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Hans Thomann, Auflösung, 2007
© Hans Thomann

Buchstäbliche Auflösung

Unzählbar viele Buchstaben türmten sich im November 2007 in der evangelisch-reformierten Kirche in Zürich-Witikon vor dem Besucher auf einer großen schwarzen Metallplatte auf. Die Buchstaben waren als Suppeneinlagen allen bekannt, vom Aussehen her sogar vertraut.

Aber das Auftauchen der Suppenbuchstaben in der Kirche war doch verwirrend. Wieso Suppenbuchstaben? Warum diese Anhäufung? Lose liegen die einzelnen Buchstaben unter-, über- und nebeneinander. Der Zufall hat kein Wort ergeben. Ohne menschliches Zutun haben diese Buchstaben ebenso wenig eine geistige Bedeutung wie die Buchstaben in einer Suppe.

Da die Suppenbuchstaben in einer Kirche – und erst recht einer Kirche der Reformation – angehäuft wurden, drängt sich die Vermutung auf, dass sie etwas mit DEM Wort zu tun haben: dem Wort Gottes. Tatsächlich wurden alle Buchstaben in der neuen Zürcher Bibel gezählt und durch die entsprechende Anzahl eines jeden Buchstabens als Suppenbuchstaben auf der Metallplatte, auf der jedes Jahr das Osterfeuer brennt, sichtbar gemacht. Am meisten kommen die Buchstaben E und G vor (571.347 x), am seltensten das X (144 x).

3.402.248 Buchstaben sind eine beeindruckende Anzahl. Doch das kann nicht alles sein. Ohne den ordnenden und sinngebenden Rahmen der biblischen Bücher wären sie bedeutungslos. Es muss also einen weiteren Grund geben, dass der Künstler die Aktion in einer Kirche durchgeführt hat. Noch haben wir nicht hinterfragt, warum der Künstler Suppenbuchstaben verwendet hat. Um die Anzahl zu visualisieren, hätte er die Buchstaben der Bibel auch ausstanzen oder in einem anderen Material sichtbar machen können.

Suppenbuchstaben sind zum Essen vorgesehen. Sie wollen verzehrt werden. Und darum ging es auch Hans Thomann. Er wollte die Gemeinde darauf aufmerksam machen, dass die Texte der Bibel nicht nur gelesen, sondern verinnerlicht, angeeignet werden, immer mehr wesentlicher Bestandteil von uns werden. Interessanterweise entspricht das Gewicht der 3,4 Millionen (Suppen)Buchstaben der Zürcher Bibel mit 74,875 kg ungefähr demjenigen eines „durchschnittlichen“ Menschen. Wie DAS Wort in Jesus Christus Mensch geworden ist, soll auch Gottes Wort in der Heiligen Schrift in uns Gestalt annehmen, uns immer mehr zu seinen Menschen gestalten.

Der Anspruch geht damit weit über den Brauch der sogenannten Fresszettel hinaus, bei dem kleine Stücke aus den Seiten der Bibel herausgerissen und gegessen wurden, um die Genesung der Patienten zu fördern. Im Rahmen des Martinimahls und dreier Suppentage im Januar wurde die Gemeinde eingeladen, sich die Bibel einzuverleiben.

Ein schönes Symbol, das viele Parallelen zur Bibelmeditation aufweist. Die Buchstaben müssen eingeweicht, essbar gemacht werden, so wie die Bibeltexte gelesen werden und ihnen ein Sinn abgerungen wird. Oft ist dabei ein wiederholtes Lesen notwendig, ähnlich dem (Wieder)Kauen im Geiste, dem Hin- und Herbewegen, um seine Bedeutung für mich zu verstehen. Dabei werden die Worte und einzelnen Buchstaben aufgelöst und erhalten – ihrem Ziel zugeführt – in Leib und Seele eine ganz neue, individuelle Bedeutung, die durchaus stärkend und heilsam sein soll.

Patrik Scherrer, 19.01.2008

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