Verkündigung

Im Schnittpunkt von zwei Kreisformen begegnen sich zwei menschliche Gestalten. Die linke Gestalt muss ihren Flügeln nach ein Engel sein, die rechte der Haltung nach Maria, die sich kniend dem Willen Gottes beugt: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38).

Die Begegnung findet nicht mehr in einem Haus statt. Als Heimat Mariens wird hier die Erde bezeichnet. Als lichte Gestalt ragt sie aus der grau-schwarzen Oberfläche heraus. Durch ihre Unschuld und Reinheit von Sünden nimmt Maria eine herausragende Position ein. Sie, die Unbefleckte, wurde von Gott auserwählt, den „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32) zu empfangen, den „Retter der Welt“ (Joh 4,42; 1Joh 4,14).

Die Verkündigung an Maria findet so am Schnittpunkt von Himmel und Erde statt. Der Bote des Himmels überbringt der Vertreterin des Erdengeschlechts die frohe Botschaft, dass Gott seinen Sohn unter den Menschen groß werden lassen will. Dazu wird er Maria mit Seinem Heiligen Geist überschatten (Lk 1,35). Wunderbar hat der Künstler den Geist Gottes als bewegte, goldgelbe Kreisform dargestellt, wodurch nicht nur Gottes Herrlichkeit und Unendlichkeit angesprochen werden, sondern auch seine beschützende, rettende und Leben schaffende Kraft.

Von oben, von außerhalb des Bildes in die wahrnehmbare Bild-Welt einfließend, umgibt die immaterielle Energie Maria und den Engel wie ein Heiligenschein und vermittelt theologisch richtig, dass der Sohn durch die Menschwerdung die göttliche Dreifaltigkeit nicht verlässt, sondern in Ihrer Mitte bleibend in Maria die Natur und das Wesen von uns Menschen annimmt. Maria bildet so eine Art Brücke, auf der Jesus zu uns Menschen kam.

Den Weg von Jesus scheint eine feine gelb-weiße Linie anzudeuten. Sie entspringt dem leuchtenden „Wolkenbogen“ des Heiligen Geistes und kreist spiralförmig im Engel wie in Maria, um anschließend den Erdball zu umrunden. So sehr der Heilige Geist Maria überschattet und sie mit dem Engel zusammen umgibt, so sehr erfüllt er auch den Botschafter wie die Empfängerin. Wie der Heilige Geist den Engel zu Maria bewegt hat, bewegt Er Maria und lässt sie fruchtbar werden.

Was mit Maria geschah, ist und bleibt einmalig. Doch Gott möchte in jedem von uns Mensch werden, jeden von uns mit seinem Heiligen Geist erfüllen. Insofern richtet sich die Verkündigung nicht nur an Maria, sondern an jeden von uns! Die universelle Botschaft bringt der norwegische Dichter Svein Ørnulf Ellingsen in einem vom Magnifikat inspirierten Text in poetischen Worten zum Ausdruck:

Gottes Lob wandert und Erde darf hören.

Einst sang Maria , sie jubelte Antwort.
Wir stehn im Echo der Botschaft vom Leben:
Den Herrn preist meine Seele.
Ich freue mich, dass er mein Retter ist.
Der Hohe schaut die Niedrige an.
Halleluja, Halleluja.

Wunder der Wunder: Für uns wirst du Mensch, Herr!
Lass doch das Lied, das Maria uns lehrte,
Brücke der Freude sein, die uns zu dir führt.
Den Herrn preist meine Seele.
Ich freue mich, dass er mein Retter ist.
Er denkt an uns, hilft Israel auf.
Halleluja, Halleluja.

(Kath. Gesangbuch der Schweiz, Nr. 762, 1.+3. Strophe)

Stillende Mutter

Eine Mutter hält ihr neugeborenes Kind zur Nahrungsaufnahme an ihre Brust. Ein Bild, das uns immer wieder mal begegnet und doch nichts Alltägliches ist. Wieviel Haut die Frauen unserer Zeit auch in der Öffentlichkeit zeigen, das Stillen eines Kleinkindes geschieht meistens zurückgezogen in einem ungestörten Raum.

Wir schauen seitlich auf die sitzende Frau und das Kind auf ihrem Schoß. Mit dem rechten Arm hält sie es an die entblößte Brust, während ihre linke Hand beschützend auf dem Kind ruht. Der Blick der Frau geht seltsam in die Leere. Haben die vergangenen Monate sie so mitgenommen und ausgelaugt, dass sie kaum mehr Energie hat, das Kind zu nähren? Oder ist sie mit ihren Gedanken in einer anderen Welt? Geht sie im Geist nochmals die beschwerlichen Monate der Schwangerschaft und der Geburt durch? Oder überlegt sie sich, was wohl aus dem Kind werden wird?

Mutter und Kind sind nur mit drei Stoffstücken bekleidet: einem roten Samt um den Hüftbereich der Frau, einem blauen schleierartigen Tuch über ihrem Hinterkopf und dem Rücken. Ein heller glänzender Stoff ist als Windel um die Hüfte des Kindes geschlungen. Das Bild könnte einfach ein schönes Portrait einer Mutter mit ihrem Kind sein, doch die „Inszenierung“ lässt an Maria denken, auch wenn im Vergleich mit herkömmlichen Mariendarstellungen mit der entblößten Schulter irritierend viel nackte Haut gezeigt wird.

Im blauen Schleier leuchtet die Farbe des Himmels auf. Er weist auf den göttlichen Vater hin, der ihr durch seinen Heiligen Geist das Kind anvertraute (Lk 1,35). Der Schleier erscheint zudem wie ein bergendes Zelt, das die Frau und ihr Kind vor den Gefahren der sie umgebenden Dunkelheit beschützt (Ps 27,6). Auch die Dreieckskomposition, durch den waagrechten Unterarm in ihrer Basis betont, lässt an den dreifaltigen Gott denken. Durch Maria hat er in Jesus Christus sein „Zelt“ auf unserer Erde aufgeschlagen und einige Zeit unter uns gewohnt. Wie wir ist er aus einer Mutter hervorgegangen und Mensch geworden. Durch die mütterliche Brust ist er in den ersten Monaten ernährt, durch ihre fürsorglichen Hände ist er gepflegt worden, durch ihre aufmerksame Nähe hat er Liebe und Geborgenheit erfahren.

Das Bild mag Gedanken an unsere ersten Lebensjahre wecken … und Dankbarkeit für alles, was unsere Mutter für uns getan hat. Und die Mütter mag das Bild vielleicht an die Zeiten des Stillens erinnern … und an die einzigartigen Momente, die sie dadurch erleben durften.

Diese Bildinterpretation gibt nicht die Intention der Künstlerin wieder, sondern stellt die subjektive Leseart des Autors und nur einen Zugang unter anderen möglichen dar.

Das Madonnen-Projekt von Birgit Dunkel umfasst insgesamt 35 fotografische Arbeiten, welche alle im Katalog abgebildet sind: Birgit Dunkel, „madonnen“, Internationalismus Verlag Hannover 2002, ISBN 3-922218-74-1, Euro 15,-. Erhältlich im Buchhandel oder bei der Künstlerin.

Gott im Menschen

Befände sich das Glasfenster nicht in einer katholischen Kirche, käme wahrscheinlich niemand auf den Gedanken, seine Thematik mit Maria in Verbindung zu bringen. Denn es zeigt sich uns in abstrakten Formen: in einander überlagernden blauen Flächen in den Seitenbereichen, in transparenten Glasstäben in der Mitte. Die Dreiteilung springt ins Auge, ebenso die Verjüngung des hellen mittleren Bereiches. Die blaue Farbe mag an Maria erinnern, kann aber auch für die Nacht stehen oder als Farbe des Himmels interpretiert werden, welche die vertikale Lichtgestalt umgibt.

Dieser ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückte Bereich erscheint uns wie ein Lichtkorridor, der von oben nach unten das Glasfenster durchquert. Glasstäbe scheinen in dichter Fülle in ihm nach unten zu schweben. Die meisten sind transparent, einige gelb oder blau. Die Ansammlung von farbigen Stäben wie deren horizontale Anordnung erdet die „Niederkunft“ der Stäbe, gibt ihnen eine Basis. Der Lichtkorridor kann daher als Gefäß gesehen werden und – durch die Verengung in der Mitte – als vereinfachte Darstellung der weiblichen Taille.

Dadurch wird auch in der Mitte des Glasfensters die Sicht auf Maria frei, welche durch die Botschaft des Engels in ihrer Körpermitte das „Licht der Welt“ (Joh 8,12) empfangen und ihm eine temporäre Wohnstatt geschenkt hat. Durch das weiße Licht, die schwebende Anordnung der Glasstäbe sowie durch die drei Glasschichten wird wiederholt auf die Transzendenz Gottes hingewiesen, der sich durch die Menschwerdung seines Sohnes sinnlich erfahrbar gemacht hat. In der Stabform kommt einerseits die Botschaft des Herolds zur Sprache, andererseits transportiert der Glasstab selbst das Licht von einem Ende zum anderen.

Die Vielzahl der Stäbe mag auf die Gnadenfülle hinweisen, mit der Maria durch Gott gesegnet worden ist. Der einzelne Stab hingegen auf Jesus, der in seinem öffentlichen Leben immer wieder auf seinen Vater hinwies und sich bezüglich seiner Mission transparent zeigte: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat, und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat. Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt.“ (Joh 12,44-46)

Das Glasfenster von Hella Santarossa lädt zur Meditation über das Werden Gottes im Menschen Maria wie in uns ein. Die schwebenden Stäbe suggerieren ein aktuelles Geschehen. Die über das ganze Fenster verstreuten kleinen Glasstücke in kristallinen Formen lassen an die Stille des Schneefalls denken und dass sich die Menschwerdung Gottes leise und kaum wahrnehmbar nur dem aufmerksamen, wachen Geist offenbart.

In der gleichen Kirche befindet sich von Hella Santarossa ein beachtenswertes Auferstehungsfenster von 120 qm (Detailansicht der Glaslichtstäbe).

Die Kraft des Höchsten

Wie durch einen Schleier hindurch ist die sitzende Gestalt der Maria zu erkennen (Vorlage: Maria aus der Verkündigungsgruppe vom Alter der Sieben Freuden Mariens im Chor der Abteikirche von Brou, Franchcomté, um 1520). In ein weites Gewand gehüllt scheint sie beim Lesen der Heiligen Schrift gerade innezuhalten und den Kopf nachdenklich nach hinten zu neigen.

Ob das, was im Vordergrund geschieht, Ausdruck ihrer inneren Erfahrung ist? Zwei Dutzend pastos aufgetragene, fast weiße Kreisformen scheinen mit großer Leichtigkeit auf sie herunterzufallen. Sie können als Zeichen der Gnade, als „die Kraft des Höchsten“ (Lk 1,35) gelesen werden, die auf Maria herabkommt.

Das verhüllende Weiß des Bildes scheint dabei die Unschuld und die Reinheit des Immateriellen zu verkörpern. Insofern mag dieser nebulöse Schleier auch ein Ausdruck der göttlichen Gegenwart sein. Im Buch Exodus (40,34) wird überliefert, dass eine Wolke das Offenbarungszelt in der Wüste verhüllt und die temporäre Wohnstätte des Herrn mit seiner Herrlichkeit erfüllt habe. Ebenso erscheint uns Maria im Bild von einer Wolke verhüllt und lässt an den wunderbaren Moment denken, an dem sie durch die Kraft des Höchsten und von seiner Herrlichkeit erfüllt schwanger wurde. Maria wird so zum neuen Offenbarungszelt, aus dem heraus Gott sein ewiges Wort spricht. Hier klingen die Texte der Kirchenväter an, welche in Maria die neue Bundeslade sahen, die der Welt das neue Gesetz geboren hat: Jesus Christus.

Der Evangelist Johannes (1,14) bringt es mit prägnanten Worten auf den Nenner: „Das Wort ist Fleisch geworden!“ Auf dem lasierend gemalten Motiv der Maria erinnern die pastosen und damit sehr materiellen Kreisformen an die Verwandlung des Wortes zu Fleisch. Räumlich gesehen scheinen diese „materialisierten Worte“ perspektivisch auf Maria zuzufliegen oder von ihr empfangen zu werden.

Wie durch einen Schleier hindurch lässt uns der Künstler ehrfurchtsvoll an diesem einzigartigen Geschehen teilhaben. Die Verwendung einer alten Mariendarstellung sowie die „blasse“ Zeichnung Mariens mögen in die Vergangenheit weisen. Doch die Gnadenfülle, die Maria durch ihr gläubiges Ja-Wort bei Gott ausgelöst hat und die vom Künstler „schwebend“ zwischen Maria und den Betrachter gemalt wurde, fließt weiter und macht auf wunderbare Weise für Menschen Unmögliches möglich (Lk 1,37; 18,27). Damit bezeugt uns der Künstler, dass für ihn der Empfängnis „nichts Vergangenes, sondern im Gegenteil ein ganz gegenwärtiges Geschehen von hoher Präsenz“ innewohnt.

Auserwählt

Eine dunkle und eine helle Fläche prägen das diagonal unterteilte Bild. In der Bildmitte ist an der Schnittstelle zur hellen Bildfläche der Kopf einer jungen Frau zu sehen. Ihre Augen sind weit, ihr Mund ist leicht geöffnet.

An ihrer Seite, leicht erhöht und ganz in blaues Licht getaucht, ist der Kopf einer weiteren Frau zu sehen. Sie berühren sich auf Stirnhöhe, sind einander zugewandt, scheinen miteinander zu sprechen und in einem Gedankenaustausch zu stehen. Das blaue Licht hat sich pfeilförmig auf der Stirn der aus dem Dunkel auftauchenden Frau ausgebreitet. Gleichzeitig weist in der Diagonale ein schmaler Lichtstrahl auf die Stirn dieser Frau und scheint sie zu berühren.

Käthe Haase Kornstein hat die Verkündigung an Maria mit den heutigen Gestaltungs- und Ausdrucksmitteln dargestellt. Die Bildmontage zeigt die mystisch „berührende“ Begegnung zweier Frauen und konzentriert sich auf die beiden Köpfe. Feinfühlig und doch bestimmt übermittelt der im Licht stehende Himmelsbote seine ungewöhnliche Botschaft an Maria. Dennoch erschrickt Maria und fragt sich, was der Gruß wohl zu bedeuten habe und wie sie als Jungfrau einen Sohn empfangen und gebären könne (Lk 1,29.34). Diese Fragen stehen der durch Gott aus dem „Dunkel der Geschichte“ hervorgerufenen Frau ins Gesicht geschrieben. Worauf der Engel zu ihr sagte: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (1,35)

Die Kraft des Höchsten, der Heilige Geist, der Maria überschatten wird, darf weniger in der halbseitig das Bild füllenden Dunkelheit als vielmehr im vom oberen Bildrand auf die Stirn Mariens zeigenden Lichtstrahl gesehen werden. Hier ist eine formale Ähnlichkeit mit der aus dem Himmel herabkommenden Hand Gottes in der christlichen Malerei festzustellen, die zum Ausdruck bringt, dass sich Gott einer Person zuwendet und zu ihr spricht. Die Kraft des Höchsten kommt noch in einem zweiten Element zur Geltung: Vom Engel ausgehend fließt etwas von dem luziden Himmelsblau auf das Gesicht Mariens über und „überlichtet“ bzw. bedeckt es wie um zu zeigen, dass ihre Gedanken nun vom göttlichen Auftrag erleuchtet und erfüllt sind.

Das Bild bringt die Ernsthaftigkeit des Gesprächs zwischen dem Engel und Maria zum Ausdruck. Es vermittelt auch die notwendige Auseinandersetzung in Maria, bis es in ihr „gedämmert“ hat, dass sie eben auserwählt und berufen worden ist, der Welt den Sohn Gottes zu gebären. Und es lässt in der Nacht-Tag-Symbolik auch die Zeit spürbar werden, die Maria wahrscheinlich gebraucht hat um sagen zu können: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (1,38)

Mit der vielschichtigen Bildkomposition und der Darstellung einer Frau unserer Zeit wird die „Frage an Maria“ auch zur Frage an uns: Wie würde ich auf die Botschaft des Engels antworten? Wie würde es mir mit dieser „Empfängnis“ durch den Heiligen Geist ergehen? Wie würde ich mit einem Kind umgehen, das meines ist und doch mehr als alle anderen der ganzen Welt gehört?

Hören und Hinweisen

Still steht die Skulptur da, schmal und langgestreckt. Leicht gebeugt wie ein Telefonhörer, an Kopf und Fußenden ausgeformt. Mit den Füßen fest auf dem Boden, mit dem Kopf im Himmel verankert. Maria ist Hörende, Gott „Ge-hörende“. Mit dem Herzen hat sie die Heilige Schrift gelesen und seine an sie gerichtete Botschaft gehört.

„Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ (Lk 1,31-33)

In Maria ist eine Spannung zu verspüren, eine wohltuende Spannung aus ihrer „Erdung“ und ihrer „Himmelung“. Sie muss ganz vom Himmel erfüllt sein, dass sie in einem mystischen Tiefblau strahlt. Aus dieser spannungsvollen und hörenden Erfüllung ist die „Frucht ihres Leibes“ hervorgegangen: Jesus, Gottes Sohn. Aus ihrer Mitte  entstanden, ist er ihre Mitte. „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5), sagt Maria bei der Hochzeit in Kana zu den Dienern – und heute auch zu uns!

Maria hält Jesus nicht fest, sondern hält ihn dem Betrachter entgegen. Die Jesusfigur ist stilistisch sehr einfach gehalten. Wie Licht hebt sich seine helle Gestalt vom nachtblauen Kleid Mariens ab. Wesentlich ist seine kleine Gestalt, an das Kind erinnernd, sein Kopf mit den großen runden Augen wie seine offenen Hände, die Abwehr wie Ehrfurcht oder Anbetung signalisieren können.

Das Gesicht von Maria macht auf mich gerade durch den Mund und die Augen einen verschlossenen, ausdruckslosen Eindruck. Sie wirkt in sich gekehrt, in einer anderen Welt versunken zu sein. Und doch schauen ihre Augen leicht nach unten gesenkt auf den Betrachter und ich höre die Worte des Vaters bei der Verklärung Jesus, die genau so die Worte Marias sein könnten: „Das ist mein geliebter Sohn … auf ihn sollt ihr hören!“ (Mt 17,5b).

Maria als die Hörende par excellence, die auf Den hinweist und ihr ganzes Leben auf Den ausrichtet, der das WORT und das LEBEN in seiner ganzen Fülle ist, die Frucht der göttlichen Menschenliebe und der menschlichen Gottesliebe.

Vom Himmel her …

Auf diesem Bild können ganz unterschiedliche Motive den Blick als erstes in ihren Bann ziehen. Da ist die weiße stehende Gestalt vor dem beigen Hintergrund. Links von ihr in Farbe etwas ähnliches wie ein kleines Kind mit zwei blauen Quadraten hinter dem Kopf. Dann die blaue vertikale Linie, die durch den goldenen Kreis gehend in einem braunen Feld eine lila Horizontale schneidet. Nicht zuletzt faszinieren die kleinen Figuren, oben Engeln ähnlich, unten als Reiter unschwer erkennbar.

Was für eine Geschichte will das Bild erzählen? Der Künstler gibt durch seinen Titel keine Hinweise. „Ohne Titel“ könnte jedoch auf eine verbale Sprachlosigkeit des Künstlers angesichts eines geheimnisvollen Ereignisses hinweisen – so etwas wie die unbefleckte Empfängnis.

Ja, die lichte Gestalt stellt für mich Maria dar. Wie an einer Hausecke steht sie wartend da. Sie ist ganz weiß gemalt, weil wir glauben, dass sie ohne Erbschuld und Sünde ist (Hochfest der Kath. Kirche am 8. Dezember). Makellos offen steht sie da und Gott schenkt sich ihr in der (Farben-)fülle seines Sohnes.

Die beiden Gestalten überlagern sich bereits, ihre Köpfe sind einander zugeneigt. Aus der Form des Kindes und dem linken Arm Mariens lässt sich – farblich leicht abgesetzt – ein Herz erahnen. Die beiden sind sich eins.

Engel aus dem Bild „Der große Morgen“ von Philipp Otto Runge umgeben das Kind. Sie bringen es gleichsam zur Erde und legen es schützend in Mariens Schoss.

Die blaue senkrechte Linie scheint das mystische Geschehen nochmals abstrakt darzustellen. Wo sie auf die „Erde“ trifft, wechselt die Linie die Farbe. In abstrakter Weise kann darin ein Teil des apostolischen Glaubensbekenntnisses gelesen werden: Jesus Christus ist der Sohn Gottes, empfangen durch den heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, …

Ein goldener Kreis umgibt den Schnittpunkt der beiden Linien. Ist er ein Symbol für das Leben und Wirken Jesu, seine göttliche Ausstrahlung?

Da sind auch noch Reiter mit vorgestreckter Lanze. Jagen sie vielleicht Jesus und seinen unerschütterlichen Glauben an seinen Vater? Das Bild gibt meines Erachtens keine klare Antwort und bringt nur Verfolgung und Krieg zur Sprache. Es tönt auch an, dass Jesus nur auf der weltlichen Ebene gejagt und verfolgt werden kann. Das „woher er kommt“ und „wohin er geht“ bleibt unfassbar!

Lebendiger Kirchenraum

Mit seinem Chorbild lehnt sich Dietrich Stalmann an die gotischen Altarretabel an, deren Flügel unterschiedlich bemalt und entsprechend dem Kirchenjahr auf- oder zugeklappt waren. Mit seiner Kirchenjahresstele verfolgt der Künstler dasselbe Ziel. Die Bilder wollen in das Zeitgeschehen einbezogen werden, sie wollen Veränderung mitmachen, durch die Veränderung immer wieder neu ansprechen.

Die Kirchenjahresstele wird aus einem senkrechten Element gebildet, in das der liturgischen Zeit entsprechend drei verschiedenfarbige Tafeln eingesetzt werden können. Violett in der Advents- und Fastenzeit, Gelb in den Festzeiten, Grün im restlichen Jahreskreis. Ohne Bilder vermittelt sie gerade in der Fastenzeit eine befreiende Leere, die zum Denken anregt. Der Bildentzug signalisiert Buße, Einkehr, Umkehr. Zusammen mit der waagrechten Stahlschiene für die Aufnahme der Bilder erinnert die Stele entfernt an ein Kreuz.

Waagrecht können drei Bildtafeln der Stele vorgehängt werden: Georg, Maria, der Engel Gabriel. Wahlweise allein, zu zweit oder zu dritt. Der hl. Georg als Kirchenpatron übers Jahr auf der grünen Stele, Maria und der Engel in der Adventszeit auf der violetten oder an Marienfesten auf der gelben Stele. Mit allen drei Bildtafeln entfaltet die Kirchenjahresstele ihre Vollgestalt und kündet mit ihrer dynamischen Farb- und Formgebung von der Geistigkeit des Glaubens. Glauben ist etwas Unfassbares. Genauso wie Gott immer der ganz Andere sein wird. Doch durchweht nicht Gottes Geist die ganze Schöpfung und hilft ihr in der Erkenntnis Gottes? (vgl. „Der Geist des Herrn erfüllt das All …“ Kath. Gesangsbuch der Schweiz, 232) Brennt nicht seine Liebe in unseren Herzen? (Röm 5,5)

Mein Blick geht in das unendliche Feuer der Liebe Gottes, lässt mich die Weite Gottes erfahren (Ps  36,6) und etwas von der explosiven Kraft des christlichen Glaubens spüren.

Erst im Nähertreten sind die vom Heiligen Geist erfassten Gestalten von Maria, Georg und dem Engel zu erkennen. Georg als Kirchenpatron in der Mitte. Mit der Lanze den Drachen tötend ist er uns Vorbild im ehrenhaften und mutigen Kampf gegen das Böse. Wie er der Legende nach damals die Königstochter vor dem Tod bewahrt hat, mag er auch heute helfen, die Kirche Christi zu beschützen.

Maria wird gerade vom Engel besucht. Ganz ins Blau des Glaubens gehüllt, neigt sie sich von der göttlichen Botschaft überwältigt nach hinten. Was soll mit mir geschehen? Was hat Gott mit mir vor? Sinnfragen des Lebens klingen in ihrer Haltung an, die gerade in der Begegnung mit Gott noch spürbarer werden. Der Engel ist von grünen Farben umgeben – der Farbe des Lebens. Mit der Botschaft, dass sie den Sohn Gottes empfangen wird, bringt der Engel ihr keimendes Leben, Hoffnung für alle Menschen, die wie Maria glauben, dass sich Gottes Wort an ihr erfüllt. Jeden Tag und in jeder „Jahreszeit“ des Lebens wieder neu und anders – in der Kraft des Unfassbaren, alles durchdringenden und heiligenden Geistes Gottes.

Maiandacht mit Maria

Ein Andachtsbild für Zuhause. Klein und unaufdringlich, fein gearbeitet. Zum Innehalten einladend, wie die ange- zündete Kerze, deren leuchtende Flamme von Gott kündet und alles in Sein feierliches Licht kleidet.

Andacht – andächtiges „Andenken“ – an jemanden Denken. In eine geistige Welt eintauchen. Erinnerungen, und Bezieh- ungen aufgreifen, sorgfältig festhalten. In Gedanken kreisen, zum Bewegenden hintanzen, wie die Form der Hände.

Es könnten meine Hände sein, die sich verlangend in diesen „geistigen“ Raum hineinstrecken. Aber es sind dieHände von einem Gegenüber, die das kleine Bild umgeben. Wie mir hinhaltend, doch nicht berührend. Sehnsucht weckend, das Geheimnis des Glaubens anklingen lassend.

Der breite Rahmen schützt diesen geistigen Raum wie dicke Mauern vor den Vereinnahmungen des Alltags. Er markiert diesen besonderen Platz im Haus, ist Tor zur geistigen Welt, Teil der Kirche, wie das kleine Bild im Hintergrund.

Ausschnitt, bzw. Einsicht in eine Kirche. Nur der Arm der Freisinger Madonna in der Pfarrkirche Jetzendorf aus dem 18. Jh. ist zu sehen. Nicht sie steht im Mittelpunkt des Bildes und damit der Be(tr)achtung, sondern die weiße Lilie. Symbol der unbefleckten Empfängnis und der Reinheit ihres Herzens. Maria sammelt unsere Sehnsucht und unser Gebet, um es zusammen mit ihrem eigenen Gebet vor Gott zu bringen.

Maria und mich verbindet diese Sehnsucht nach Gott, das Suchen seines Angesichts. Ich höre die Worte des Psalmisten: „Vernimm, o Herr,  mein lautes Rufen; sei mir gnädig, und erhöre mich! Mein Herz denkt an dein Wort: „Sucht mein Angesicht!“ Dein Angesicht, Herr, will ich suchen.“ (Ps 27,7-8)

Mitten im Alltag ist gerade Maria, weil sie so ganz in unserer Welt verwurzelt und doch ganz auf Gott ausgerichtet war, eine wunderbare Mittlerin und Fürsprecherin. So erinnert sie uns wie das in der Wohnung aufgehängte Kreuz an Sein heilwirkendes Leben auf der Erde und hilft uns, im Geist immer wieder neue Zugänge zu Ihm zu finden, der unsichtbar unter uns lebt und wirkt.

Verkündigung

„Freue dich Maria, denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ (Lk 1,30-33)

Die Botschaft des Engels an Maria sprengt alles menschlich begreifbare. Kein Wunder fragt Maria zurück: Wie soll das geschehen? Dietrich Stalmann will mit seiner Malerei dieses unbegreifliche und damit geheimnisvolle Geschehen aufgreifen. Seine leuchtenden Farben und die ungegenständlichen Formen bringen die göttliche Gnade zum Ausdruck, das Wirken des Heiligen Geistes.

Als Grundlage seines Bildes verwendet der Künstler die SW- Fotografie einer Verkündigungs- Ikone aus dem 17. Jahrhundert. Davon sind nur noch die Köpfe von Maria (mit Heiligenschein) und dem Engel deutlich zu erkennen. Das Wesentliche des alten Gemäldes ist beibehalten worden, in der Tradition der Kirche respektiert. Alles andere ist unter der Neuinterpretation von Dietrich Stalmann verschwunden.

Auffallend ist die Anordnung der Farben. Blau, Weiß und Braun unten, Gelb und Grün oben. Dann größere lockere Elemente von links oben vor dem Engel durch, die vor Maria kleiner werden und festere Formen annehmen. Eine von der schwarzen Ecke ausgehende Bewegung ist somit feststellbar, die unsere Augen zu Maria führt und dort auf ihrem Schoss ruhen lässt. Wir erfahren die Botschaft des Engels.

Durch das Absenken der blauen, weißen und brauen Farbflächen in die untere Bildhälfte wird auch die Kraft Gottes spürbar, die über Maria kommend in ihre Welt einbricht. Wie in einer mystischen Schau werden wir Zeugen, wie Gottes Geist im gelben Licht zu Maria kommt (große gelbe Fläche) und sie durch ihr „Ja, mir geschehe nach deinem Wort“ zur „Lichtträgerin“ (kleine gelbe Fläche), Gottesgebärerin und -mutter wird. Zärtlichkeit spricht aus dieser Begegnung, in der Gott auf so einmalige und segensreiche Weise einen Menschen berührt hat.

Meine Augen bleiben unersättlich in dieser nicht enden wollenden Berührung – Gott will auch in mir Mensch werden –, bis sie vom gelben Feuerlicht wieder nach oben geführt werden, wo sie an zwei weiteren gelben Flächen hängen bleiben. Ihre schmalen länglichen Formen erinnern mich an das Kreuz, an das Ende des irdischen Lebens von Jesus. In seiner gelb leuchtenden Form spricht es allerdings auch von der Auferstehung, dem ewigen Leben bei Gott. Das tut gut.

Umgekehrt gesehen können die drei gelben Flächen auch als Symbol für die Dreifaltigkeit gedeutet werden. Vater und Sohn sich gegenüber im Dialog, von ihnen ausgehend der Heilige Geist. – Die „Verkündigung“ verkündet uns, dass Gott ununterbrochen sich in alle Menschenherzen eingießt, die für ihn offen sind.

Hochzeit mit dir, Mensch

Zuunterst im silbernen Wassergrund,
tief unterm Sehn und Verstehn,
ruht schon der Himmel in dir,
Mensch.
Spielt er sein Heilspiel mit dir,
Mensch.
Schliesst er die Hochzeit mit dir,
Mensch.
Zuunterst im Grund.

Zuunterst im silbernen Wassergrund,
tief unterm Sehn und Verstehn,
kommt der Erzengel zu dir,
Mensch.
Ist Gottes Geburt in dir,
Mensch.
Ist ewige Weihnacht in dir,
Mensch.
Zuunterst im Grund.

Schau in den Wasserspiegel hinein,
Mensch.
Du hast alles in dir:
den Hirten, den König, den Stern
und das Tier.
Hingerissen vom Kind,
deinem herrlichen Herrn;
von dem sie gezogen sind,
wollen sie hinknien in dir,
Mensch,
und
wie Maria es anschaun,
zuunterst im Grund.
Amen.

Silja Walter

Chaire, Magnifikat, Gaudete

Diese drei Worte und das Glasbild verbindet die Freude. Die Freude über die Größe Gottes, die Freude über das Kommen Gottes in unsere Welt und sein Heilswirken in ihr.

Das Glas ist seit dem Mittelalter Träger von Botschaften. Das unsichtbare Licht strahlt im farbigen Glas auf und verweist z.B. auf die sichtbare Erscheinung Gottes in Jesus. Durch die verschiedenen Sprachschichten hindurch – spürbar durch die doppelte Glasebene – wird der Betrachter an das Geheimnis der Menschwerdung herangeführt und zur Freude, die daraus hervorgeht.

In die Mitte des Bildes ist die Gestalt einer jungen Frau gezeichnet: Maria. Halb verdeckt von der blauen Fläche mit dem Rundbogenfenster und halb kniend, wendet sie sich um und schaut auf das Licht, das in den Raum hereinbricht. Sie versucht zu fassen, was auf sie zukommt. Der Künstler hat dies in dreifacher Form dargestellt.

1) Da ist über Maria die rote flammende Form – verschlüsseltes Bildzitat von Geist und Engel als Träger der Geistbotschaft. Das griechische Wort kaire- freue dich, sei gegrüßt, sei begnadet – verweist  auf die Verkündigung an Maria!

2) Während die rechte blaue Fläche einen Raum andeutet und „geerdet“ ist, stellt die andere blaue Fläche von links oben (wie vom Himmel her kommend) den Menschen Maria in den Brennpunkt der Spannweite zwischen Himmel und Erde. Sie ist im Irdischen verwurzelt ganz auf das Göttliche ausgerichtet und für es offen.

3) Die liebende „Zuneigung“ Gottes wird verstärkt durch die von Leben strotzende goldgelbe Kreisform in schwungvollen Pinselstrichen, Symbol für Gott. Der Heilige Geist kommt leuchtend über Maria und nimmt sie in dieses göttliche Leben hinein, damit „das Kind heilig und Sohn des Höchsten genannt werden“ wird. Stark, was da geschehen ist und wie es lichtvoll in diesem Glasfenster vermittelt wird!

Marias Antwort ist jedoch nicht nur das Fiat, „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,37), sondern auch das Magnifikat (1,46-55) auf die wunderbaren Taten Gottes.

Franz Hämmerle spricht die Umwälzung, die im Magnifikat wie später in der Bergpredigt laut werden, mit zwei Wortzeichen in den beiden horizontal gestreiften „Fenstern“ an. Beat ist links unten erkennbar und heißt „schlagen“. Dieses Wort wird gewandelt in beati = „selig, die Frieden bringen“. Rechts neben Maria ist aus militate = „durch Macht und Gewalt“ das Wort humilitatem geworden, „auf die Niedrigkeit und Demut deiner Magd hast du geschaut“.

Über diese Wandlungen im Menschen und zwischen den Menschen durch das Wirken Gottes dürfen wir uns freuen. Wir dürfen uns freuen, dass dieses Wirken nicht nur Maria galt, sondern allen Menschen, die zu ihm aufschauen. „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmel- reich.“ (Mt 5,3)

Ein Engel – für mich?

Der Engel in der Bildmitte lässt auf eine Verkündigungsszene schließen. Er stammt tatsächlich aus einem alten Verkündigungsbild vom Meister der Münchner Bildtafel (15. Jh.). Aber wo ist Maria? In der Blickrichtung des Engels rankt eine goldgelbe Blättergirlande durch das Bild, den Engel von den rechts davon befindlichen Knochen trennend. Auch der Hand des Engels folgend erhalten wir eine verwirrende Antwort: „Die frisch abgezogene Haut muss rasch konserviert“ … Zudem sind unten und oben Doppelstangen von einem großen rechteckigen Rahmen zu sehen. Die Stangen führen uns hinter den Engel zu weiteren Knochen, die von einem menschlichen Arm zu stammen scheinen.

Neue Entdeckung: Linien von Kleiderschnittmustern, die ganz fein hier und dort auftauchen und die einzelnen Elemente miteinander verbinden. Aber wozu Stoffe zuschneiden, wenn der Engel schon so üppig gekleidet ist und auch die Knochen mit einem filigranen Gewebe wie von einem Kleid umgeben sind? Vielleicht will uns die Stofflichkeit – das Material, das uns wesentlich eigen ist – näher gebracht werden: Die Knochen – oder das Gestänge –, die uns tragen; die Haut – oder das Leder oder die Stoffe –, die uns bedecken und uns schön und ansehnlich machen. So sehr es um die Oberfläche geht, werden wir auch in die darunter liegenden Schichten geführt, damit wir uns mit ihnen auseinandersetzen.

Ganz links auf ziegelrotem Grund ein technischer Text über das Gerben, d.h. das Konservieren von Tierhäuten. Kontrastierend zum Johanneswort: „… und das Wort ist Fleisch geworden …“ (1,14) wird vom Haltbarmachen der Haut gesprochen, weil das Fleisch verweslich ist. Aber der Engel bringt als verlängerter Arm Gottes die Botschaft der Menschwerdung Gottes auf die Erde – zu den Menschen. Gleichsam auf seinem Rücken trägt er das ewige (aller Zeit und Vergänglichkeit entgegengesetzte) göttliche Wort, das in den Knochenfragmenten bereits Menschenähnlichkeit angenommen hat. Aus einer anderen Welt kommt der Engel in unsere Welt. Die zerschneidende Doppellinie mitten im Bild und der Übergang von Grautönen zu einer dezenten Farblichkeit betonen das Auftauchen aus einer geistigen Welt. Trotz ihrer Farblosigkeit – die eben die für unsere Augen verborgene Welt bezeichnet – wird sie durch das goldene Blumenmotiv als göttliche Welt deklariert. Aus den vielen „Stoffschichten“ taucht er in unserer Welt auf und bringt weiterhin die Botschaft des Lebens. Nicht nur Maria – seine Einsamkeit scheint zu sagen – uns allen.

„El ángel quedó a cargo de encausar mi palabra, mi oido, mi deseo“, steht in verwischter Handschrift neben dem Engel. Dieser Satz von der chilenischen Schriftstellerin Diamela Eltit könnte folgendermaßen übersetzt werden: “Dem Engel ist aufgetragen, über mein Wort, das was ich höre (im Sinne von Wahrnehmung), und meine Sehnsucht zu richten.” Mit diesem Wort führt uns die Künstlerin noch weiter in die Tiefe der Gottesbegegnung. Steht der Text doch auf dem gleichen „göttlichen“ Goldgelb wie der Heiligenschein. Geschieht und vollendet sich unsere Menschwerdung nicht dort, wo all unser Sehnen und Tun sich von Gottes Licht durchleuchten und richten (gerade, rechtschaffen machen) lässt? – Wie bei Maria?