knappen Mittel vieler Haushalte und die Mühe und Last der Hausarbeit an die Krippe heran.

Doch genau an diesem Ort, unerwartet inmitten unseres Alltags offenbart sich Gottes Gegenwart in der Geburt seines Sohnes durch Maria. Völlig überraschend, wie bei einem Wunder, stehen die Bildtafeln und weisen unauffällig auf das Wandbild darüber. Die in Umrissen gezeichneten Figuren stehen stellvertretend für Arme und Reiche, für die Menschen vom Land wie aus der Stadt. Die Silhouetten sind Werken berühmter Künstler entnommen und gleichzeitig so offen, dass der Betrachter in den einzelnen Figuren eigene Bilder sehen kann, ja in ihre Rolle schlüpfend einen Platz unmittelbar an der Krippe, beim Jesuskind, finden kann.

Jesus will in dieser Installation gesucht werden, auch wenn er wie Maria zweimal dargestellt ist: Geborgen bzw. verborgen in der Gestalt seiner Mutter ist auf der hell beleuchteten Bildtafel vorne rechts und im goldenen Wandbild jeweils links vom Kopf Mariens eine Auswölbung zu sehen, die im Original vom Kopf Jesu stammt. Die Frage bleibt: Wieso ist Jesus gerade da, wo sich alles um ihn dreht, kaum bis gar nicht zu sehen? Ist er nur noch abwesend gegenwärtig? Ist er in unserem durch eine allgegenwärtige Informationsflut und materielle Fülle gekennzeichneten Leben nur noch in den Zwischenräumen als Negativbild da? Unsichtbar in den aus einer fernen Epoche, mit der wir nicht mehr viel gemein haben, entlehnten „Krippenfiguren“?

Das quadratische Wandbild mit der ausgesparten Abbildung der Sixtinischen Madonna von Raphael bildet den Höhepunkt im vertikalen Aufwärtsstreben. Im Gegensatz zum ärmlichen Wäscheständer, der geerdet auf dem Boden der Tatsachen steht, bringt das goldglänzende Wandbild eine überirdische Komponente in die Installation. Außergewöhnlich in seiner Leuchtkraft, erhoben über der bescheidenen Krippe auf dem Wäscheständer, bewirkt das Bild eine Verherrlichung der Gottesmutter und ihres Kindes. Die schwebende Darstellung verknüpft die abwesende Figur der freien Bildmitte mit der apokalyptischen Frau, deren Kind nach der Geburt zu Gott und zu seinem Thron entrückt wurde, um es vor dem Drachen zu schützen (Offb 12,1-6).

Ähnlich dem Goldgrund einer Ikone weist der vergoldete Rahmen auf die Heiligkeit seiner Mitte hin. Einer Mitte, die offen ist für das sichtbare oder unsichtbare Bild, das durch uns hineingelegt wird: Unsere Vision des Jesuskindes, unser verinnerlichtes Bild des menschgewordenen Gottessohnes, der mitten unter uns gewohnt hat und der durch uns weiterhin in unserer Welt wohnen und wirken will. Wo sich die Zwischenräume füllen, wo die Krippenfiguren lebendig werden, da ist auch für uns das Kind geboren.

„Darum jubelt, ihr Himmel und alle, die darin wohnen.” (Offb 12,12)

Die Arbeit von Jörg Länger ist im Original bis zum 23. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” target=”_blank” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen. Sehr empfehlenswert! 

Präsent

In der als Diptychon geteilten, kleinformatigen Arbeit begegnen sich und auch uns ganz unterschiedlich gestaltete Bildwelten, die scheinbar unvermittelt nebeneinanderstehen:

Das linke Bild zeigt Maria aus der von Matthias Grünewald zwischen 1512 bis 1516 gemalten Verkündigungstafel des „Isenheimer Altars“. Durch den knapp bemessenen Bildausschnitt ist die Gestalt Mariens aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und von allen umgebenden Bildsymbolen freigestellt. So bleibt der Fokus auf ihrem seitlich abgewendeten und nach hinten geneigten Kopf, der ihr überraschtes Zurückweichen vor dem Engel, aber auch ihr konzentriertes Hinhören zum Ausdruck bringt. Am rechten Bildrand – in Verlängerung der diagonal ins Bild führenden gelockten Haarsträhne – weisen die zum Gebet gefalteten Hände bereits auf die andere Seite des Diptychons.

Die zweite Bildfläche ist bis auf die Zeichnung rechts oben ganz in lichtem, changierendem Grau gehalten. Eine zart angedeutete Mauer füllt die unteren zwei Drittel des Hochformats. Die obere Abschlusskante setzt sich in das linke Bild fort und verbindet dadurch beide Bildtafeln miteinander. Wo in Grünewalds Originalbild mächtig der rot gewandete Engel vor Maria steht, ragen hier von rechts oben nur zwei im gleichen Rot gehaltene Hände ins Bild, die ein mit Geschenkband verschnürtes Päckchen halten. Die fein umrissenen Hände erinnern an Kinderhände oder an die eines Engels, die das Paket von jenseits der Mauer und aus dem Himmel in den Bildraum hineinreichen. Anstatt es freudig entgegenzunehmen, beäugt Maria die Gabe abschätzend aus den Augenwinkeln, denn die eingeschriebene Kreuzform wird ihr nicht entgangen sein. Noch bleiben die Hände geschlossen im Gebet, nur die gekreuzten kleinen Finger mögen andeuten, dass sie ihre stille Frage, wann der HERR den verheißenen Messias sendet, mit ins Gebet genommen hat. Die zeitenwendende Antwort des Engels lautet: Jetzt! – Und auf ganz andere Weise, als sie es erwartet hätte, weil sich seine Ankunft ganz persönlich mit ihrem Leben verbindet. Darum erschrickt Maria bei den Worten des Engels. – Und aus dem Lukasevangelium wissen wir, dass sie das Geschenk angenommen hat: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38)

Das Diptychon thematisiert neben der Glaubenserfahrung Mariens auch unsere eigene. Manches Widerfahrnis stellt sich im Nachhinein als großes Geschenk, als großer Segen dar, obwohl wir es uns nicht ausgesucht hatten und es, wenn man uns gefragt hätte, rundheraus abgelehnt hätten. „Präsent“ bedeutet sowohl „Geschenk“ als auch „Gegenwart“. Der Andachtsbildcharakter der Arbeit lädt uns ein, beide Bildhälften mit unserem eigenen Leben in Beziehung zu setzen: Als Ereignis im Jetzt. So präsent wie Maria das Geschehen bei der überraschenden Verkündigung durch den Engel Gabriel erlebt hat. Und genauso wie Matthias Grünewald rund 1500 Jahre später seine Verkündigung an Maria als gegenwärtiges Geschehen in das Spital der Antoniter versetzt hat, damit die Kranken Jesus leibhaftig vor Augen sehen und in ihrem Herzen aufnehmen konnten.

Vielleicht hilft uns bei unseren Überlegungen, dass der Engel Maria zweimal als Frau der Gnade angesprochen hat: zuerst als „Begnadete“, dann als diejenige, die „bei Gott Gnade gefunden“ hat (Lk 1,28.30). Im „Ave Maria“ wiederholen wir den englischen Gruß, wenn wir beten: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir“. Wie Maria bietet Gott auch uns seine Gnade als Geschenk an:  Seine heilsame, Heilung bewirkende Gegenwart in uns, Gottes innigste Zuneigung zu und Liebeserklärung an uns!

Bund für‘s Leben

Die Botschaft des Engels an Maria, dass sie den Sohn Gottes empfangen und gebären werde, ist per se raum- und zeitfüllend. Die gebogenen Flügel des herabsteigenden Engels füllen dynamisch die Bildfläche, den Körper des Engels verhüllend und gleichzeitig seine Herkunft offenbarend: Er ist ein Bote des Himmels und des Lichts. Und er ist ein Bote, der seinem Gegenüber auf Augenhöhe begegnet, ihm zugeneigt Gottes Gedanken und Entschlüsse auf eindringliche Weise übermittelt.

Maria ist in den Farben des Himmels gekleidet, weil sie „Magd des Herrn“ ist, Ihm gehörend und offen für sein Wort. Ihre Arme und Hände bilden einen geschützten Bereich, in deren Oval die Umrisse eines Kleinkindes zu erkennen sind. Die grüne Farbe hinter ihr und in ihrem Kleid weisen auf ihre irdische Herkunft und gleichzeitig auf ihre Fruchtbarkeit hin. Sie wird „ein Kind empfangen, einen Sohn gebären“ durch die „Kraft des Höchsten“ (vgl. LK 1,31.35).

Spiralförmig konzentriert sich der bewegte Lichteinbruch im Bauchbereich des Engels, um von dort zu Maria weiterzufließen und im Kind sein Ziel und seine Erfüllung zu finden.

„Der Herr ist mit dir“ offenbart kraftvoll die überwältigende Gnadenfülle. Der Engel überbringt des Himmels Fülle einer Frau, die bescheiden am Rande steht. Gott nimmt sie persönlich unter seine Flügel und seinen Schutz. So wie das Licht Maria umgibt und sie zärtlich berührt, verdeutlicht der Engel die respektvolle Gegenwart des Höchsten, welcher sie „überschattet“ und durch ihr Einverständnis fruchtbar werden lässt.

In den zwei sich hier begegnenden Welten wird deutlich, dass stellvertretend gerade ein grenzüberschreitender „Bund für‘s Leben“ geschlossen wird: Gottes bedingungsloses Ja zu uns Menschen und das ebenso freie Ja Mariens als Antwort auf das Wort Gottes bilden die Grundlage für die Entstehung einer neuen Lebensdimension. Zuerst in der Gestalt von Jesus. Gott hat sich erniedrigt und ist Mensch geworden (vgl. Phil 2,6-8). Jesus ist die Menschwerdung des göttlichen Lebens. In der Folge entstand durch sein Zeugnis und die Hingabe seines Lebens in den Menschen neue Hoffnung und neues Leben. Und schließlich verbinden die Christen durch den Glauben an Jesus und seinen Vater die Erde mit dem Himmel und erleben das Leben in einer Fülle, die durch die Hingabe Jesu sogar die zeitliche Begrenzung durchbricht und in ewiges Leben einmündet (vgl. Joh 10,10; 11,25f).

Heilsgeschichtlich gesehen findet das Ja Mariens sein Vorbild im Alten Bund, den Gott durch Moses mit seinem Volk geschlossen hat. Bevor Mose das Volk mit dem Blut des Bundes besprengte, antwortete es nach der Verlesung der Zehn Gebote und aller Vorschriften: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen.“ (Ex 24,7) Ähnlich hingebungsvoll sagte Maria: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38) Sie ebnet den Weg, damit Jesus den Neuen Bund mit der Hingabe seines Lebens vollenden und mit seinem Blut besiegeln kann (vgl. Lk 22,20).

Durch Maria erneuert Gott seine grenzenlose Liebe zu uns Menschen und zum Leben. Durch ihr Ja zu Gott und zu seinem Sohn Jesus, der nun in ihr Wohnung bezieht, verbinden sich ihre Lebensgeschichten untrennbar zur neuen Lebensgemeinschaft von Gott und Mensch auf Augenhöhe.

Gottes Liebe ist ausgegossen

Visionär ist die Schau, in der sich das Licht aus der Höhe in die menschliche Dunkelheit ergießt und sternförmig über einer winzigen Menschengruppe aufstrahlt. Denn dass ein Gott, der per se überirdisch, ewig und damit transzendent ist, sich entäußert und Menschengestalt annimmt, ist schlichtweg unvorstellbar.

Doch weil bei Gott nichts unmöglich ist, kam er in Jesus Christus zu uns auf die Erde und wurde durch Maria Mensch. Diesem Wunder nähert sich die Künstlerin ebenso wie die Heilige Schrift in Symbolen.

Gott ist Licht. Seine Ewigkeit wird durch die Kreisform, die keinen Anfang und kein Ende hat, beschrieben. Im Innern dieses Kreises erzählen wunderbar bewegte rote und gelbe Linien, dass Gott die Quelle des Lebens ist. Im weißen Herz kommt zum Ausdruck, dass Er reine schöpferische Liebe ist, die über sich hinauswachsen will. Davon erzählt die Schöpfungsgeschichte, die mit der Erschaffung des Lichts begann und mit der der Menschen endet (Gen 1,1-31).

Jesus ist das Licht der Welt, weil er aus dem Licht kommt. Durch die Parallelen zur Schöpfungsgeschichte verankert der Evangelist Johannes im Prolog seines Evangeliums Jesus in Gott, wenn er schreibt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,1-4)

Mit Jesus schenkt Gott seiner Schöpfung einen Neuanfang. Doch dieses Mal geht es nicht um die Erschaffung einer materiellen Welt, sondern um die Erneuerung des Menschen. Deshalb schreibt Johannes: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. […] Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut […], sondern aus Gott geboren sind.“ (Joh 1,9.12.13d)

Jesus ist der Erstgeborene dieser neuen Schöpfung. Im Bild ergießt sich das Licht in die Dunkelheit hinein. Es bahnt sich einen bleibenden Weg durch die Dunkelheit und explodiert förmlich in einem großen leuchtenden Stern über der kleinen Menschengruppe. Diese ist aus Wachs geformt und vor dem unteren Bildrand auf einer Zündholzschachtel erhöht angeordnet. Maria im blau-roten Kleid kniet anbetend vor der Krippe ihres Neugeborenen, Josef steht als Hirte gekleidet daneben.

Die Künstlerin hat mit dem gekneteten Wachs symbolisch den neuen Adam geschaffen. Indem sie ihn figürlich geschaffen hat, ließ sie das (gemalte) Licht Materie annehmen. Sie bildet damit ab, wie „das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14a).

Die Streichholzschachtel ist ein Hinweis, dass wir uns aufmachen, uns begeistern und anzünden lassen, und so Licht werden sollen. Sein Licht will wie der Stern im Bild in uns leuchten. Denn die schwarze Fläche im Bild ist mehr als ein effektvoller Hintergrund. Sie ist die symbolische Darstellung alles Dunklen in unserem Leben. Sie ist Ausdruck unserer Verlorenheit ohne Retter. Sie zeigt unsere Sehnsucht nach Licht, nach Erleuchtung und Orientierung, letztlich nach Gott.

Carola Wedell führt uns mit ihrer visionären Schau erneut die großen Zusammenhänge der Geburt Jesu vor Augen. Und alle, die von seinem Licht erleuchtet sind, die sein Wort in sich aufnehmen und ihm Wohnung geben, können staunend in das Bekenntnis des Johannes einstimmen: „Wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14b).

Die Arbeit von Carola Wedell war in der 79. Telgter Krippenausstellung “Auf der Suche nach dem Licht der Welt” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen. 

mir geschehe

In einer blau-weißen Fläche sind zwei ausgebreitete Flügel oberhalb von zwei gekreuzten Händen zu sehen. Totale Offenheit und Fülle stehen so einer ebenso grenzenlosen Hingabe und Verfügbarkeit gegenüber. Als drittes Element führen von unten sich erhebende Falten wie Felsklippen aus der grünen Ebene aufsteigend zu den ebenfalls nach oben weisenden Händen. Alle Elemente sind Öffnungen oder Durchblicke auf das unter der Übermalung liegende Geschehen der Verkündigung des Engels Gabriel an Maria, dass sie den Sohn Gottes empfangen und gebären werde.

Reinhild Gerum hat dazu eine Postkarte mit der Abbildung der Verkündung an Maria im Genter Altar von Jan van Eyck mit Wachsstiften so übermalt, dass diese Übermalung (mit Kratzstrukturen) wie ein Vorhang das meiste verdeckt und die auf wenige Elemente reduzierte Darstellung das Geschehen verdichten. Der „Vorhang“ mit dem schönen symbolischen Farbverlauf (von oben nach unten) rot (Liebe) – blau (Himmel) – weiß (Vergeistigung) – grün (fruchtbare Erde) bringt die Worte des Engels zum Ausdruck: „Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (Lk1,35)

Im Zentrum des Geschehens bewegen die Hände den Betrachter. Die Haltung der beiden Hände bildet zugleich eine Herzform, um damit das darunter liegende unsichtbare Herz anzudeuten, aus dessen Regung und Hingabe heraus Maria geantwortet hat: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie Du gesagt hast.“ (Lk 1,38)

Diese Antwort erscheint zudem in kaum lesbaren Schriftbild links über den Händen. Die gotische Schrift, die lateinische Sprache, eine auf dem Kopf stehende Schrift und die partielle Übermalung machen es dem Betrachter schwer, das „Ecce ancilla domini“ – „Siehe [ich bin] die Magd des Herrn“ lesen zu können. Aber gerade dadurch wird die Antwort Mariens stärker und aussagekräftiger: Was für den Menschen rätselhaft und unverständlich bleibt, soll für Gott, hier für den Heiligen Geist symbolisch in der Gestalt einer Taube dargestellt, gut lesbar und verständlich sein.

Ansichtskarten waren lange Zeit das Medium zum Versenden von Urlaubs- und Reisegrüßen von Orten mit Sehenswürdigkeiten. Reinhild Gerum greift diese Funktion in doppelter Hinsicht auf. Durch die Verwendung einer Postkarte als auch durch das Verkündigungsmotiv trägt sie die sensationelle Botschaft weiter. Durch die Übermalung des tradierten Bildmotivs hat sie es zudem personalisiert und aktualisiert. Sie hat die gegenständliche Darstellung von Jan van Eyck, die in manchen Bereichen noch leicht durchschimmert, durch die Übermalung in den Hintergrund rücken lassen und durch die Konzentration auf wenige Elemente spirituellen Freiraum für den Betrachter geschaffen, damit Gedanken und Visualisierung zur eigenen Berufungserfahrung aufsteigen können.

Diese und 999 weitere Postkarten von Reinhold Gerum waren bis zum 6. Januar 2020 im Kultum, dem Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz in der Ausstellung Fein bist du, Sicht! – 1000 Kunstkarten zu sehen. Zur Ausstellung erschien ein Katalog, der im Kulturzentrum für 15 Euro bezogen werden kann.

Wahrheit

Drei unterschiedliche Elemente bilden ein erzählerisches Ensemble. Die Abbildung der Stoffe und Perlen in der linken Arbeit, die Proportionen und Umrisse der beiden anderen Arbeiten weisen in dem modernen Bilderrätsel auf eine weibliche Hauptdarstellerin hin. Dabei verbindet die hellblaue Farbe die linken beiden formal, die lichte Farbigkeit die äußeren beiden Arbeiten.

Ungewöhnlich ist die Ausweitung der blauen Stoffelemente in der Fotografie durch das Anfügen von seitlichen Flächen. Dadurch wächst die rechteckige Fotografie in den Raum und es können in den blauen Flächen Ärmel eines größeren Gewandes gesehen werden.  Der Bildausschnitt von vorne spielt mit der Gesamtansicht von hinten der mittleren Figur und der kleinen Gesamtansicht in der Mitte der Fotografie. Im Zentrum dieses rechteckigen Ausschnitts wird – umspielt von den Perlen eines Rosenkranzes – in einem kleinen Medaillon auf Maria hingewiesen. Als gläubige Frau hat sie uneingeschränkt JA zu Gott gesagt (Lk 1,38) und dadurch die Wahrheit erfahren, dass Gott zu seinem Wort steht und er als Schöpfer der Welt durch einen Menschen Mensch geworden ist.

So wie sich Gott „entäußert“ (Phil 2,7) hat, um Mensch zu werden, scheint die rechte Figur darauf hinzuweisen, dass sich auch der Mensch „entäußern“ muss, wenn Gott in seinem Leben Platz haben und groß werden soll. Die Frauenfigur auf Zehenspitzen und mit erhobenen Armen zeigt sich im Profil  beim Entkleiden ihres Obergewandes. Sie zieht alles Überflüssige aus, entledigt sich ihrer Kleider, kehrt das Innere nach außen oder macht es zumindest sichtbar. Es ist, als wolle sie im Gegensatz zum Artefakt ganz links sagen, dass die Wahrheit nicht in äußeren Dingen und Symbolen liegt, sondern im Innern, im Herzen verborgen. Weil bei Gott nicht die Äußerlichkeiten zählen, sondern die innere Haltung.

Die beiden Gipsfiguren sind in genähten Stoffbeuteln gegossen worden. Die textile Prägung ist ihnen nach dem Entfernen der Stoffe auf der Oberfläche geblieben. Wie auch immer wir uns Gottes Wahrheit öffnen, die Silhouette und der textile Abdruck weisen darauf hin, dass wir erdgebundene Menschen bleiben. Wohl dem, der sich entsprechend demütig verhält, sich klein macht, gering schätzt. So wie Maria. Wo wir – wie sie – unsere Menschlichkeit von Gottes Wort durchdringen und prägen lassen, wird sich uns eine Wahrheit offenbaren, die im Glauben alles irdische Erkennen übersteigen und damit das Verborgene sichtbar machen wird.

Die Arbeit von Andrea Hess war für den Kunstpreis der Erzdiözese Freiburg 2019 nominiert und im Rahmen der Ausstellung WAS IST WAHR an verschiedenen Orten Deutschlands zu sehen (siehe Ausstellungshinweise). Der Katalog zum Kunstpreis ist beim Mondo Verlag erhältlich.

Abdruck des Leids

Das Gesicht, das einen durch das gitterförmige Gewebe hindurch anschaut, irritiert. Einerseits, weil es durch das faltige Gewebe zum Teil verdeckt ist, andererseits wegen seines Zustands. Die leicht geneigte Kopfhaltung, die halb geschlossenen Augen, die geröteten Augenränder und der halboffene Mund erzählen von erlittenem Leid. Die Augen der Frau lassen die Vermutung zu, dass sie geschlagen worden ist und geweint hat (große Ansicht).

Der Zustand der Gaze verstärkt diesen Eindruck. Die zerrissenen und ausgefransten Stellen stammen vermutlich von einem Kampf, die verdickte braune Farbe, dass jemand durch den Dreck gezogen und beschmutzt worden ist. Insbesondere die bewegten Randbereiche, in denen die Haare und das ausgefranste Gewebe der Gaze ineinander übergehen, suggerieren erlittenes Leid, das an die Substanz gegangen ist

So vermittelt das mit dem leichten Stoff überlagerte Gesicht den Eindruck, als wäre aus ihm alles Leben gewichen, als wäre es nur noch eine leblose Maske eines Körpers, der bereits tot ist. Eine Assoziation geht deshalb in die Richtung eines Leichentuches, das den Kopf einer Verstorbenen und das erlittene Unrecht verhüllt und gleichzeitig kundtut.

Das im feinen Gewebe wiedergegebene Gesicht knüpft zudem an den Schleier von Manoppello an, welcher auf unerklärliche Weise das Antlitz Christi auf einem sehr feinen Gewebe wiedergibt. Das heilige Gesicht auf dem Schleier wird als das echte Schweißtuch der Veronika verehrt. Da das vorliegende „Schweißtuch“ ein weibliches Gesicht zeigt, wird zudem eine Brücke zu Maria und den weinenden Frauen geschlagen, die Jesus auf seinem Leidensweg begleitet und auf ihre Weise Jesu Leid mitgetragen haben (vgl. Lk 23,27).

Und nicht zuletzt gibt die Arbeit all die vielen Menschen ein Gesicht, die aus irgendeinem Grund im Wasser ihr Leben verloren und mit einem Netz aus dem Wasser gefischt worden sind.

So bringt der „Stofffetzen“ gleichzeitig ganz Verschiedenes zur Sprache. Die Gaze, die üblicherweise zum Verbinden von Wunden verwendet wird, vermag in allen Fällen das erlittene Leid und die seelischen und körperlichen Wunden nicht abzudecken oder zu verbinden. Die Nähe zum „Volto Santo“ von Manoppello und alle anderen Assoziationen machen deutlich, dass es einen Zeitpunkt im Leben gibt, an dem es kein Halten mehr gibt, kein Aufhalten oder keine Umkehrung des Leidensweges.

Dann tut die Gewissheit gut, dass Gott jeden von uns gerade dort unsichtbar hält, wo alle irdischen Bindungen reißen. Ermutigend und stärkend hat dies der Beter zu Beginn des Psalms 31 formuliert (V. 2-6):
„Herr, bei dir habe ich mich geborgen. Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit; rette mich in deiner Gerechtigkeit! 
Neige dein Ohr mir zu, erlöse mich eilends! Sei mir ein schützender Fels, ein festes Haus, mich zu retten! 
Denn du bist mein Fels und meine Festung; um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten.
Du wirst mich befreien aus dem Netz, das sie mir heimlich legten; denn du bist meine Zuflucht. 

In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist; du hast mich erlöst, HERR, du Gott der Treue.“

Diese Arbeit wurde 2019 im im Dom Museum Wien in der Ausstellung “Zeig mir deine Wunde” gezeigt. Über 40 künstlerische Positionen brachten die verschiedenen Aspekte von Verwundungen in unserem Leben zum Ausdruck.

Mystische Präsenz

Eine hölzerne Spindelform hängt mittig über einem tiefblauen Kreisrund. Spannungsvoll sind mehrere Gegensätze inszeniert: das hängende Längliche über dem flachen Liegenden, das helle Glatte schwebt über der dunkel aufgerauten Oberfläche der Erdschollen, die vergoldete Spitze bildet einen kraftvollen Höhepunkt gegenüber der tiefblauen Fläche unter ihr.

Die einzelnen Elemente als auch ihre Interaktionen bringen vieles zur Sprache. Das Bodenrund lässt durch seine Position an Wasser und das Meer denken, seine intensive blaue Farbe bringt zudem die unendliche Weite des Weltalls ins Spiel, die runde Form wiederum mag an Bilder aus dem Weltall erinnern, die unsere Erde als einen blau leuchtenden Planeten zeigen. Durch seine außerordentliche Farbintensität und die Kreisform wirkt das Bodenelement transzendierend.

Das zentrierende und erhebende Element in der Installation ist die Holzspindel. Ihr Material erinnert an den Kreislauf des Wachsens und Vergehens von allem Irdischen. Sein runder Querschnitt nimmt den Bodenkreis auf, die beiden spitzen Enden bilden eine vertikale Achse, die oben vom Seil fortgesetzt wird und nach unten auf die unsichtbare Mitte des Bodenkreises weist. Die absolut symmetrische und gleichmäßige Form im Längen-Breiten-Verhältnis von etwa 3:1 gibt dem Holzobjekt eine schlichte Schönheit. Zusammen mit dem leicht schwingenden Schwebezustand und der „Krönung“ mit einer Schicht Blattgold schaffen sie eine überirdische Präsenz, die durch eine unsichtbare Kraft von Oben gehalten wird und besonders ausgezeichnet wurde.

Damit ist die Installation offen für tiefergehende Deutungen. Unter anderem kann die Spindelform als stilisiertes Zeichen der Offenbarung Gottes – wie es der Mandorla zugeschrieben wird – gesehen werden. Hier ist es eine dreidimensionale Mandorla – nicht aus ungeschaffenem Licht – sondern aus irdischem Holz, entrückt und doch von oben gegeben als Tor zum Himmel. Die schlichte und makellose Erscheinung mit ein wenig Blattgold vermag damit symbolisch auf Maria und ihre Aufnahme in den Himmel und ihre Krönung hinzuweisen. Sie ist die Stella maris, der helle Stern über dem Meer, der allen auf dem „Meer des Lebens“ die richtige Richtung weist. Das Blau des Erdhügels kann sich auch auf den über der ganzen Erde ausgebreiteten Mantel Mariens beziehen, den sie wie in Kirchenliedern besungen über der ganzen Christenheit zum Schutz vor Gefahren ausbreiten soll.

Die Spindelform könnte auch ein Symbol für Jesus sein, der für uns Mensch geworden ist, damit wir durch ihn zum Vater finden. Er ist erhöht worden, damit alle zu ihm aufschauen und durch ihn gerettet werden.

Nicht zuletzt lädt die Installation zur Meditation ein, zum Ruhig-Werden mit und in all unseren Bewegungen. Sie lädt mich ein – und in dem Fall wird das Pendel zu einem Symbol für jeden von uns – mich immer wieder neu auf die geheimnisvolle Gegenwart Gottes in mir einzupendeln, in Einklang zu kommen mit Ihm, damit Er auch durch mich in der Jetzt-Zeit Gutes bewirken kann.

Die Installation war 2018 im Rahmen der Ausstellung Maria ImPuls der Zeit zum Fest Maria Himmelfahrt in Warendorf zu sehen. 

Reinheit

Eine junge Frau sitzt in einem Waschsalon mit gekreuzten Beinen auf der Abdeckung von drei Waschmaschinen. Gelassen schaut sie den Betrachter an. Über ihrem Schoß liegt ein weißes Bettlaken, das einen Blutfleck aufweist, der sich genau am Ende ihres langen Kleides und über der Einfüllklappe der Waschmaschine befindet. Neben der jungen Frau steht etwas abseits eine weiße Lilie auf der Arbeitsfläche. Zusammen mit dem Laken verbindet sie optisch die weiße Front der Waschmaschinen mit der weißen Rückwand.

Im Bild ist bis auf den roten Fleck alles sauber oder am Sauber-Werden. Dadurch werden in diesem kühlen und fast sterilen Ambiente mit den wenigen Accessoires so gegensätzliche Begriffe wie Beschmutzen und Waschen, Verunreinigen und Reinwaschen, Unschuld und Sünde, Rein und Unrein thematisiert und mit der auf den Waschmaschinen „erhöhten“ Frau mal mehr dem Himmel oder der Erde zugeordnet. Unwillkürlich muss man an Maria denken, die vor der Geburt Jesu „keinen Mann erkannte“ (Lk 1,34) und so weder ihre „Unschuld verloren“ hatte, „entjungfert“ oder „unrein“ wurde. Damit wird sie aus allen Frauen herausgehoben und erhält sogar unter allen Menschen eine einzigartige Stellung.

Im Bild befindet sich die Frau selbst in einer Grauzone, die mit ihrem melierten Dazwischen bereits auf eine Fülle von Fragen anspielt. Ihr Kopf ragt in den nahezu entmaterialisierten weißen Wandbereich, der überirdische Transzendenz andeutet. Doch während ihr Oberkörper mit den langen Haaren, dem freien Dekolleté und den bloßen Armen eher freizügig offen ist, sind die Beine mit dem langen Kleid schamhaft verhüllt. Auch steht die weiße Lilie symbolisch für ihre Reinheit, doch stellt der rote Fleck auf dem Laken ihre Unversehrtheit in Frage.

Das kühle Bild zeigt auf den ersten Blick grauen Alltag. Volle Waschmaschinen waschen verschmutzte und mit unerwünschten Gerüchen belastete Kleidungsstücke wieder sauber. Die Frau scheint zu warten, bis eine Maschine frei wird, um auch das letzte Laken waschen zu können. Die geöffnete Klappe links vorne lässt diese These jedoch ins Leere laufen und eher vermuten, dass die Frau auf etwas anderes wartet oder besser in Erwartung von jemand anderem ist. Die Art, wie das Laken auf ihrem Schoß liegt, deutet auf Jesus hin, der am Kreuz sein Blut für uns Sünder hingegeben hat und nach seinem Tod auf ihren Schoß gelegt worden ist (Darstellung der Pieta). Die Erwartung wird damit weit über die Geburt hinaus auf den alle Schuld tilgenden Tod Jesu ausgedehnt.

Das mittig im Bild platzierte weiße Laken hat deshalb eine zentrale Funktion im Bild. Es steht für Beschmutzung oder Verunreinigung jeglicher Art, die wir selbst nicht einfach wegwaschen können. Weil wir auf die Vergebung von Gott und den Mitmenschen angewiesen sind, sitzt die junge Frau wahrscheinlich so wartend da. In Bezug auf Gott kann das Laken auch wegen der Reinheit und dem Blut ein Symbol für Jesus sein, weil er beide eingesetzt hat, um uns von unseren inneren Verunreinigungen rein zu machen (vgl. Offb 1,5). Er sagte: „Was aus dem Menschen herauskommt, das macht den Menschen unrein. (Mk 7,20). Denn das Herz ist der wahre Ort der Reinheit oder Unreinheit. Deshalb bittet der Psalmist Gott um ein „reines Herz“ (24,4; 51,12), damit er bei Gott Gefallen findet. Er möchte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Denn Gott schaut in das Herz des Menschen, wenn er sich ihm zuwendet (u. a. Ps 139).

Milena Alemanno ist es gelungen, mit dieser und fünf weiteren „zeitaktuellen Inszenierungen, hinter denen alte ikonografische Vorbilder auftauchen“, … ein Nachdenken über Begrifflichkeiten, Ideale und vielleicht auch Dogmen, etwa die Unbefleckte Empfängnis, in Gang zu setzen. … Aus der Spannung zwischen profanem Realismus der Darstellungsweise und sakralem Inhalt beziehen die Foto-Arbeiten ihren irritierenden Reiz.“ (Dr. Barbara Weyandt, Maria ImPuls der Zeit 2018, S. 15f).

Weitere Arbeiten dieser Serie:

  • Bloody Mary
  • Maria Magdalena
  • Thron der Weisheit
  • Marienkäfer
  • Mary Jane

Die sechs Arbeiten waren 2018 in der Ausstellung Maria ImPuls der Zeit zum Fest Maria Himmelfahrt in Warendorf ausgestellt.

Licht vom Himmelsthron

Unser Blick wird durch eine leicht abgewinkelte rechteckige Öffnung auf ein lichtes Geschehen geführt. In der rechten unteren Ecke sitzt eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß. Sie sind vom sonnengelben warmen Licht durchdrungen, der Kopf des Kindes ist umgeben von einem Heiligenschein. Auf sie beide zeigt von oben ein übergroßer Finger, der sich bald als Engel offenbart, dessen Flügel wie ein Strich auf Jesus und Maria deuten. In dieser Direktheit vermag man die Stimme Gottes zu hören, wie sie bei der Verklärung aus den Wolken zu den anwesenden drei Jüngern sagte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören“ (Mt 17,5).

Gleichzeitig ist man versucht, in dem Engel Gabriel zu sehen, der zu Maria hinuntersteigt und ihr ankündigt, dass sie auserwählt wurde, den „Sohn des Höchsten“ in sich zu tragen und zur Welt zu bringen. Das Kind wäre in diesem Fall eine Visualisierung des Zukünftigen.

Gegenüber von Jesus und Maria neigt sich auf der anderen Seite der bühnenartigen Darstellung eine dreiteilige Menschengruppe ins Bild hinein. Auch sie sind Randständige. Ihre Schräglage kann sich auf ihre Lebenssituation beziehen, aber auch als ein sich ins Licht hineingeben. Sie trauen sich, die Dunkelheit zu verlassen und sich vom Licht erfassen zu lassen. Damit neigen sie sich gleichzeitig Jesus zu und verneigen sich vor ihm. Denn das Licht, das vor ihnen her gezogen ist, weist nun in Gestalt eines Engels auf den lang Ersehnten und Gesuchten. Wunderbar ist die Offenheit, mit der die Künstlerin die Begegnung darstellt. Aus der Darstellung geht nicht hervor, ob es sich um die drei Könige handelt, die zu Jesus kamen, um ihm die Ehre zu erweisen und ihn anzubeten.

So klar die drei Personengruppen in einer Dreieckanordnung erkennbar sind, so werfen doch die beiden braunroten Elemente beidseits des Engels Fragen auf. Mit ihren dunklen Farben haben sie etwas Bedrohliches an sich, das über dem Kind schwebt. Sie muten wie Schatten oder Vorboten des Leids an, welches Jesus später zu ertragen und durchleiden hat. Links mag ein Kreuzesbalken angedeutet sein, rechts eine spitzige Waffe.

Überwältigend an diesem Bild ist jedoch das intensive, warme Licht. Es lässt die 3. Strophe des Adventsliedes „Tauet, Himmel, den Gerechten“ (GL 474) hören, in der es heißt: „Und in unsres Fleisches Hülle kommt zur Welt des Vaters Sohn. Leben, Licht und Gnadenfülle bringt er uns vom Himmelsthron. Erde jauchze auf in Wonne bei dem Strahl der neuen Sonne, bald erfüllet ist die Zeit, macht ihm euer Herz bereit! Bald erfüllet ist die Zeit, macht ihm euer Herz bereit!”

Marias Herz war bei der Ankündigung durch den Engel bereit gewesen. Durch ihr bedingungsloses Ja zu Gottes Willen wurde sie Mutter. Aus der Frau am Rande wurde sie zur Mutter von Gottes Sohn. Für uns Menschen ist sie Schwester. Und Vorbild zu unserem Ja zu Gottes Willen. Sie ist uns Hilfe auf unserem Weg der Erwartungen und der Suche, auf unserem Weg zu Gott …

Lassen wir uns hineinnehmen in die Gnaden-, Licht- und Lebensfülle vom Himmelsthron, mit der Jesus alle beschenkt, die Ja zu ihm sagen.

Gottesmutter – Menschenmutter

Maria wird als junge Frau und Mutter dargestellt. Sie trägt in einer Kleinkindtrage ihren lachenden Sohn, der durch die Wunden an Armen und Füßen bereits auf seinen Tod am Kreuz hinweist. Maria selbst steht mit ihren ausgebreiteten Armen in Kreuzform da. Ihre Augen sind geschlossen, sie lächelt nach innen gekehrt. Ihr Haupt ist mit einem Diadem gekrönt. Über ihr schwebt im Sternbild der Jungfrau der Heilige Geist als Symbol einer Taube. Sie ist die Jungfrau, die von der „Kraft des Höchsten“ überschattet wurde und so den Sohn Gottes empfing und gebar (vgl. Lk 1,35; 2,7).

Übergroß steht Maria auf dem Erdenrund. Der Mond umgibt ihren Kopf wie einen Heiligenschein. Hinter ihr breitet sich die Unendlichkeit des Alls aus. Mit ihrem weiten Mantel gewährt sie vielen Menschen Schutz. Ihre Arme sind die verlängerten Arme von Jesus. Letztlich ist es Er, der durch seine Mutter und alle Frauen, die wie Mutter Teresa seinem Ruf gefolgt sind, Gottes Gegenwart mitten unter die Menschen bringt, dorthin, wo die Menschen seinen Beistand am dringendsten benötigen.

Als Mensch, der in seinem Leben übergroß Gnade erfahren hat, teilt sie diese Gnadenfülle mit den Mitmenschen, die ihrer am meisten bedürfen: mit dem Kleinkind, das von seiner Mutter Jesus entgegengestreckt wird, mit alten und gebrechlichen Menschen, mit den Mächtigen in Wirtschaft und Politik, mit Prostituierten, die ihren Leib um Geld verkaufen, mit allen Suchenden nach Gottesnähe. Für sie stehen die drei Könige unten links, die dem Stern folgen, der die gleiche Farbe wie die Kleinkindtrage hat. Auf der rechten Seite findet sich ein kirchlicher Würdenträger, Kopftuch oder Schleier tragende Frauen, eine junge Frau in unsicherer Haltung, Menschen, die dem Betrachter den Rücken zuwenden, ein Kopf, der an die Freiheitsstatue erinnert. Sie alle scheinen unter dem Mantel Marias bereits Schutz und Geborgenheit gefunden zu haben.

Vor Maria stehen noch die Suchenden und Verlassenen. Menschen, die in Mülleimern nach Nahrung und nach Flaschen suchen. Der eine mit einem leeren Einkaufswagen, die andere mit zwei Tragtaschen. Rechts davon ein junger Mann und eine ältere Frau, die ihre Waren in die Richtung von Marias Mantel tragen. Ganz unten im Bild sind drei Personen schemenhaft dargestellt. Links ein am Boden Liegender. Wurde er erschossen? Oder schläft er seinen Rausch aus? Oder liegt er gar im Sterben? Rechts kniet ein mit vorgehaltenden Händen Bettelnder. Auf der Tafel vor ihm steht: „Ich habe HUNGER“. Bei seinem sitzenden Nachbarn steht: „Ich habe keine Wohnung“.

Alle diese Menschen auf der Erde scheinen noch keinen Schutz und keinen Frieden unter dem Mantel Mariens gefunden zu haben. Gleichzeitig sind sie uns als Betrachter am nächsten. – Doch sind sie das wirklich? Lasse ich zu, dass sie meine Nächsten werden? Mache ich mich Ihnen zum Nächsten und werde ich Ihnen wie Maria Fürsorgerin und Fürsprecherin? – Maria ist uns Vorbild und Einladung, es gleichzutun.

Dieses Motiv ist als Din A6 Faltkarte mit Umschlag für 1,50 Euro bei der Künstlerin erhältlich.

Himmelszelt voller Gnade

Zwei weiße Hände von porzellanartiger Beschaffenheit ragen nebeneinander aus der Wand. Sie halten zwei Stricknadeln, die durch einen Draht verbunden sind, der die Maschen hält. Gestrickt wird mit zwei verschiedenfarbigen Fäden: einem mit Gold durchwirkten blauen Faden, der, wie die Hände, aus der Wand kommt, und einem dickeren roten Faden, der unten einem Fadengewirr entspringt. In dieses verstrickt sind menschliche Figuren in unterschiedlichen Körperhaltungen: still betend, im Fadenmeer versinkend oder verzweifelt sich an einem nach oben führenden Faden festhaltend, usw.

Die weißen Hände stricken eine Art Zelt, das auf seiner Außenseite blau und auf der Innenseite rot ist und dem Mantel entspricht, mit dem in traditionellen Darstellungen Maria gekleidet ist. Dabei symbolisiert das Blau den Himmel und Rot die Erde. Entsprechend entspringt der Faden für die blaue Außenseite dem Jenseits, hier ausgedrückt durch sein kontinuierliches Hervortreten aus der Wand. Demgegenüber werden die Menschen, die sich in ihrer Not an Maria wenden, durch die strickende Tätigkeit mit dem roten Faden nach oben und aus ihrer Misere gezogen, gleichzeitig wächst dadurch der Mantel in Richtung Erde und kommt ihnen schützend entgegen.

Maria wird hier nicht als Mensch mit individuellen Zügen dargestellt, sondern allein durch ihre strickenden Hände. Mit dieser typisch weiblichen Tätigkeit verbindet sie irdische Not mit himmlischem Erbarmen und fertigt damit einen weiten Mantel für die Bedürftigen. Wie ein Himmelszelt schwebt er über ihnen, beschützend, wärmend, Gottes Zuneigung und Liebe vermittelnd. Beeindruckend wird die Wandlung sichtbar, die Maria durch ihre Mittlerfunktion bewirkt. Die Menschen, die in der verwirrenden Not oder dem Chaos unterzugehen drohen, erhalten durch sie neue Hoffnung. Sie werden aufgerichtet und ihr zerstörerisches Leid wird gewandelt in den behütenden, Ruhe und Ordnung gebenden Innenmantel eingearbeitet, was sie gestärkt durchs Leben gehen lässt. Dadurch erhält der Schutzmantel Marias im Gegensatz zu traditionellen Darstellungen eine größere Eigenständigkeit, gleichzeitig wird Marias Mittlerfunktion zwischen Himmel und Erde, die bei der Marienfrömmigkeit eine große Rolle spielt, besonders deutlich.

Mutterliebe – Nächstenliebe

Eine junge Frau mit einem Knaben steht im Blickpunkt dieser Arbeit. Es sind nur die Köpfe und je ein Arm von ihnen zu sehen. Ihr Haupt ist mit einem Schleier bedeckt, ihre Augen blicken fragend in die Weite. So eng wie sie ihn an sich drückt, muss es ihr Sohn sein. Mit ihrer linken Hand drückt sie gerade eine der großen Kapseln zur Seite, so als suchte sie einen Weg oder gar einen Ausweg aus dem Feld mit den übergroßen Mohnkapseln. Der Junge hält in seiner Hand eine geschlossene Mohnblüte, sein Blick geht in die Richtung dieser Knospe in das Feld hinein. So kreuzen sich ihre Blicke.

Mit den vielen unterschiedlichen Blautönen vermittelt das Bild eine düstere Stimmung. Mutter und Sohn sind teilweise in dunkle Schatten gehüllt. Nur Teile ihrer Gesichter leuchten in der Dunkelheit dieser Nacht auf, die mehr als nur die äußere Nacht andeutet. Angst spricht aus den Augen der Frau, Betroffenheit und gleichzeitig Sehnsucht nach Licht und Freiheit. Angsteinflößend groß hat die Künstlerin die Mohnkapseln dargestellt, gleichsam als Konkurrenz zu den Köpfen von Mutter und Sohn. Sie muten wie Leuchten an, welche die beiden auf dem Weg begleiten. Sie gaukeln vor Lichtträger zu sein und in die Freiheit zu führen.

Und doch ist der Schlafmohn der Feind der Freiheit. Er führt in die Verwirrung und Abhängigkeit durch das Opium, das der Rohstoff für das Rauschgift Heroin ist. „Gefangen in Rot“ erinnert an das Schicksal von Frauen und Kindern in Afghanistan, dem Herkunftsland der Künstlerin und dem weltweit größten Produzenten von Opium. Denn der Vormarsch der Taliban fördert bei den Bauern den Anbau von Schlafmohn, weil dieser in einer kriegsbedingten Hochrisikolandschaft wenige Risiken birgt. Die innige Darstellung von Mutter und Sohn steht für die vielen Mütter, die trotz der widrigen Umstände ihre Kinder bedingungslos lieben. Sie gehen in ihrer Liebe zu den Kindern innerlich durch die Nacht, getragen von der Hoffnung, dass es zumindest für die Kinder einen Weg aus dieser „Gefangenschaft“ gibt. Steht für diesen Gedanken vielleicht der Mann in der Haltung eines Sämanns an der Stirn der Frau? Vermag er einen Samen zu säen, der nicht mit Unterdrückung und Not, Ungerechtigkeit und Leid verbunden ist?

In der gleichen Größe wie der Sämann finden sich überall auf dem Bild verstreut weitere Menschengestalten. Auch in den Mohnkapseln. Damit weitet die Künstlerin den Blick auf alle Menschen und das, was sie tun. Ob es ihnen um ihre Macht und ihren Reichtum geht oder um das Wohl aller, gerade auch der Schwächsten? Indirekt wird damit die Sehnsucht nach einer besseren Zeit angedeutet, die Parallelen mit dem Reich Gottes hat. Auch hier ist entscheidend, ob der Samen des Sämanns – als Symbol für die Kraft von Gottes Wort – auf guten Boden fällt und reiche Frucht und Wirkung entfalten kann oder nicht (vgl. Mk 4,1-23).

Die Darstellung von Mutter und Sohn soll ganz bewusst auch Maria mit dem Jesuskind sichtbar machen. Durch ihre Präsenz lässt die Künstlerin ein himmlisches Licht in der Nacht der Bedrängnis und Bedrohung aufleuchten. Mit Marias Liebe ermutigt sie nicht nur Eltern, sondern alle, die Verantwortung für andere tragen, für sie den Weg aus vielerlei Abhängigkeiten und Gefangenschaften zu suchen und zu wagen, damit diese eines Tages in Freiheit ihren eigenen Weg gehen können, mag er wie bei Jesus noch so schwer und schmerzhaft sein.

Diese Arbeit war zu Mariä Himmelfahrt im Rahmen der Ausstellung “Maria ImPuls der Zeit” am 19. und 20. August 2017 in Warendorf ausgestellt. Hier finden Sie ausführliche weitere Informationen.

Verkündigung … an Maria?

Eine junge Frau sitzt im Schlafanzug an ihrem Laptop und trinkt dabei eine Tasse Kaffee oder Tee. Das gemalte Geschehen könnte eine ganz normale Frühstückssituation darstellen, wenn nicht verschiedene Gegenstände im Raum auf etwas Außergewöhnliches hinweisen würden. Die braune Wand gibt einen seltsam dunklen Rahmen für den lichterfüllten Spiegel und seinen Kontrapunkt im Lilienstrauß. Auch das Apple-Logo korrespondiert seltsam gut mit der blauen Tasse, dem Bildschirm im Spiegel und dem Boden. Und dann ist da noch der Fotograf, der kniet, aber nicht die Sitzende, sondern genauso wie die Frau mich als Betrachter ins Visier nimmt. – Was will und kann uns der Künstler damit alles sagen?

Wer die Striche und damit die Zeichnung in der dunklen Rückwand zu entdecken vermag, wird direkt zum Thema des Bildes geführt. Mit wenigen Linien ist da die Verkündigung an Maria aus dem Verkündigungstriptychon von Simone Martini aus dem Jahre 1333 skizziert. Die Darstellung erinnert an Malereien in Grisaille-Technik, welche in Renaissance- und Barockbildern oft als Verweis auf „Vorbilder“ der im Bild dargestellten Protagonisten verwendet wurden. Die lässig mit angezogenem Bein am Tisch sitzende Frau wird durch die Mariendarstellung unmittelbar über ihr als moderne Maria definiert. Sie ist die neue Eva, wie es der angebissene Apfel auf dem Laptop weiter andeutet. Dieser steht wie ein aufgeschlagenes Buch offen vor ihr auf dem Tisch.

Sie scheint der Versuchung des neuen Mediums nicht zu erliegen, sondern seine Informationsmöglichkeiten (Wissen, vgl. Gen 3) für die gezielte Lektüre und den Austausch mit dem „Unsichtbaren“ zu nutzen. Auf dem Bildschirm im Spiegel ist erstaunlicher- und wunderbarerweise nicht spiegelverkehrt zu lesen:

und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt
und wir haben seine Herrlichkeit
gesehen

Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen
einen Sohn wird sie gebären,
und man wird ihm den Namen Emmanuel geben
was heißt Gott mit uns

Diese Worte aus dem Johannesevangelium 1,14 und dem Buch Jesaja 7,14 kündigen ihr die Inkarnation Gottes unter den Menschen an. Gott offenbart sich ihr in diesen Worten, auch wenn es nicht die gleichen Worte wie jene des Engels sind, lassen sie sehend werden für das Geheimnis der Menschwerdung. Nicht zufällig steht von der Frau aus gesehen hinter dem Computer ein Strauß Lilien. Der Künstler hat nicht nur eine Lilie dargestellt, sondern viele Lilien, die über die Symbolik der Reinheit und Jungfräulichkeit hinaus auf eine unfassbare Fülle hinweisen. Vor dem dunklen Hintergrund bildet er im Raum eine helle „Gestaltwerdung“ des unfassbaren Lichtes, das im Spiegel zu sehen ist. Hier werden die Lilien zum Symbol für Jesus, der aus dem unerschaffenen Licht in unsere Welt kam (vgl. Credo) und uns aus seiner Fülle Gnade über Gnade zukommen ließ (vgl. Joh 1,17).

Als Pendant zum Engel von Simone Martini, der dem Lilienstrauß zu entsteigen scheint, begegnet uns auf der anderen Seite des Bildes gegenüber der jungen Frau ein Fotograf. Er ist nur im Spiegel dargestellt und gehört damit zur „anderen“ Welt, die nicht begreifbar, aber dennoch gegenwärtig ist. Seine kniende Haltung gleicht einer Kniebeugung, sein erhobener linker Arm einem Flügel. Doch im Gegensatz zum Engel arbeitet der Fotograf nonverbal. Er öffnet seine Kamera für einen kleinen Augenblick, um das Trägermaterial zu belichten. Dadurch geschieht hier auf eine weitere Art „Gestaltwerdung“. Allerdings fotografiert er nicht die junge Frau, sondern mich als Betrachter, denn bei mir und jetzt soll die Botschaft „Fleisch“ werden. Das mag auch der Grund sein, wieso mich die junge Frau unentwegt anschaut, ja geradezu fixiert.

Es geht um mich. Gott will durch mich unter den Menschen wohnen. Nicht nur für einen flüchtigen Moment wie bei einem ehrenden „Schnappschuss“ oder einem vergänglichen Foto, sondern verdichtet und überzeitlich wirkend wie in diesem gemalten Bild. Die blaue Tasse, die sich als Blickfang fast mittig im Bild vor dem Oberkörper der Frau befindet, mag andeuten, dass wir Seine Worte so oft und wie ein Getränk zu uns nehmen und verinnerlichen sollen, damit sie uns Leben werden. Dann wird Immanuel, „Gott mit uns“ sein und der Himmel – wie es der blaue Boden verheißt – unsere Lebensgrundlage und unser Halt werden.

Licht (-er Dreiklang) werden

Die menschliche Gestalt ist nur durch ihren senkrechten Körper und den leicht geneigten Kopf zu erkennen. Alle anderen Körper- und Haltungsmerkmale treten zu Gunsten eines anderen Geschehens zurück. Denn die Farben sind wohl maltechnisch äußerlich aufgetragen, deuten aber von ihrer Symbolik her auf innere Vorgänge und Befindlichkeiten hin, da besonders der Lendenbereich, die Brustgegend und der Kopf betont sind.

Der Kopf ist nur durch eine feste dunkelgelbe Kreislinie angedeutet. Sie umschreibt einen runden Freiraum, der durch seine ungeschaffene Form und das umgebende Dunkelgelb als ein geistiger und heiliger Bereich ausgewiesen ist. Ihm wohnt himmlische Transzendenz und irdische Demut inne. Aus seiner Mitte entspringen die weißen Farbelemente, die der Gestalt einen hellen Grund geben. Dieser stellt gleichzeitig ein klares Dasein im Hier wie einen lichten Verweis auf das Dort dar.

Der ganze Leib ist durch die hellen gelben und braun-roten Stellen geprägt. Insbesondere der Lenden- und Bauchbereich sind von gestischem Leben erfüllt und scheinen mit der Farbe zusammen auf ein inwendiges Leben wie ein ungeborenes Kind hinzuweisen. Die leuchtend gelben Stellen sind von da ausgehend wie Funken der Freude, welche den ganzen Körper durchziehen und bis in die letzte Faser das Glück der Mutterschaft spüren lassen, das in seiner Mitte einen Platz gefunden hat. Durch ihre Konzentration im Brust- und Herzbereich kann das leuchtende Gelb auch als Farbe des Glaubens gedeutet werden.

Mit diesen ungewöhnlichen Attributen hat der Künstler seine Erfahrungen mit Maria in gestischen Strichen aufs Papier gebracht. Er hat einen demütigen Mensch gemalt, der ganz transparent auf Gott hin ist, der in sich den Glauben, die Hoffnung und die Liebe trägt, feurig, warm und voller Leben. Er hat einen Menschen mit freiem Kopf gemalt, der für Gottes erfüllenden Geist offen ist und Sein Wort bereitwillig in sich aufnimmt. Und Maria hat Sein Wort so innig aufgenommen, sie hat Gott ihren Leib so vollständig zur Verfügung gestellt, dass Er durch sie ganz und gar Mensch werden konnte. Das ist das Licht und die Freude von Maria: ihre grenzenlose Hingabe an Gott. Dadurch konnte Gott sich in seinem Sohn in grenzenloser Hingabe uns schenken.

Im Bild scheint die Gestalt der Maria in Bewegung zu sein. Sie ist nicht nur innerlich mit Leben erfüllt, sondern auch dabei, dieses Leben und diese Freude zu Menschen wie Elisabeth zu tragen. Nach Mariens freudigem Gruß antwortete Elisabeth: „Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? In dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.“ (Lk 1,42-45)

Alles, was der Künstler zu Maria gemalt hat, ist auch Anspruch an uns, so wie Maria zu leben: Glauben, dass Gott zu uns spricht. In unserem Kopf und Leben Freiraum für IHN zu lassen. Offen für Gottes Geist zu sein. Sein Wort erwarten, es in uns wohnen lassen, auf dass es in Fleisch und Blut übergeht, wächst und Seine Gestalt annimmt. „Licht werden“, „brennen für Gott“ bedeutet, ganz transparent auf IHN hin zu werden, damit die Menschen in der Begegnung mit uns IHM begegnen können, Gottes Barmherzigkeit, des Geistes Kraft, Jesu Menschenliebe.