Neues müssen sie [die Künstler] schaffen, und diesem Neuem muss eine Kraft innewohnen, die geistige Wirklichkeiten in die Seelen der Menschen “einbrennt”. (239)
Kunst in der Kirche soll bewegen. Dies wird sie nur erreichen, wenn sie durch ihre Form und ihre Vielsprachigkeit immer wieder Überraschendes im Rezipienten erzeugt. Ob es ein provokantes Bild ist, eine abstrakte Plastik oder eine auf die Grundformen reduziertes Formgebilde – es soll die Beschauer befähigen, das im [Kirchen-] Raum Geschehende tiefer zu erfassen und sich auch vom Gesamten des Raumes ergreifen zu lassen. (Spiegel des Heiligen, 240) Im Sakralraum sollen die Menschen – durch irgendwelche sinnenhaften Gegebenheiten angestoßen – die Ahnung von einer jenseitigen Wirklichkeit erspüren. Zugleich soll ihnen dieses Gefühl des “Mehrwertes”, das sich in allem und jedem präsentieren kann, den Lebensmut stärken und sie nach oben und zur Seite hin öffnen. (242)
Die Anstossgedanken der Künstler erscheinen nicht selten alltäglich banal, oftmals bestehen sie aus kaum wahrnehmbaren Kleinigkeiten, hier und da kommen sie sogar als skurrile oder verquere Spiele daher. Aber das Nichsagbare, das sich dann als Formung von “Wirklichkeit mit Mehrwert” zeigt, kommt in der anderen Form des Bildes in die Erfahrungswelt der Rezepienten. Es geht immer um diesen “Mehrwert”, der nicht andres beschreibbar ist, als dass er sich sinnenhaft in einer neuen Form präsentiert. (241)
Moderne Kunstwerke wollen im Beschauer etwas bewegen. Deshalb sprechen sie ihn direkt an. Das Signal kann vom Betrachter in unterschiedlicher Weise aufgenommen, rezipiert und innerlich verarbeitet werden. Ein Bild kann affizieren. Der Mensch weiss zunächst gar nicht, was es ist, das ihn anzieht. Eine spezielle Eingangsweise kann sich sogar durch erstmalige Ablehnung anbahnen. Das klingt paradox. Aber wer ein Bild ablehnt, tut dies meist deshalb, weil das Thema in ihm schon besetzt ist und ihn eine neue Form verunsichert. So herrscht bei ihm das Vorurteil, welches durch das Bild zunächst bestärkt, langfristig aber möglicherweise zersetzt wird. Dies ist zunächst nicht leicht aufzubrechen; dann er empfindet die neue Form als Provokation, und diese erzeugt zunächst meist einen Kontrasteffekt, so dass ein Mensch sich sperrt. Aber bei einem guten Kunstwerk ist es so, dass es, wenn es nur kurz durch einen Spalt in die Seele eingestrahlt ist, dort einen Prozess auslöst, der im Laufe der Zeit Erlebnisse, Ängste oder Hoffnungen mit dieser Form in Zusammenhang bringt. Das Kunstwerk wird vertraut – nicht im Sinne von Gewöhnung, sondern in gegenteiligen Sinn: Es wird zum Anschauungspunkt für sich ordnende Seelenkräfte. Ja, es kann den Charakter eines “Symbols” erhalten im Sinne eines “externalisierten Selbstobjektes”. Kunstwerke sind offen, um in jedem Beschauer das ihm Zuträgliche anzustoßen und zu bewirken. (vgl. U. Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1977) 241f)
Ludwig Mödl, Kunst der Gegenwart im Blickfeld der Pastoral, in: “Spiegel des Heiligen”, Regensburg 2003